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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

welche den Fleiß und Scharfsinn des Naturforschers herausfordern, so wird doch seine wichtigste Aufgabe im Wesentlichen darin bestehen, die unendlich vielen gegebenen Erscheinungen aus einigen und zwar sehr wenigen Naturgesetzen abzuleiten und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen und jenen nachzuweisen. Diese Aufgabe ist eine unendlich große, nie völlig zu lösende; unser Wissen wird zu jeder Zeit ein unvollständiges, begrenztes sein, aber die zu jeder Zeit vorhandene Grenze wird von der nächstkommenden Zeit überschritten werden. Cotta hat dies schön und kurz mit den Worten ausgesprochen: „Keine ewige Grenze ist dem Forscher gesetzt, aber ewig eine Grenze.“

Aus dem Gesagten geht hervor, daß man Erzählungen von neuen wunderbaren Erscheinungen und Thatsachen, welche den bekannten Naturgesetzen zu widersprechen scheinen, nicht sofort gläubige Aufnahme, sondern Zweifel, selbst Mißtrauen entgegenbringen soll. Denn in unendlich vielen Fällen dieser Art ergiebt sich bei unbefangener Prüfung, daß die Sache nicht in der Wirklichkeit, sondern in Täuschung beruht, oder auch in einer einfachen, nur den Unerfahrenen überraschenden Wahrnehmung, die dann, von der Phantasie ausgeschmückt, weiter getragen und um so lieber geglaubt wird, je wunderbarer sie ist.

Ein paar Beispiele mögen darlegen, wie leicht, ja wie leichtsinnig Dinge geglaubt werden, die bei der einfachsten Prüfung in nichts zerfallen. Das eine Beispiel erzählt Bessel. In St. Malo in Frankreich, wo die Ebbe und Fluth eine ungewöhnliche Höhe erreicht, wurde es als ausgemacht angesehen, daß die Todesfälle nur zur Zeit des fallenden Wassers sich ereignen. Man hatte seit Jahrhunderten Gelegenheit gehabt, diese auffallende Erscheinung zu prüfen, allein sie wurde nie bezweifelt. Endlich wurde von Seiten der Pariser Akademie ein Ausschuß hingesandt, um sich an Ort und Stelle von der merkwürdigen Thatsache zu überzeugen – da fand sich, daß die Menschen starben sowohl bei steigendem wie bei fallendem Wasser, daß seit hundert Jahren, nach dem Zeugniß der Kirchenbücher, weder Ebbe noch Fluth auf die Todesfälle gewirkt hatte.

Bekannt ist die Behauptung, daß ein mit Wasser gefülltes Gefäß nicht an Gewicht zunehme, wenn man einen lebenden Fisch hineinsetzt. König Georg won England wünschte den Grund dieser merkwürdigen Erscheinung zu erfahren und forderte die Gelehrten seiner Akademie auf, ihm dieselbe zu erklären. Das veranlaßte die Abfassung mehrerer tiefsinniger Abhandlungen, in denen allerlei wunderliche Hypothesen aufgestellt wurden. Nur einer unter den gelehrten Herren hatte den sonderbaren Einfall, das Ding doch erst einmal zu versuchen, und siehe da! es ergab sich, daß das Gefäß um genau ebenso viel schwerer wurde, als das Gewicht des hineingesetzten Fisches betrug.

Ergiebt sich aber nach gehöriger Prüfung, daß eine überraschende, der Erklärung durch die bekannten Naturgesetze sich nicht sofort fügende Erscheinung eine wirklich beobachtete ist, so sei man doch ja nicht so schnell mit der scheinbaren Erklärung durch ein neuentdecktes Naturgesetz bei der Hand. Reichen unsere Kenntnisse und Beobachtungen nicht aus, das Gegebene zu erklären, so warten wir ein wenig in Geduld, wir werden es bald erleben, daß es der ruhigen, wissenschaftlichen Forschung Anderer gelingt, die neue Erscheinung den alten Gesetzen unterzuordnen. Aber ein für allemal hinweg mit diesen seinsollenden Erklärungen von etwas Dunkelem durch etwas, ebenso Dunkeles, hinweg mit diesen „man kann ja nicht wissen, ob“ und „es könnte ja sein, daß“; hinweg mit diesen Berufungen auf etwas, das eben zur Zeit für uns gar nicht existirt, auf ein unbekanntes, noch unentdecktes Naturgesetz! Und vor Allem hinweg mit jedem Mysticismus bei der Betrachtung und Erklärung natürlicher Erscheinungen! In der Natur giebt es keine Mystik, in ihr ist nur Klarheit, Ordnung und strenge Folgerichtigkeit, und in jedem Falle ohne Ausnahme wollen wir diese Ueberzeugung a priori für unser Urtheil maßgebend sein lassen.

Die Art der Anwendung dieser Grundsätze mögen zum Schluß einige Beispiele erläutern.

Wie steht es nun aber mit jener geheimnißvollen Krankheit, der Mondsucht? Ist es denn zu bestreiten, daß der Mond die Mondsüchtigen zum Nachtwandeln veranlaßt? Ich antworte: nein! prüfen wir aber, in welcher Weise der Mond wirkt, um zu sehen, daß er nicht daran denkt, im Gebiete des Mysticismus Geschäfte zu machen. Wir dürfen annehmen, daß das Nachtwandeln ein abnorm lebhaftes Träumen ist und zwar nicht nur des Vorstellungsvermögens, sondern auch des Willensvermögens. Nun steht es fest, daß dergleichen lebhafte Träume durch Alles begünstigt werden, was einen unruhigen Schlaf veranlaßt, z. B. durch eine reichliche Abendmahlzeit, durch den Genuß aufregender Getränke und anderer Ursachen. Es ist eine vielfach beobachtete Thatsache, daß die Mondsüchtigen oder Schlafwandler in Folge solcher Einflüsse oft auch zu Zeiten, wo kein Mondschein im Kalender steht, ihre Wanderungen vornehmen. Bekanntlich giebt es viele, übrigens ganz gesunde Personen, die nicht oder nur schlecht schlafen können, sobald ein ihnen ungewohntes Nachtlicht im Zimmer brennt. Ganz die gleiche Einwirkung hat die Beleuchtung der mondhellen Nächte auf den Schlaf der zum Nachtwandeln disponirten Personen. Da hat man denn den sehr gesunden Einfall gehabt, dem Mondlicht durch Läden oder dichte Vorhänge den Zugang zum Schlafzimmer des Mondsüchtigen abzuschneiden, und siehe da! der Mondsüchtige blieb ruhig schlafend im Bette liegen, ohne sich um den draußen hell scheinenden Vollmond zu kümmern. Man kehrte dann den Versuch um und brachte, zu einer Zeit, wo kein Mondschein war, ein hell brennendes Licht in die Kammer des Mondsüchtigen und sah nun, daß dieser nachtwandelte, wie beim schönsten Vollmond.

Aus jedem populären Handbuch der Astronomie können wir uns unterrichten über die physikalischen Verhältnisse unseres nächsten Nachbars im Weltenraum, des Mondes, über seine Entfernung, Größe, Schwere, Achsendrehung – kurz über alles das, was die Wissenschaft seit etwa zweihundert Jahren über den Mond erforscht hat. Aber giebt es denn nicht auch eine Menge Wahrnehmungen über den Mond, welche in der langen Reihe von Jahrhunderten vor Galilei und Newton gemacht worden sind? Ist es nicht bekannt, daß der Mond das Wetter, das Wachsthum der Pflanzen mächtig beeinflußt? daß er auf das Nervenleben der Menschen wirkt und so Manchen nöthigt, Nachts das warme Bett zu verlassen und Mondscheinpromenaden auf den Firsten der Dächer anzustellen? daß sein magischer Einfluß selbst dahin sich erstreckt, wohin keiner seiner milden Lichtstrahlen dringen kann, nämlich auf die Würmer im menschlichen Darmcanal? Wenn die Männer der Wissenschaft es unterlassen haben, uns über diese und tausend andere Einwirkungen des Mondes auf die Erde Mittheilung zu machen, so werden sie wohl ihren guten Grund dazu gehabt haben: sie wollen nur Reelles, durch exacte Beobachtung Begründetes, nicht aber „Mondscheinphantasien“ vortragen. Gehen wir jetzt ein wenig auf jene angeblichen Einflüsse des Mondes ein; es gilt, die Phantasie von einem Gebiete zu vertreiben, wohin sie nicht gehört.

Wie schon erwähnt, es wird etwas um so lieber geglaubt, je mehr dabei die Phantasie gekitzelt wird, und es ist daher gar kein genügender Grund, etwas deshalb für wahr zu halten, weil es schon viele Jahre oder gar Jahrhunderte hindurch geglaubt worden ist. Die vorurtheilsfreie Beobachtung entscheidet, und diese beweist aus tausend und aber tausend Fällen, daß der Abgang der Eingeweidewürmer und die Wirkung der wurmtreibenden Mittel sich zur Zeit des wachsenden Mondes völlig ebenso verhält, wie zur Zeit des abnehmenden. Giebt es gleichwohl noch heute Aerzte, die nur bei abnehmendem Monde Wurmmittel reichen, so haben sie die beruhigende Gewißheit, daß diese nicht schlechter wirken werden, als wenn sie bei zunehmendem Monde gegeben würden.

(Schluß folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Brehm.
7.0 Die Einbürgerung fremdländischer Thiere und die Schopfwachtel.

Die Bestrebungen, welche sich auf Einbürgerung fremdländischer Thiere und Pflanzen in unserem Vaterlande richten, werden im Allgemeinen viel zu wenig gewürdigt und demgemäß auch nur von einzelnen Gleichdenkenden unterstützt. In Berlin besteht seit Jahren ein „Akklimatisationverein“; derselbe wird mit ebenso viel Eifer als Geschick geleitet, unterhält Schriftwechsel und Austausch mit Sachverständigen in aller Herren Länder und hat sich um Ackerbau, Forstpflege, Seidenzucht und andere in seinen Wirkungskreis

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_331.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)