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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

und fort ging es, dem Wind und Sturme entgegen. Der gute Bartl war noch immer in tiefer Trauer, was ich dem armen Burschen nicht verargen konnte; war er doch Familienvater und hatte daheim Weib und Kinder, die seiner sehnsüchtig harrten. „Jetzt ist’s gerad gleich,“ seufzte er vor mir„ „ob wir unten oder oben hin sein, hin sein mer doch.“ („Jetzt ist es doch gleich, ob wir unten oder oben verloren sind, verloren sind wir dennoch.“)

Wir hatten eine kurze Strecke zurückgelegt, als wir wieder dicke, graue Nebelmassen vom Hornspitz daherrollen sahen. Rasch riß ich meinen Compaß heraus, skizzirte mit erstarrten Händen, so gut es ging, den Aufstieg und fixirte die Richtungslinie, und weiter ging es in den nun etwas sanften Firn. Wir sanken stets tief ein und konnten nur mit der größten Anstrengung vorwärts kommen. Bald waren wir wieder in Nebel. Suchend und die trügerisch überdeckten Klüfte bestmöglichst vermeidend, bald rechts bald links abschweifend, vielfach umkehrend und neu probirend, hatten wir uns doch ziemlich weit hinaufgearbeitet. Doch jetzt verließ uns die Kraft. Der erste Führer sagte gar nichts, sondern legte sich einfach auf’s Eis nieder, um zu schlafen. Auch ich war ganz erschöpft, und die zwei anderen Führer konnten sich kaum mehr weiter schleppen, Da mußte Wein her! – sonst waren wir verloren, denn wenn uns einmal der Schlaf gepackt, so war kein Erwachen mehr denkbar. O wie dankte ich da den beiden gastfreundlichen Fremden für den gespendeten Rebensaft! Sie haben einen großen Antheil an unserer Rettung!

Nachdem wir uns einigermaßen gestärkt und auch Hannsl sich des Bessern besonnen, das Schlafen bis Abends, wo wir uns in’s Bett legen konnten, zu verschieben, versuchten wir neuerdings vorwärts zu dringen.

Plötzlich gewann das Terrain an Steilheit und Glätte; wir wanden uns, die Fußeisen fest einstemmend, mühsam hinauf, ein freudiger Gedanke durchzuckte meine Seele, noch einige Schritte, und wir standen auf dem ersehnten Firngrate, der das Zillerthal vom Ahrnthale trennt. Es war zwölf Uhr Mittags, doch schien es wegen des dichten Nebels eher Abends sieben Uhr zu sein. - Wir waren gerettet. Bartl konnte nicht umhin, in seiner übergroßen Freude ein heißes Dankgebet zum Himmel zu senden, und begann sichtlich erregt in seinem frommen Sinne ein Vaterunser zu beten. Auch ich zollte dem Himmel meinen wärmsten Dank, daß er mir Geistesgegenwart und Kraft verliehen, mich den Armen des Todes zu entwinden. Nur der etwas schroffere Hannsl äußerte höchst naiv. Schau’, i hätt’ nit glaubt, daß mer da no beisammen waren.“ (Schau’, ich hätte nicht geglaubt, daß wir hier noch beisammen sein würden.) Auf der Schneide konnten wir es keine fünf Minuten lang aushalten; das Thermometer zeigte zwei und einhalb Grad unter Null, eiskalt und orkanartig pfiff der Wind um uns und die kleinen einzelnen Eisecken herum, ganze Wolken des losen Firnes vor sich her aufwirbelnd. Rund herum war Alles verhüllt, und wir konnten selbst die nächste Umgebung nicht unterscheiden. Nur das vermochten wir zu sehen, daß wir wirklich auf der Schneide waren, denn unter uns, südlich, zeigte sich beim momentanen Reißen des Nebels kein höherer Punkt, vielmehr brach hier der Firn in furchtbar steilen Wänden gegen das Ahrnthal ab. Wir standen zehntausendvierhundertundachtzig Fuß über’m Meer.

Hier konnten wir nicht absteigen, sondern mußten den Grat entlang gehen und eine Stelle suchen, wo wir es wagen konnten, hinunterzuklettern. Ich überließ dies meinen Führern, denn ich war fest in meinen Plaid gehüllt und folgte zitternd und fast erstarrt von Kälte mit klopfendem Herzen und kurzem Odem den Fußspuren der Anderen. Endlich hatte sich eine kleine Eisrinne gefunden, wo der Abstieg möglich schien, obgleich Hannsl bestimmt versicherte, das sei nicht der rechte Uebergang und nicht das Loch, wo er damals, vor vielen Jahren, herübergekommen sei; doch da half kein Besinnen, wir mußten hinab, der Wind und die Kälte waren zu unerträglich.

Langsam, langsam, Schritt für Schritt berechnend, krochen wir die steile Firnhalde hinab, wanden uns durch ein paar Eiskämme durch und erreichten ein kleines Firnplateau, das stark gegen Osten geneigt und gegen Westen, mithin auch gegen den Wind, durch einen Eisabsturz gedeckt war. Dem Hannsl schien die ganze Geschichte nicht recht zu gefallen; er blieb stehen, schüttelte den Kopf und meinte, da hätten wir uns vergangen und seien zuletzt blos in eine Hochmulde gerathen, die weiter gegen Süden abermals zu einem neuen Eisgrate ansteige. Wenn das der Fall wäre, so hätten wir oben zu früh gejubelt, denn ein solcher Marsch liege außer dem Bereiche unserer ohnedem schon gesunkenen Kräfte. Doch – mit einem Male erzitterten die Nebel, ein günstiger Windstoß fuhr in die dichten Massen und der verhängnißvolle Schleier riß über uns. Mit bebenden Lippen und hochklopfenden Herzen warteten wir, ob nicht auch unter uns der Nebel reiße, um einen Blick in die Tiefe werfen zu können, doch das sollte uns noch nicht vergönnt sein. Die Nebellücke schloß sich neuerdings, und wir waren so klug wie zuvor. Doch hatten wir beim Brechen des Nebels ein kleines Stück blauen Himmels entdeckt, das tröstete uns, und gerne wollten wir noch unsere letzten Kräfte anspornen, wenn nur Wind und Schneegestöber, unsere ärgsten Feinde, aufhörten.

Wir beschlossen daher, an einer etwas geschützten Stelle unter einem überhängenden Eisblocke ein wenig zu ruhen und zu warten, bis uns der Ausblick in die Tiefe gestattet würde. Der letzte Rest unseres Weines wurde herumgereicht, Fleisch und Cigarren neuerdings vertheilt, und so unsere Kraft wieder ein wenig gehoben. Das Schneegestöber hatte aufgehört, nur der Wind schien sein Toben noch nicht aufgeben zu wollen. Es war zwei Uhr Nachmittags; das Thermometer stand noch immer unter Null. Doch unsere frühere Hoffnung hatte uns nicht getäuscht. Heller und heller wurden die Nebel, der Wind hatte umgeschlagen und trieb nun in wilder Hast die dichten Schatten westwärts. Schon zeigten sich einzelne Stücke blauen Himmels, immer größer und größer wurden die Nebellücken und mit einem Male zerfloß der düstere Mantel. Klar und rein spannte sich über uns das blaue Himmelsgewölbe, und warm drangen die heiteren Strahlen der Nachmittagssonne in unsern erstarrten Körper. Wir waren aufgesprungen; neue Lebenslust und Muth durchbebte mein inneres. Jetzt war die Gefahr vorüber und wir gerettet. Tief, tief unten, von uns noch durch Eis und Felsabstürze getrennt, sah ich im schönsten Wiesen- und Wälderschmucke das liebliche Ahrnthal und weiter gegen Westen in blauer Ferne die Berge Pusterthals. O wie drang da der Blick so wonnerfüllt hinab zu den befreundeten Stätten, zu den Wohnungen der Menschen, von denen wir bereits auf immer Abschied genommen!

Nun galt es kein Zaudern; vorwärts mit neugestähltem Muthe und verjüngter Kraft ging es die steilen, vielfach zerrissenen Eis- und Felsenlagen hinunter; an einzelnen Stellen mußten Fußstapfen gehauen werden. Hannsl, dem jetzt das Terrain auch bekannter vorkam, drang ziemlich sicher vor. Noch hatten wir eine steile Eisrinne vor uns; da hinab mußten wir, denn rechts und links starrte das Eis in blauen Wänden. Ich wurde zuerst am Seile hinuntergelassen, dann der erste und zweite Führer, Hannsl war zurückgeblieben. Erst als wir drei bereits unten waren, entstand die Frage, wie denn Hannsl herabkommen könnte. Doch war er schnell gefaßt. Er hieß uns unten einen Halbkreis bilden, um ihn nötigenfalls aufzufangen, dann hieb er mit der Hacke um einen vortretenden Eisblock eine Art Rinne aus, legte in dieselbe den Strick, faßte denselben an beiden Enden und ließ sich so hinunter. Die Wand maß ihre dreißig bis vierzig Fuß Höhe. So waren wir denn Alle wieder glücklich vereint, und stiegen nun über die letzten Eistrümmer und Moränen hinab. In dreiviertel Stunden hatten wir festen Boden erreicht. Kein Mensch kann das Gefühl beschreiben, als wir wieder auf bewohnter Erde anlangten. Doppelt und dreifach dankte ich dem Himmel für unsre Rettung.

Mein Plan, den Uebergang über den Schwarzensteingletscher zu forciren, war gelungen, aber mit welchen Opfern! Meine Absicht, Messungen und Forschungen auf dem Eise vorzunehmen, war total vereitelt worden. Stets mit Sturm, Wind und Nebel und den Schwierigkeiten eines feindlichen Terrains kämpfend, zweimal in Todesgefahr, erschöpft an Geist und Körper saß ich da, ohne das erreicht zu haben, was ich erreichen wollte.

Ohne weitere Schwierigkeiten kam ich Abends ein Viertel auf neun Uhr glücklich in St. Johann im Ahrnthale an. Trotz der Dürftigkeit des dortigen Gasthauses wich ich keinen Schritt weiter; ich war todtmüde und so erschöpft, daß ich kaum noch eine Suppe zu mir nehmen konnte. Einen ganzen Monat lang spürte ich die Folgen dieser übermenschlichen Anstrengungen in allen Gliedern. Die Erinnerung an die bestandenen Gefahren wird mir aber zeitlebens bleiben.



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