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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Umstehenden, die es öffnen und einen Brillantring darin finden. Eine ältere junge Dame fällt, ergriffen von dem Wunder, in Ohnmacht, während ein maliciös ironisches Lächeln über das Gesicht des alten Herrn fliegt. Tiefere Athemzüge heben jetzt den Busen der Somnambule. Der junge Arzt nimmt einen Brief aus der Tasche, legt ihn auf die Magengegend der Schlafenden und ersucht sie, den Brief vorzulesen, was ohne Zögern und Stocken geschieht. Wieder eine Pause. Ein seliges Lächeln überfliegt das Antlitz der Somnambule.

„O Mond,“ beginnt sie wieder zu flöten, „holder, lieber Mond! Wie freut sich meine Seele, wieder auf deinen lichten Fluren zu wandeln!“

„Jetzt,“ flüstert der junge Arzt dem alten Collegen zu, „jetzt ist der höchste Grad des Hellsehens eingetreten, jetzt ist die Somnambule ein rein geistiges, für alle irdischen Eindrücke, selbst für den heftigsten Schmerz unempfindliches Wesen.“

„Gut,“ erwidert der alte Aesculap, „dann ist es jetzt an der Zeit, zum Besten der Wissenschaft und zur Ueberzeugung der Ungläubigen eine durchgreifende Probe zu machen. Brennen wir die Dame mit einem glühenden Eisen ein wenig an der Fußsohle und sehen wir, ob sie gefühllos bleibt. Ich habe das Nöthige mitgebracht, auch Verbandmittel und eine schmerzstillende Salbe.“

Der junge Arzt versichert, die Dame werde den Schmerz, den sie nach dem Erwachen fühlen werde, gern zum Besten der hohen Wissenschaft erleiden. Das Brenneisen wird in die Kohlengluth im Kamin gesteckt, der alte Arzt breitet seine Verbandstücke aus, und die ältere junge Dame fällt abermals in Ohnmacht. Da durchzuckt ein Krampf den Körper der Schlafenden, sie seufzt tief auf, erwacht und klagt über Uebelbefinden. Der alte Arzt wirft ihr einen durchbohrenden Blick zu, kühlt sein Eisen in einem Glas Wasser ab, steckt es ein, nimmt Hut und Stock und geht von dannen, während ihm eine reichliche Anzahl indignirter Blicke nachgesandt werden. E. T. A. Hoffmann, der uns diese Historie berichtet, vergaß hinzuzufügen, daß der alte Arzt mehrere seiner Kunden, die bei jenem Vorfall zugegen waren, verlor, daß dagegen die Somnambule ihr Geschäft mit ungeschwächten Fonds fortsetzte.

Die Bewohner der eben bezeichneten Gegend unserer Scala möchten sich nicht gern lossagen von gewissen Dingen, durch welche ihrer lebhaften Phantasie so angenehm genügt wird, aber sie haben doch einen gewissen ehrlichen Respect vor der Mutter Natur, indem sie sich bei ihrem Glauben an jene wunderbaren Vorgänge darauf berufen, es gebe noch gewisse, nicht hinreichend erforschte Naturkräfte, welche in jenen Vorgängen thätig seien. Wir kommen hierauf zurück und wollen, ehe wir weiter steigen, nur noch beiläufig bemerken, daß in dieser Region das Wetter sich an jedem Freitag und bei jedem Mondwechsel ändert und daß hier jeder Märznebel in ein verborgenes Reservoir eingepackt und nach genau hunderttägigem Verschluß als stattliches Gewitter wieder losgelassen wird.

Zeit und Raum drängen zu rascherer Wanderung. Werfen wir nur einen Blick in jenes sonderbare Land, das ein magisch beleuchteter Nebel überdeckt, durch den hindurch alle Gegenstände in verschwommenen Umrissen erscheinen. Das ist das Land der Naturphilosophen, vor einigen Jahrzehnten noch stark bevölkert, doch heute nur noch von wenigen in gedankenvollem Sinnen umherwandelnden Leuten bewohnt. Die Naturphilosophen bauen wunderliche Systeme. Obenan stellen sie ihr Prinzip und leiten von ihm die beobachteten Naturerscheinungen ab, wobei es nicht ohne Zwang abgeht. Gerade umgedreht ist der jetzt allgemein als richtig anerkannte Weg, auf welchem die Naturforschung rüstig vorwärts geht.

Rasch passiren wir jetzt diejenige Stufe unserer Scala, auf welcher die naturwissenschaftlichen Dilettanten stehen. Wir begegnen hier der lebhaften Neigung, auf einem nicht allzubeschwerlichen Wege Einsicht und Kenntniß von dem großartigen Wirken der Naturkräfte zu erlangen. Zu eigenem, mühevollem Forschen fehlen Kenntnisse und Beruf; die Dilettanten bedürfen daher eines Führers. Von der Wahl desselben hängt es ab, ob der Dilettant gute Fortschritte macht, oder ob er auf Irrwege geleitet wird. Zum Glück ist die Zahl der guten Führer weit überwiegend, seit die Fachmänner es nicht mehr verschmähen, ihre Wissenschaft in einer für alle Gebildete verständlichen und schmackhaften Sprache vorzutragen. Bücher, wie des großen Astronomen Bessel populäre Vorlesungen, Schleiden’s Leben der Pflanze, Cotta’s Briefe zum Kosmos, Vogt’s Ocean und Mittelmeer, Pöppig’s Reisen etc. zählen in jeder Hinsicht zu den Zierden unserer Literatur.

So sind wir denn am obersten Ende unserer Scala angelangt, wo der Standpunkt der Männer der Wissenschaft ist, welche mit ernstem Fleiß die Natur und ihre Gesetze zu erforschen suchen und „das Gold der Wahrheit zu Tage fördern“. Aus dem Bereich ihrer Arbeiten halten sie die Phantasie als wahren Störenfried fern.

Es ist eigentlich mißlich, auszusprechen, daß man schwerlich einer größeren Versammlung gebildeter Leute gegenüber stehen kann, ohne annehmen zu müssen, daß wenige darunter sind, die nicht hie und da auf einer der mittleren Stufen unserer Scala einkehren. Ich kenne so manche durch hohe Bildung ausgezeichnete Männer, die selbst in einzelnen Künsten und Wissenschaften, nur nicht in den Naturwissenschaften, Vorzügliches leisten. Sie huldigen, wie sich von solchen Männern von selbst versteht, aufrichtigen Herzens der Aufklärung und verlachen, wie wir Alle, den Aberglauben. Doch bei jedem von ihnen fand ich, sei es auch im hintersten Eckchen der Seele versteckt, eine, mehrere, ja viele Ansichten und Ueberzeugungen, welche zu dem gehören, was man, mit einer sogenannten contradictio in adjecto naturwissenschaftlichen Mystizismus nennt, wenn man den gehässigen Ausdruck Aberglauben vermeiden will. Bei den über dergleichen Meinungen sich entspinnenden Disputationen wurde mir mit unfehlbarer Regelmäßigkeit der Einwand entgegen gehalten: Die Naturforscher haben die Natur noch bei Weitem nicht ganz erforscht, es giebt ohne Zweifel noch manches bisher unentdeckt gebliebene Naturgesetz, durch welches diese und jene in das Gebiet des Aberglaubens verwiesene Erscheinung ihre natürliche Erklärung finden würde. Dieser Einwand wird so unendlich oft in Anwendung gebracht, daß es wohl hier am Platze ist, ihn mit einigen Worten zu beleuchten.

Keinem Naturforscher wird es einfallen, zu leugnen, daß seine Wissenschaft noch in ihrer jugendlichen Entwicklung sich befindet, und mit Freude wird er zugeben, daß das Feld der von der Zukunft zu hoffenden Entdeckungen ein unbegrenzt großes ist. Daß zu diesen Entdeckungen auch bisher unbekannte Naturkräfte oder Naturgesetze gehören können, ist als möglich nicht zu verneinen. Ja, in Bezug auf das höchste Problem der Naturforschung muß ohne Weiteres zugegeben werden, daß das Gesetz, auf welchem das menschliche Denken, die Erhebung des Individuums zum Selbstbewußten beruht, noch unbekannt ist und wohl auch nie völlig erkannt werden wird.

Aber abgesehen hiervon, ist zweierlei als gewiß festzuhalten, wenn man von noch zu entdeckenden Naturgesetzen spricht: einmal, daß nie und nimmer ein Naturgesetz entdeckt werden wird und kann, welches einen Widerspruch oder eine Ausnahme zu einem der bereits bekannten Naturgesetze bildet. Selbst scheinbare Abweichungen von einem Naturgesetz liefern bei näherer Beobachtung stets eine neue Bestätigung des letzteren. Ein glorreiches Beispiel hiervon geben uns die aus den Unregelmäßigkeiten im Laufe des Uranus von dem berühmten Bessel bereits im Jahre 1840 mit Bestimmtheit vorausgesagte und sieben Jahre später nach Leverrier’s Berechnungen bewirkte Entdeckung des Planeten Neptun. In menschlichen Gesetzbüchern können wohl Widersprüche vorkommen, nie aber in dem Gesetzbuch, welches, keineswegs mit sieben Siegeln verschlossen, in der Natur vor uns aufgeschlagen liegt.

Zweitens ist es ebenso gewiß, daß der ganze bisherige Entwickelungsgang der Naturwissenschaften weit mehr auf eine Vereinfachung, auf eine Reduction, als auf eine zu erwartende Vervielfältigung der Naturgesetze oder -Kräfte hinweist. Ich erinnere daran, daß man vor noch nicht vielen Jahren die Elektricität, den Galvanismus, den Magnetismus als verschiedene, selbständig wirkende Kräfte betrachtete; jetzt weiß man, daß alle drei nur Modificationen einer und derselben Kraft, oder sagen wir lieber Grundeigenschaft der Körper sind. Aehnliches bereitet sich bezüglich der Wärme, der chemischen Processe und mancher Vorgänge im organischen Leben vor. Es ist daher durchaus unwahrscheinlich, daß die Entdeckungen, welche die Wissenschaft noch machen wird, in der Auffindung neuer Naturgesetze bestehen werden. Aber ohne Zweifel wird man bisher unbekannte Modificationen oder Wirkungsweisen der bekannten Naturkräfte auffinden. So unbegrenzt

das Reich des Forschens ist, so zahllos die Erscheinungen sind,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_330.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)