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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Wir kehren dieser schwärzesten Seite des Wildschützenthums gern den Rücken und bestätigen nur die erfahrungsmäßige Wahrheit, daß dies Naturgewerbe – wie wir es nennen wollen – sich beständig auf der Grenze zwischen Vergehen und Verbrechen bewegt, mithin als ein sehr gefährliches und verwerfliches anzusehen ist. Ach nannte den sich so leicht entspinnenden Kampf zwischen Wildhütern und Wildschützen einen traurigen, und gewiß mit Recht. Denn immerhin ist der Sieg mit dem bitteren Bewußtsein verbunden, einen Menschen getödtet zu haben. Jeder fühlenden Brust ist aber das Letztere nichts weniger als ein Triumph.

Ein mit großer Intelligenz und Herzensgüte begabter hochgestellter Beamter in der mit D. bezeichneten Stadt Mitteldeutschlands war einst im Sommer im Walde auf dem Pürschgange begriffen. Mit einem Male hört er deutlich „blaten“, d. i. den Ruf des weiblichen Rehs, welchen der Jäger auf einem Pfeifchen oder Birnblatte nachahmt, um damit den „brunftigen“ Rehbock herbeizulocken. Der Pürschende, in diesem Rufe sogleich die Handlung eines Jagdfrevlers vermuthend, schleicht nah und näher und entdeckt zuletzt in einem Hochwalde auf einem Baumstumpf den berüchtigtsten Wilddieb der Umgegend, der, im Blaten begriffen, seine Büchse seitwärts an den nächsten Stamm gelehnt hatte. Dem vorsichtig mit gespannter Büchsflinte Heranschleichen- den gelingt es, den Wilddieb handfest zu machen. Dieser, durch die Ueberrumpelung körperlich und geistig entwaffnet, folgt geduldig der Aufforderung des Waidmannes, vor ihm her zum nächsten Orte zu gehen, bis auf einen Waldweg. Hier aber setzt sich der Wilderer nun in Schnellschritt und, trotz der Mahnrufe lauter sich, in Lauf; aber in einer Entfernung von fünfzig Schritten giebt der Verfolger jetzt aus dem Schrotlaufe seiner Büchsflinte Feuer auf dem Flüchtling. Ein hoher Sprung desselben mit entsprechenden Bewegungen der Arme zeigen dem Waidmanne die Wirkung der Rehschrote in der Gegend seines Zieles. Im nächsten Augenblicke ist der Wilderer im Dickicht verschwunden.

Jetzt erst überdachte der sonst so klare Kopf des Juristen (der Waidmann war richterlicher Beamter!) die ganze mögliche Tragweite seiner leidenschaftlichen, unberufenen That, jetzt erst empfand sein vortreffliches, aus dem Taumel der Leidenschaft erwachtes Herz das Unmenschliche seiner Handlungsweise. Wochenlang folterte den Guten das Gewissen – bis ihm die erste sichere Kunde, daß das „Haidchen“ (so hieß der Wilderer) in einer andern Gegend aufgetreten und weidlich fortwildere, wieder Ruhe und – gründliche Heilung von jeder Regung unberufenen Eingriffs in die Jagdpolizei verschaffte.

Und der Wilderer auf unserem Bilde im Schauer der Waldeinsamkeit? Er war eben im Begriff, einen vor Kurzem erlegten Rehbock „auszuweiden“, da entdeckten seine stets wachsamen Indianersinne auf dem vorbeiziehenden Pfade unter den Buchenhallen im Abenddämmerlicht ein daher wandelndes Paar: – es ist der verhaßte und zugleich gefürchtete Förster im innigen Einverständnisse mit des Wilderers eigener Tochter. Einen der schlimmsten Streiche scheint dem stämmigen Thüringer Natursohn der kleine Gott Amor gespielt zu haben, dessen schelmisches Werk, die so sichtbare Vereinigung der Tochter mit dem Förster, dem Vater hier der hämische Zufall vor Augen führt. In höchlicher Ueberraschung zurückgebeugt, vor Grimm das Waidmesser wie zum rächenden Stoß gezückt, gehen über das verwitterte Gesicht die Züge wilder Leidenschaften. Was wird der Wildschütz beginnen? fragt sich wohl der Beschauer des Bildes, dessen Blick bald auf dem liebenden Paare, bald auf dem Wilderer hinter der Buchengruppe haftet. Wird die Wuth des Wilddiebes, getragen und vielleicht auf die höchste Spitze getrieben durch die Verwilderung seiner abenteuerlichen gefährlichen Lebensweise, ihn zu einer Handlung der Rache, zu einem Morde hinreiße? – oder erwacht beim Anblick seiner Tochter – vielleicht seines einzigen geliebte Kindes – die Vaterliebe und wandelt die kochenden Wellen des feindseligen Herzens in friedlichere Schläge der Versöhnung? Wir hoffen unwillkürlich das Letztere, und der nur den Moment andeutende Griffel des Künstlers hat unserer Phantasie ja hier das Recht des freien Ausmalens gegeben.




Blätter und Blüthen.


Ein General „zu vermieten“. Den Newski-Prospect in St. Petersburg geht langsam ein feierlicher Beerdigungszug hinunter. Die zahlreichen Spaziergänger auf den beiden Seitentrottoirs der Hauptstraße der Residenz – es ist noch nicht Frühling und die Nachmittagspromenade auf dem Newski-Prospect also noch fashionabel – entblößen das Haupt vor dem Schläfer, der dort den letzten Schlaf thut.

Das ist russische Sitte und eine hübsche Sitte, von der sich Keiner, weder der elegante Flaneur, noch der hochgestellte Würdenträger, selbst nicht der Kaiser ausschließt.

Vorausreitende Gensd’armen und geschäftige Polizeibeamten machen dem langen Zuge in der belebten Straße freie Bahn, bald in mehr, bald in minder höflicher Weise. Aus der goldgestickten Decke über dem Sarge funkelt übermüthig die Sonne, als wollte sie sich über die bleichen Flämmchen in den Laternen der nebenanschreitenden Fackelträger lustig machen. Dichte Weihrauchdämpfe wirbeln aus den Rauchfässern der Chorknaben und ein langer Zug von Priestern aller Grade mit schwarzen, rothen und violetten Mützen und in starren Brocatgewändern folgt dicht hinter dem Sarge. Zahlreiche Leidtragende und eine endlose Reihe von Equipagen machen den Schluß des langsam vorwärtsgehenden Zuges.

Es ist eine Beerdigung erster Classe. Warum sollen wir nicht unsere Todten classificiren, da wir doch selbst für die Lebenden vierzehn Rangclassen haben? Kommt doch bei der Classification der Todten von allen den maßgebenden Nebenumständen, welche die Lebenden nöthig haben, als Glück, Geld und Protection, nur ein Umstand in Betracht, – der Kostenpunct.

Und die Kosten brauchten die Erben des alten Semen Matwejewitsch nicht zu scheuen. Hatte er sich doch vierzig Jahre in der schmutzigen Hökerbude dort in der Erbsenstraße geplagt, selbst am Sonntag da hinten in dem dunklen Verschlage seinen Thee getrunken und seine Grütze gegessen, und jahraus jahrein immer denselben alten Schafspelz getragen, – um erster Classe beerdigt zu werden. Mit dem Rest des Geldes, der da nach Abzug dieser Kosten, nach Auszahlung des bedeutenden Vermächtnisses „zur Verschönerung des Altars“ der Auferstehungskirche nachblieb, konnten die Erben zufrieden sein und brauchten nicht zu knausern. Wer in Rußland seine Todten gut begräbt, verbessert seinen Credit!

Unter den ersten Leidtragenden folgt dem Sarge ein alter General. Welche effectvolle Staffage unter den übrigen Leidtragenden in schwarzer Trauer bildet die hohe stattliche Figur des alten Kriegers mit dem schneeweißen Haar und Backenbart, mit der vollen Uniform, den glänzenden Epaulettes und dem wehenden Federbusch! Wie nachlässig und doch wie elegant ist dieser Handgriff, mit dem er den halboffene Mantel über den Schultern zusammenhält, damit das breite, rothe Ordensband zusehen ist!

Mit eiserner Geduld geht der alte Krieger hinter dem Sarge einher bis zu dem Friedhof, kummervoll beugt er das Haupt an dem offenen Grabe, und wenn sich der Hügel dann über dem müden Schläfer gewölbt hat, richtet er die gebückte Gestalt wieder auf, schüttelt gerührt und schweigend den nächsten Leidtragenden die Hand und seht sich in seine elegante Equipage.

"Wer war der alte General?" fragt dann wohl der Eine oder der Andere von den Anwesenden.

„Das ist ja ‚unsere Excellenz‘,“ antwortet dann ein besser Unterrichteter.

In einem der bekannten Restaurationslocale, welche in dem corrumpirten Petersburger Russisch-Deutsch. „Kuchmeistereien““ genannt werden wird eine Hochzeit gefeiert.

Unter den Gästen finden wir hier wieder unseren alten General. Er sitzt neben dem Vater der Braut, und dieser schenkt ihm fleißig ein und nöthigt ihn – nicht ohne Erfolg – hier und dort zuzulangen. Man kann sich schwerlich einen liebenswürdigere, heiterern Gesellschafter denken, als den alten General. Während er hier dem Diener einen Wink giebt, ihm die allzuentfernte Schüssel mit den „weißen Astrachan’schen Pilzen“ näher heranzurücken, macht er seinen Nachbar auf den „delicaten“ geräucherten Lachs aufmerksam, von dem er doch noch einmal versuchen wolle. Den Schwiegervater ermahnt er nicht allein vor der Suppe, sondern auch nach dem Fisch und Braten einen „Doppelkümmel“ zu trinken, – er halte das so und habe es immer probat gefunden. Er selbst aber gießt sich noch ein Glas Rheinwein ein, um mit der „verehrten“ Braut anzustoßen und zugleich die Hoffnung auszusprechen, daß sie auch noch morgen früh wie eine blühende Rose aussehen werde, – eine so zarte Anspielung, daß die Wangen des jungen Mädchens sich in tiefen Purpur färben. Am Tanz betheiligt er sich zwar nicht, aber er treibt die faulen jungen Leute in’s Gefecht oder er holt den an der Thür lungernden Diener, damit er für Tante Praskowia und für ihn ein Glas Ananaspunsch – „aber nicht zu schwach“ – bringe. Alle Welt ist entzückt von „unserer alten Excellenz“.

Bei Kindtaufen und bei Namenstagen, bei Diners und bei festlichen Einweihungen finden wir unseren alten braven Krieger wieder. Welche vielseitigen Talente entwickelt er bei allen diesen Gelegenheiten! Der allzu ängstlichen Taufmutter spricht er Muth zu und zeigt ihr, wie sie den schreienden Täufling bei der Zeremonie zu halten habe. Wenn zur Feier des Namenstages sich endlich der schüchterne Jüngling mit dem langen Haar und den sehr zweifelhaft weißen Handschuhen an den Flügel setzt, um einen Walzer zu spielen, dann stellt er sich neben ihn und schlägt ermunternd mit dem Champagnerglase den Tact dazu. Am Schluß des feinen Diners steht er schwankend und doch wundervoll auf und bringt dem gastfreien Wirthe Anton Antonowitsch ein letztes, dreifaches Hoch. Wenn der Priester die prachtvollen Säle des neuen Hauses eingeweiht und das Kreuz den Versammelten zum Küssen gereicht hat, dann spricht er ein paar kräftige und herzliche Worte und prophezeit dem alten bewährten Hause „Smirnow und Söhne“ auch das alte Glück in den neuen Räumen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_366.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)