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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

der Rückzug hier weniger gefährlich. Je näher wir an den Eiskamm rückten, der sich vom Schwarzensteinspitz zum großen Mörchenspitz hinzieht, desto häufiger und größer wurden die Klüfte; auch gewann das Eis eine bedeutend unangenehme Neigung gegen Westen, die sich oft bis vierzig Grad steigerte. Wir umgingen und übersprangen, so lange es ging, die offen zu Tage liegenden Klüfte, hatten uns so ziemlich hoch hinaufgearbeitet, und ich dachte schon, die Partie könnte vielleicht noch ganz gut enden.

Da mit einem Male änderte sich die ganze Scenerie; der erste Führer, Hanns, der die Leitung übernommen, blieb stehen, stutzte, schaute, forschte, – kein Ausweg. Vor uns wild durcheinandergeworfene Eistrümmer, von der Größe eines Hauses, zerschellt, zerrissen, geborsten in den sonderbarsten Formationen. Links eine glatte Eiswand, die oben überhängend wurde, und unter uns, rechts, unbeschreibbar, ein Chaos von gewaltigen Klüften und Schlünden, die uns schwarz und grausig entgegenstarrten. Da war ein Vorwärtsdringen unmöglich, und wir mußten uns bequemen, umzukehren, um weiter westlich den Aufstieg zu versuchen. Mühsam wanden wir uns durch die Eisabstürze wieder hinunter, übersetzten eine breite Längskluft und versuchten neuerdings, die Schlünde umgehend, die frühere Höhe zu gewinnen. Schritt für Schritt trotzten wir dem feindlichen Elemente ab, klommen, dem Kommandoworte des noch immer beherzten Hanns folgend, über die kalten Stufen bald hinauf bald hinunter und befanden uns endlich auf einer kleinen, ziemlich ebenen Firnfläche. Hier wurde geruht und das Frühstück eingenommen, jedoch nicht mit der Fröhlichkeit und dem heiteren Sinne, der nach überstandenen Mühsalen in einer solchen Gesellschaft sonst zu herrschen pflegt. Der Himmel zeigte zwar noch nichts Drohendes, allein der Blick nach dem Eiskamme, den wir zu übersteigen hatten, bot kein erfreuliches Bild. So weit das Auge reichte, sah der Firn wie ein Sieb aus; mächtige Klüfte durchzogen denselben nach allen Richtungen, und mit dem Perspective konnte ich ungeheure Eisabstürze entdecken, die sich zwischen denselben in wildem Durcheinander aufthürmten. Ich sagte davon den Führern nichts, um ihnen nicht den Muth zu benehmen, beendete die Mahlzeit und mahnte zum Aufbruche.

Demgemäß band man sich wieder an das Seil und verbuchte nun, eine kleine zerklüftete Eishalde hinabsteigend (vergl. Illustration S. 268 „Passage über den Schwarzensteingletscher“), den jenseitigen Abhang zu erreichen, um von dort aus in schräger Richtung auf den ersehnten Kamm zu gelangen. Der erste Führer war so eben bedächtig bis zum abschüssigen Rande einer Kluft gekommen, als er plötzlich, Niemand wußte wie, das Gleichgewicht verlor und, da das Seil zum zweiten Führer, anstatt gespannt zu sein, schlaff herabhing, den letzteren mit gewaltigem Rucke zu Boden riß und auf der glatten Fläche mit sich schleifte. Mit übermenschlicher Anstrengung hielten ich und der letzte Führer den Strick krampfhaft in den Händen, um die anderen vor dem furchtbaren Sturze in die Tiefe zu retten, – doch vergeblich! Der durch den warmen Wind aufgeweichte Firn hatte sich unter den Zacken der Fußeisen geballt, ich verlor den Halt, riß den letzten Führer auch mit, und auf den Rücken stürzend, flog ich mit der anderen Karawane der gähnenden Kluft entgegen.

Dies Alles war das Werk eines Augenblickes und die Situation eine verzweifelte, ähnlich derjenigen, bei der im Jahre 1866 die Matterhornbesteiger L. Douglas, Hudson und Conforten verunglückten. Noch eine Secunde und wir ruhten mit zerschellten Gliedern vereint im gemeinsamen Grabe. Doch die Vorsehung hatte es anders beschlossen. Hannsl, der wackere, baumstarke Bursche, hatte bei seinem Sturze so viel Geistesgegenwart, mit Händen und Füßen sich mehr gegen das Ende der Kluft hinzuarbeiten, und dadurch auch uns eine mehr schräge Richtung zu geben. Sausend langte er unten an und prallte, auf dem Rücken liegend, mit beiden Füßen an die jenseitige Eiswand an, hier blieb er stecken und bildete, da die Kluft hier blos nahe vier Zoll breit war, eine Art Brücke. Fest eingestemmt und die Arme ausspreizend, empfing er mich, der über seinen Kopf hinausstürzte und links gegen eine Eisstufe anprallte. Der zweite Führer hatte sich zwischen mir und dem Hannsl eingekeilt, und bildete so mit uns einen hübschen Knäuel. Der dritte Führer wurde, obgleich er in die Kluft stürzte, von allen dreien noch erhalten. So hingen wir zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod, nur durch ein Wunder gerettet.

Nun hieß es behutsam sein! Zuerst kroch ich empor, dann der zweite Führer, und als wir festen Fuß gefaßt, halfen wir, am Stricke ziehend, dem in die Kluft gestürzten wieder an’s Tageslicht, und brachten auch den Hannsl aus die Beine. Die ganze Operation hatte nahezu eine halbe Stunde gedauert. Keiner hatte bedeutenden Schaden genommen, nur ich blutete stark an der linken Hand, und der gestürzte Führer klagte etwas über Kopfweh.

Durch dieses kleine, aber höchst unangenehme Intermezzo ließen wir uns jedoch nicht aufhalten, sondern setzten, noch immer muthig und vertrauend, nach Verbandagirung der Wunden, unseren Weg weiter. Noch galt es ein ziemlich Stück Arbeit, bis wir den oberen Firn, und mit ihm den Anstieg zum letzten Eiskamme erreichen würden. Doch plötzlich – wie von Zauberhänden entrollt, wälzte sich von Westen her eine dichte Nebelmasse, die, immer näher und näher anrückend, uns endlich in ihren feuchten Mantel hüllte: feiner aufgewirbelter Hochschnee, vom nun losbrechenden Winde gepeitscht, drang auf uns ein und blendete uns förmlich, während eine plötzlich eingetretene Kälte uns Mark und Bein durchrieselte.

Unterdessen war es völlig Nacht geworden, und wir konnten keine vier Schritte vor uns sehen. Des Himmels Strafe war über uns gekommen! das hieß unsern Muth und unsere Kraft auf eine harte Probe stellen. War es wirklich Hochnebel, dem gewöhnlich Regen oder dichtes Schneegestöber folgt, so waren wir unrettbar verloren und sahen einem fürchterlichen Tode entgegen. Das wußte jeder von uns, und bleich und verstört sahen wir uns an. Niemand wagte einen Rath oder eine Meinung auszusprechen, wir waren alle von dem Eindrucke des Augenblicks überwältiget. Was nun thun? Umkehren war ebenso gefährlich, als vorwärtsgehen, und das Unwetter hier abwarten, war eine gewagte Sache. Doch sah ich mich zu letzterem gezwungen, denn bei der herrschenden Dunkelheit, bei dem Toben und Wüthen der entfesselten Elemente weigerten sich die Führer, auch nur einen Schritt weiter zu thun.

Wir breiteten den Plaid aus und ließen uns nieder. Keiner von uns sprach, jeder hatte mit seinen eigenen Gedanken sattsam zu thun. Es verging eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde – wir zitterten vor Kälte, – allein die Dinge gestalteten sich immer schlechter. Wie Ossian’s Schatten, gespenstergleich huschten die Nebelmassen an uns vorüber, in wüthenden Stößen sauste der Wind über die weiten Eisflächen, und ein heftiges Schneegestöber begann in den Lüften sein wunderliches Spiel. Jetzt sank auch dem Beherztesten der Muth! Wir waren verloren! - denn es hätte übermenschliche Kraft erfordert, aus diesen Eis- und Klüftenlabyrinthen, ohne Richtung und Anhaltspunkt von den entfesselten Elementen verhöhnt und gepeitscht, einen Ausweg zu finden. Still, zusammengekauert lag ich hinter einem Eisblocke, und Gedanken – Gedanken der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung durchkreuzten wild meinen Kopf. Was trieb mich in diese unwirklichen Gefilde, in dieses trügerische Reich der Pracht und Herrlichkeit und des Todes zugleich, was verlockte mich, der tödtlichen Kälte, den tobenden Stürmen zu trotzen, das warme gebrechliche Leben über stundenlange Firnmeere zu lenken, um hier, halb erstarrt, ohne Hülfe, ohne Trost, hängend zwischen Leben und Tod, ein heiteres, fröhliches Dasein so traurig zu enden? Schmerzlich, unendlich schmerzlich gedachte ich der süßen Heimath, der lieben Meinen, die meine schreckliche Lage wohl nicht ahnten! So saß ich, ein Bild des Elends und des Jammers; doch hängt der Mensch so fest an dem warmen Leben, klammert sich so mit allen seinen Kräften an jeden Strohhalm, der auf den Wogen treibt, daß er, selbst ringend mit dem Tode, noch Rettung hofft. Und was vermochte nicht Geistesgegenwart, was Muth, Kraft und Ausdauer selbst gegen die tobenden Elemente!

Ich raffte mich auf und hieß meine Leute die Mundvorräthe auspacken. Ich gab ihnen Wein und Fleisch, vertheilte Cigarren, und fachte auf alle mögliche Weise ihre gesunkenen Lebensgeister wach zu rufen. Ja ich stimmte, obgleich mir selbst das Herz blutete, ein Lied an, und sandte einen hellen Jauchzer in die grauen Nebelmassen hinaus. Doch nichts vermochte die Muthlosigkeit meiner sonst wackeren Gefährten recht zu verbannen. Da plötzlich riß über uns der Nebel, und ein Blick überzeugte uns, daß, wenn auch die Nachbarberge tief in Nebel steckten und der Himmel eine Bleifarbe angenommen hatte, doch der oberste Firngrat noch frei war. In ein und einer halben bis zwei Stunden konnten wir, wenn es gut ging, denselben erreichen, und dann wären wir gerettet. Von neuem Muthe beseelt, ließ ich Alles schnell zusammen

packen, eiferte meine Führer an, versprach ihnen doppelten Lohn,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_391.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2024)