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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

in ihren Briefen, und Hemsterhuys schrieb ein ganzes Werk unter dem Titel „Diokles an Diotima“, worin er seiner Freundin die Unhaltbarkeit der französischen Systeme über den Atheismus darthat.

So ernste Beschäftigungen ließen sich mit dem zeiträuberischen Leben in der großen Welt allerdings schwer vereinigen; die Fürstin Gallitzin faßte deshalb den Entschluß, sich ganz daraus zurückzuziehen. Ihr Gemahl verweigerte ihr jedoch lange Zeit die Erlaubniß dazu; endlich gelang es ihr, dieselbe zu erlangen durch die Vermittelung Diderot’s, der zum Besuch in ihr Haus kam und wohl einsehen mochte, daß die Mißverständnisse der Eheleute am besten durch eine längere Trennung gelöset werden könnten. Der Fürst willigte ein, daß seine Gemahlin auf eine kleine Meierei in der Nähe der Stadt zog, wo er sie und seine zwei Kinder jedoch regelmäßig besuchte, und zwar jedesmal in Begleitung ihres gelehrten Freundes Hemsterhuys.

Um allen Störungen zu entgehen in ihrer selbstgewählten Einsiedelei, benannte sie dieselbe „Nithuyß“, welches gleichbedeutend mit dem hochdeutschen Nichtzuhaus ist und alle ungebetenen Gäste für immer abschrecken mußte. Damit sie selbst aber auch jeder Versuchung zum Besuch in der Stadt widerstehen konnte, entäußerte sie sich gänzlich der vorgeschriebenen Modetracht, sie warf den Reifrock und die Schnürbrust fort und legte die Kleider einer Bäuerin an, ja sie ließ sich sogar die schönen Haare abschneiden, um sich gehörig zu entstellen. Sie war noch nicht dreißig Jahre alt, als sie sich in diese klösterliche Lebensweise zurückzog, und sie beharrte fünf Jahre darin.

Die Briefe, welche sie in dieser Zeit mit Hemsterhuys wechselte, beweisen, wie regsam ihr Geist in der Einsamkeit blieb und wie ausdauernd sie ihre Ideen den höchsten Problemen von Religion und Philosophie zuwendete. Aber es geht auch aus diesen Briefen hervor, daß trotz der eifrigen Bemühung, nur der Weisheit zu leben, sich eine Thorheit zwischen die Gelehrten geschlichen und ihre Herzen für einander geweckt hatte. Der Unterschied des Alters war so groß zwischen beiden, daß die Fürstin mit Recht sich in diesem Verhältniß sicher fühlen und über die Empfindungen ihres Freundes täuschen konnte. Er war beinah dreißig Jahre älter als sie, wenigstens war er schon ein hoher Fünfziger, als er sie kennen lernte.

Anfangs kam Hemsterhuys nur in Begleitung ihres Gemahls in ihre Einsiedelei, aber wenn derselbe verreiste, was häufig vorkam, so blieben die beiden Gelehrten oft ganze Tage allein, und die eifrigen Studien der platonischen Weisheit sind wohl mehr als alle anderen philosophischen Abhandlungen geeignet, zündende Funken in die Geister zu werfen. Plato legt in Diotima’s Mund die wunderbarsten geheimnißvollsten Lehren über Eros und Anteros, Liebe und Gegenliebe. Er läßt selbst den weisen Sokrates durch Diotima überzeugen, daß Eros der größte der Dämonen sei, der den sterblichen Theil des Menschenthums mit der Unsterblichkeit vereinige, daß die Liebe nichts anderes sein könne als das Verlangen mach Schönheit und Güte, daß Vervollkommnung und Verklärung alles Irdischen nur durch die Götterkinder Eros und Anteros verliehen werden könne. Es war natürlich, daß ein Mann, wenn auch noch so sehr Philosoph, einer jungen, schönen Schülerin gegenüber in süße Verwirrung gerieth bei den Auseinandersetzungen dieser Probleme und daß er endlich selbst von den Flammen ergriffen wurde, die er nur schildern wollte.

Die junge Fürstin scheint einen Augenblick geschwankt zu haben, ob sie dem „Dämon der Liebe“ Gehör schenken dürfte, aber ihr guter Genius und ihr fester Charakter schützten sie vor ihrem eigenen Herzen, das der lebhaftesten Empfindungen fähig war und bereits mit unverhohlener Zärtlichkeit dem gelehrten Freunde anhing. Sie entzog sich ihm mit Festigkeit, aber nicht ohne den Trost ihrer Vergebung und ihrer enthusiastischen Verehrung für ihn.

Ein Menschenkenner hat gesagt, jede Frau ertheile Absolution für das Verbrechen sie zu lieben; die Briefe der Fürstin an ihren Sokrates beweisen dies von Neuem. Es ist ein reizendes Gemisch von Tugendstolz und echt weiblicher Koketterie darin; man merkt fast an jeder Redewendung, wie das Frauenherz durch Thränen lächelt über das Glück, geliebt zu werden. Leider sind die Briefe französisch geschrieben und verlieren durch die Uebersetzung an ihrer ursprünglichen Naivetät. Die Briefe sind übrigens hauptsächlich Antworten auf philosophische Abhandlungen, die Hemsterhuys der Freundin sandte; sie bespricht sie voll Ernst und tiefem Verständniß, oft sogar mit lateinischen Citaten. Das erotische Beiwerk der niedergekämpften Leidenschaft nimmt sich dazwischen aus wie die glühende Abendröthe, die von einem düsteren Eichenhain halb verhüllt wird.

„Mein Sokrates! Bei Durchlesung des herrlichen Schriftstücks, welches Du mir mitgetheilt hast, empfand meine Seele einen brennenden Durst nach mehr; der sanfte Thau Deiner Beredsamkeit wird ihn hoffentlich bald löschen. Du erweckest meine Seele zu fruchtbaren Gedanken durch diese Beredsamkeit und Dein Genius lehrt mich, die einst eine arme Sclavin der eitlen Welt war, die Wissenschaft lieben und die Philosophie verstehen. Die Zeit fehlt mir, um Dir alles zu sagen, was ich denke, ich muß mich damit begnügen Dich ehrfurchtsvoll zu grüßen – und auch zärtlich trotz des Zornes, in den Du mich erst heute Morgen versetztest. Mein unvergleichlicher Sokrates, glaube an Deine Diotima.“

„Ja, mein theurer Sokrates, ich fühle den seligen Frieden, den ich Dir vergebens so oft geschildert habe, und doch verdanke ich ihn eigentlich Dir selbst; Du hast jetzt eingesehen, daß unsere Verbindung der reinsten Freundschaft unzerreißbar sein muß, wenn wir sie unter den Schutz der Venus Urania, der Schutzgöttin unirdischer Liebe, stellen ... Und so verlasse ich Dich denn, weil es die Vernunft erheischt ... Keine Macht der Welt wird mich von dem Entschluß zurückbringen, von nun an nur meinen Kindern zu leben und unsern Umgang möglichst zu beschränken, bis Du für immer gelernt hast, Dir keine Täuschung über die Art meiner Gefühle zu erlauben.“ ...

Solche und ähnliche Aeußerungen in den Briefen der Fürstin deuten darauf hin, daß sie ihre geliebte Einsiedelei verließ, um den Freund in pflichtmäßige Schranken zurückzuweisen. Sie hatte den Entschluß gefaßt die Schweiz zu ihrem Aufenthalt zu wählen, machte aber vorher eine Reise nach Münster, wo damals der Freiherr von Fürstenberg das Ländchen unter dem Krummstab geradewegs zu einem kleinen Musterstaat von trefflichen Institutionen emporhob. Namentlich wurden die Schulanstalten und die Grundsätze der Erziehung von seinem wahrhaft humanen und aufgeklärten Geist geleitet.

Die Fürstin Gallitzin fühlte, daß ihr hauptsächliches Lebensinteresse ihre Kinder sein mußten, und der Wunsch, ihnen eine Erziehung nach festen Principien zu geben, hatte sie nach Münster in die Nähe Fürstenberg’s geführt. Die mächtige Persönlichkeit des geistvollen Mannes fesselte sie gleich so sehr, daß sie beschloß, unter seinen Auspicien das Werk der Erziehung nach einem neuen Plan zu beginnen. Sie blieb in Münster und gab die Reise nach der Schweiz auf. In ihrem Tagebuche aus jener Zeit findet sich eine merkwürdige Selbstschilderung ihrer Beweggründe zu der Wahl dieses Aufenthaltsortes. Sie erzählt, daß sie mit einer Art „von Wuth“ sich auf die Vervollkommnung ihrer Kinder geworfen hätte und oft voll eifernden Zorns gegen sie gewesen wäre, wenn sie nicht die Fortschritte gemacht hatten, die sie von ihnen erwartete. Auch klagte sie über ihren unheilbaren Unglauben, den sie doch ihren Kindern nicht mittheilen wollte. Sie beschuldigte ihre Umgebung, daß diese ihre Wißbegierde, ihren Ehrgeiz nicht getadelt, sondern ihr nur stets das übertriebenste Lob gespendet habe. Hemsterhuys namentlich habe ihren Werth so sehr überschätzt und auch andere berühmte Menschen hätten in der schmeichelhaftesten Weise immer von „ihrer Seelengröße und ihrem Genie“ gesprochen.

Der Drang nach Demüthigung, nach Selbstverleugnung und nach positiver Religion für sich und ihre Kinder fesselte sie in Münster, wo der kluge Fürstenberg das verlorene Schaf der katholischen Kirche wie in einer Heimath aufnahm. Einige bedeutende Geistliche, wie Katerkamp, die Droste-Vischerings und auch strenggläubige Protestanten schaarten sich um die Fürstin Gallitzin und verehrten sie bald wie ihr Haupt. Die Brüder Jakobi und Hamann gehörten zu den Letzteren.

Hamann wurde der Magus des Nordens genannt, er war ein religiöser Schwärmer geworden, nachdem er in der Jugend durch Zweifelsucht und Ausschweifungen sich unglücklich gemacht hatte. Im Begriff sich das Leben zu nehmen fiel ihm die Bibel in die Hände und veranlaßte ihn zu innerer und äußerer Umkehr. Er schrieb religiöse Flugblätter, die in der damaligen Zeit der Gährung kurz vor der französischen Revolution große Wirkung hervorbrachten. Bald kam auch Graf Leopold Stolberg mit seiner Gemahlin nach Münster und vollendete dort seine Bekehrung zum Katholicismus. Die Fürstin befreundete sich auf’s Innigste mit dem frommen Ehepaar und sie, die einstige Zweiflerin, ist jedenfalls die erste Veranlassung zu dem Religionswechsel desselben gewesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_362.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)