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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

beinahe tödtlich werdender, aber durch eine reisende Theatersoubrette (sagen wir eine ihrer Erlösung durch einen Gott harrende Bajadere) geheilten Verwundung des Lichtprinzen Dankmar endigt, das alles ist nur verständlich, ja nur als menschenmöglich denkbar, wenn man diese Geschichten unter die Abenteuer Sindbad’s verlegt oder auf die Insel Barataria. Dann ist jenes Testament etwa ein Wünschelhut, geschenkt von einem Zauberer, und der Briefwechsel ist der seidne Pantoffel, den die Geliebte der beiden wüthenden Nebenbuhler getragen hat. Dann allein versteht man die leidenschaftlichen Scenen auf der fashionabelsten Straße des heutigen Neapel, jenes: „Schäumend vor Wuth hielt Jauffroi die Hände über die Brust gekreuzt“ – oder: „Dieses Testament, welches hier in meiner Brusttasche steckt, übergebe ich Ihnen als Preis für Eugeniens Briefe! Wählen Sie!“ Dankmar kämpfte mit sich. Endlich rief er: „Nein! Nein!“ Hierauf Ueberfall, Stiletstich – und zwar von der Hand eben jenes schwarzen Emirs, den einst in Westphalen auf der Insel der schwirrende Tellpfeil getroffen hatte, ohne daß er jedoch davon gestorben und ohne daß Eugenie selbst dabei verwundet wurde. Und die Bajadere ist es, die Dankmar’n heilt und pflegt. Warum gerade sie? Es ist der Dank für einen Nothpfennig, den ihr einst Eugenie anonym zugesendet hatte, als Fanny (also lautet ihr Name) in einem westphälischen Provinzialstädtchen bei einer reisenden Schauspielertruppe einmal wieder vor Schulden nicht weiter kommen konnte. Letzteres allerdings ein modernes Motiv. Aber wie handhabt es unser Dichter? Das Mädchen aus der Fremde, eben jene Eugenie Stroußberg, zieht einen Papierstreifen aus jener verhängnißvollen Cassette, womit sie gereist war (sie trug sie immer bei sich wie ihr Reisealbum), und schreibt darauf: „Ordre Fanny N. N. Gut für –“ Ja, jetzt rathen Sie, liebe Freundin! Nicht wahr, gut für fünfundzwanzig bis dreißig Thaler? Doch schon ein beinahe fürstliches Almosen für eine Eugenien völlig unbekannte vagirende Schauspielerin? Nein, meine Theure, wir leben eben in Deutschland und doch noch im Lande der Märchen und doch noch unter den Dichtern der Romantik! Sie schreibt: „Gut für – dreißigtausend Franken!“ Ebenso griff Fortunatus, Prinz von Famagusta, niemals in seinen Wünschelhut um Bagatellen.

Wir sind für heute zu Ende. Merken wir uns den Thatbestand, daß der sogenannte moderne „Realismus“, z. B. die zum Nasenzuhalten duftende Schilderung der Milch- und Käsebereitung oder der Düngerfreude bei Jeremias Gotthelf als Arznei gegen eine solche Welt der Phantasmen eine große Berechtigung hatte. Levin Schücking aber, der Fleißige, Vielgewandte, er vergebe mir, wenn ich ihm ein allzuleichtes Handhaben reiner Unwahrscheinlichkeitsfiguren vorgeworfen. Die Schuld, daß ein so geistvoller, unterrichteter, in der Regel vom feinsten Herzenstact geleiteter Dichter seine Leser gleichsam in eine dunkle Kammer einladet, dort einen zinnernen Teller voll Spiritus anzündet und uns in seinen Romanen und Novellen blaue Wunder vorführt, trägt eben die Romantik, die sich bei ihm und bei manchem Andern und bei manchem, der sich sonst klug und dichterisch neunmalweise dünkt, in ihrem äußersten, dem Verglimmen und Erlöschen nahen Stadium wirklich noch länger erhalten hat, als dem an sich einst so schöngewesenen, so tief in unsere Cultur- und Nationalentwickelung eingedrungenen Kunstprincip des Romantischen zu gestatten ist. Widersprechen Sie aber bei Alledem, wenn uns die Franzosen, auch die Engländer, durchaus noch für ein Volk von Träumern und Nachtwandlern halten wollen! Wir sind es – ach ja! ich zeigte es Ihnen an dem trefflichen, vielbeliebten Levin Schücking – aber wir wollen es ihnen nicht verrathen.*[1]




Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Der Minister zog Gisela unwiderstehlich nach dem Sopha zurück – sie sank zwischen den Polstern zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. … Einen Moment stand er schweigend vor ihr, dann ging er langsam nach dem Fenster und schloß es wieder. Seine Füße glitten unhörbar über den Teppich, den sie eben noch wüthend gestampft, und die Fäuste, die vorhin den zarten Mädchenkörper in grimmer Kraft geschüttelt, legten sich geschmeidig, in ihrer vollendeten Anmuth und aristokratischen Schlankheit auf den Scheitel der Stieftochter – schneller kann das Raubthier seine Krallen nicht in das sammtene Fell zurückziehen, als dieser Mann seine thierisch wilde Heftigkeit nach außen hin zu maskiren verstand.

„Kind, Kind, in Dir steckt ein Dämon, der das friedfertigste Gemüth zur Wuth reizen kann,“ sagte er und zog ihr mit sanfter, behutsamer Berührung die Hände vom Gesicht. – „Kleine Unberechenbare! … Man wird förmlich überrumpelt und läßt sich im ersten Schrecken zu Ausdrücken hinreißen, von denen die Seele nichts weiß. … Rief ich nicht eben, Du seiest des Todes?“ – Er lachte laut auf. – „Classisch! Ein theatralischer Gemeinplatz, wie ihn der geharnischte Bühnenritter nicht wirksamer hinschleudern kann! Was Einem nicht Alles in der Herzensangst passirt! … Die aber habe ich eben gründlich durchgemacht, Gisela,“ fuhr er sehr ernst fort. „Alle diese plaudernden, lächelnden Menschen, die, Schmeichelei und Honigseim auf den Lippen, draußen das Schloß umkreisen, sie wären sofort zur lästernden, zeternden Meute geworden, wenn Dein unvorsichtiger Ausruf ihr Ohr erreicht hätte. … Dieses ganze erbärmliche Geschmeiß hat vor der glänzenden Gräfin Völdern im Staube gelegen – es hat seiner Zeit von den Reichthümern der schönen Frau vortrefflich zu zehren verstanden – nichts destoweniger ist gerade in diesem Kreise die geflüsterte Behauptung, die Völdernsche Erbschaft sei eigentlich ein Diebstahl gewesen, mit liebevollster Beharrlichkeit gepflegt worden.“

„Die Leute haben Recht – das Fürstenhaus ist auf die gemeinste Weise bestohlen worden!“ sagte Gisela mit dumpfer, aber leidenschaftlich ausbrechender Stimme – es klang mehr wie ein Aufstöhnen.

„Sehr wahr, mein Kind, aber kein menschliches Ohr darf das jemals hören. … Ich kenne bereits Deine unumwundene, rücksichtslose Art, Dich auszudrücken, ich bin ein Mann – kein zartempfindendes Mädchenherz – und Deiner Großmama nicht einmal blutsverwandt – und dennoch berührt mich der harte, wenn auch immerhin gerechte Ausspruch aus Deinem Munde wie ein Dolchstich – ich würde nie diese Worte für das Vergehen gefunden haben.“

Er hielt lauernd inne. Seine beißende Zurechtweisung übte nicht die geringste Wirkung auf das schöne, bleiche Gesicht neben ihm; es lag etwas Unerbittliches in den Linien, die den kindlich geschwellten Mund fremdartig umzogen.

„Glaube ja nicht,“ fuhr er rascher fort, „daß ich damit das geschehene Unrecht entschuldigen will – weit entfernt – ich sage im Gegentheil: Es muß gesühnt werden!“

„Es muß gesühnt werden,“ wiederholte das junge Mädchen, „und zwar sofort!“

Sie wollte aufspringen, aber der Minister hatte bereits seine Arme um ihre Taille geschlungen und hielt sie fest.

„Willst Du nicht die Freundlichkeit haben, mir mitzutheilen, wie Du das anzufangen gedenkst?“ fragte er, während sie angstvoll strebte, der verabscheuten Berührung zu entfliehen.

„Ich gehe zum Fürsten –“

„So – Du gehst zum Fürsten und sagst: ,Durchlaucht, da stehe ich, die Enkelin der Gräfin Völdern, und klage – ich klage meine Großmutter der Betrügerei an; sie war eine Verworfene, sie hat das fürstliche Haus bestohlen! … Was kümmert’s mich, daß mit dieser Anklage der edelste Name im Lande, eine lange Reihe tadelloser Männer gebrandmarkt wird, die im Leben ihren Namen als das höchste Kleinod rein bewahrt haben! – Was kümmert’s mich, daß diese Frau die Mutter meiner Mutter war, und meine ersten Lebensjahre treu behütet hat – ich will nur Sühne, augenblickliche Sühne, gleichviel, ob ich das haarsträubende Unrecht begehe, anzuklagen, wo ein todter Mund sich nicht mehr


  1. * Mit dieser Beurtheilung Schücking’s dürfte der berühmte Verfasser obiger Briefe bei den Lesern unserer Zeitschrift doch auf einigen Widerspruch stoßen. Schücking’s Erzählungen in der Gartenlaube mit ihrer reichen Erfindung und ihrer eleganten realistischen Durchführung sind stets mit Enthusiasmus aufgenommen und, was mehr als alles Andere für sie spricht, ohne Ausnahme dramatisirt worden. Das geschieht sonst bei Geschichten voller „blauer Wunder“ in der Regel nicht. D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_382.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2022)