Seite:Die Gartenlaube (1869) 490.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

dagegen überall fast grundlosen Landweg befuhr und zu jeder Reise, trotz kaum mehr als drei Meilen betragender Entfernung, hin und zurück seine ausgeschlagenen drei Tage brauchte. Dieser Frachtfuhrmann nun auch hatte die erwähnte aufregende Nachricht mitgebracht, leider aber vergessen, sich nach den Tagen der Aufführung zu erkunden.

Ein vorzugsweise freischützbegeisterter erbgesessener Patriciersohn erklärte sich aber sofort bereit, nach Anklam hinüberzureiten und genaueste Nachricht heimzubringen. Seine Rückkehr konnte erst spät in der Nacht erfolgen, da es so fest stand wie das Amen in der Kirche, daß, wurde an diesem Abende der Freischütz in Anklam wiederum aufgeführt, der begeisterte Bote auch durch die Schrecknisse eines Heimritts in rabenschwarzer Nacht auf entsetzlichem Wege und obendrein durch nicht ganz geheuren meilenlangen Forst sich nicht würde zurückhalten lassen, die Vorstellung zu genießen. Hunderte von Leuten aller Stände blieben über Nacht auf, den Gesandten zu erwarten. Mehr als fünfzig Männer und Frauen, jung und alt, harrten seiner in Gemeinschaft in einem Patricierhaus, das gastfrei den Freischützenthusiasten, an deren Spitze es selbst stand, seine Räume geöffnet hatte. Sogar der Kastengeist, der nirgends schroffer hervortritt als in kleinen Städten, besonders in alten mit ausgedehnter Autonomie, verkroch sich vor der allgemeien Begeisterung, wenn er auch spottlächelnd aus seinem Winkel herausschielte und auf seine Zeit mit Ruhe wartete, von der er sicher wußte, daß sie wieder kommen mußte. Heute Nacht freilich war er machtlos. Die Gesellschaft, so bunt gemischt sie war, vereinte ein und dasselbe Gefühl, und das ließ sie für den Augenblick alle Standesunterschiede vergessen.

Gegen fünf Uhr Morgens endlich sprengte auf schweißtriefendem schäumenden Gaul, mit den unsaubern Bestandtheilen der Landstraße, Lehm und feuchtem Sand, vom Kopf bis zur Zehe, Mantel, Hut und Reitstiefel bedeckt, der Delegat vor die Pforte des Patricierhauses, schon gefolgt von allen den Aufgebliebenen, die in der Straße wohnten, in die er einritt, und die der Hufschlag seines Pferdes hinter ihm her gelockt hatte, wie die Pfeife des Rattenfängers von Hameln.

„Ich habe den Freischütz gehört und gesehen,“ meldete den stumm Lauschenden der Heimgekehrte. „Ihn Euch zu beschreiben – dazu fehlt mir nichts weiter als Alles! Seine Schönheit, sein wunderbarer Reiz sind eben unbeschreibbar. Für morgen Abend sind alle Plätze schon verkauft, aber für übermorgen und den Sonntag habe ich noch je dreißig Plätze glücklich erstritten. Hier sind die Billets.“

Für beide Tage begann nun ein Rüsten von Kleidern, Rossen und Wagen, das die ganze Stadt in Aufruhr setzte. An guten Pferden fehlte es nicht, wohl aber an Chaisewagen. Man behalf sich indessen so gut es eben ging, nahm auch zu strohausgeflochtenen Leiterwagen seine Zuflucht, und an beiden Tagen Morgens früh um vier Uhr setzte sich die Karawane in Bewegung.

Und glücklich waren auch diese Freischützpilger heimgekehrt – entzückt, verzückt, in förmlichem Begeisterungstaumel ob des gehörten und geschauten Schönen und Wunderbaren; ihre Erzählungen und Berichte machten in den Anderen, die für diesmal, gezwungen von der bitteren Notwendigkeit, noch hatten zurückbleiben müssen, die schon an und für sich so mächtige Begierde, auch selbst zu hören und zu schauen, noch reger, und eine neue Karawane sammelte sich und begann sich zu rüsten. Da, o herbes Geschick! brachte der Postillon statt der erhofften Billets die Trauerbotschaft. „Brökelmann verläßt schon morgen Anklam, um in Stralsund seine Winterstation zu machen.“ Wie ein kältender Regen fiel diese Nachricht auf die von Erwartung flammenden Gemüther. Obgleich ein einmal machtvoll angefachtes Gefühl des Enthusiasmus für gleichviel welche Sache in kleinen Städten mit seinem einfachen täglichen Kreislauf viel länger anhält, viel nachhaltiger in seinen Wirkungen ist, als in großen Städten, wo die Ereignisse sich häufen und Eins schnell das Andere verdrängt, so mußte doch auch hier die immense Sensation, die der Freischütz so allgemein hervorgerufen, naturgemäß nach und nach sich verringern, zumal da das Begeisterungsfeuer ohne Nahrung blieb, denn von all’ den kleinen reisenden Schauspielertruppen, die im Laufe der kommenden Jahre das Städtchen heimsuchten, brachte keine den Freischütz. –

Mehr als fünfzehn Jahre waren nach dem eben Erzählten in’s Land gegangen. In meinem guten Heimathstädtchen hatte sich wenig verändert während dieses Zeitraums, desto mehr freilich ich mich selbst. Ich war aus einem Jungen in angehenden Flegeljahren ein junger Mann geworden, der, außer den Schul- und Collegienbänken, auch schon manche Erfahrungen hinter sich hatte, die man nur im Strom der Welt immer und überall erwerben wird, besonders wenn man seine Wirbel und Schnellen nicht scheut. Die Irrpfade des Gauklerlebens hatte ich indessen noch nicht beschritten.

Es war im Frühling des Jahres 1838, – ich saß gerade gemächlich wieder einmal auf der heimischen Scholle – als die Seiltänzertruppe Jean Weitzmann’s in mein Städtchen einzog. Der Vater der Weitzmanns, die noch heute in zwei selbstständig umherziehenden, aller Orten wohlbekannten Seiltänzerfamilien floriren, war, trügen mich meine Nachrichten nicht, bis an’s Ende der zwanziger Jahre der Führer und das Haupt einer Kunstreiter- und Seiltänzertruppe, die in Oldenburg und Holstein ihr Wesen trieb. Bei ihm, Weitzmann dem Vater, hat auch Renz, dem die Gartenlaube ja früher einmal den Titel „König der Kunstreiter“ beilegte, seine Lehrjahre durchgemacht. Ich selbst sah Renz noch bei der Truppe von Brilloff und Brandt auf dem Drahtseil mit jenem kühnen Schwung der Begeisterung arbeiten, die ihm im Sattel noch heute eigen ist.

Die Weitzmanns, von denen ich hier spreche, producirten am Tage auf dem Marktplatz meines Städtchens ihre Seiltänzerkünste und gaben Abends in einem Saal dramatische Vorstellungen. In ersteren Productionen leisteten sie Vorzügliches, machten ihre Sachen mit einer liebenswürdigen Grazie und Anmuth und obendrein mit einer Decenz, die um so achtungswerther erschien, je seltener sie sonst die Begleiterin derartiger Darstellungen zu sein pflegt. Der familienhafte Charakter der Truppe machte seine Wirkung auch auf ihre öffentlichen Schaustellungen geltend; die Weitzmanns waren und sind in ihrer Art das, was zu ihrer Zeit die weitberühmten Tänzerfamilien der Chiarinis und Cafortis waren.

Bezüglich ihrer Kunst der Menschendarstellung leisteten sie in kleinen Kotzebue’schen und anderen Stücken mehr, als viele andere wohlorganisirte Schauspielertruppen, die sich nur ausschließlich mit Menschendarstellung befassen, sehr häufig zu leisten pflegen. Man sah es der Art und Weise ihrer ganzen Darstellungen an, daß die Kinder des Kunstreiterprincipals Weitzmann bis zu emem gewissen Grade auch eine Erziehung und Bildung genossen hatten, die nicht blos das Handwerk im Auge gehabt hatte.

Dies Alles nun, war es auch schon ein Erhebliches mehr, als der gewöhnliche Habitus sonstiger Banquisten, wäre doch immerhin noch nichts so Besonderes gewesen, daß es mich berechtigte, ihrer hier zu erwähnen, aber wir Alle im Städtchen waren überrascht, auf’s Höchste erstaunt, als es eines Tages lautete: „Die Weitzmanns geben den Freischütz.“ Alte Erinnerungen rief dieser Name bei Hunderten auf’s Lebhafteste wiederum wach, die einstige Freischützbegeisterung schien wieder neu zum Leben erweckt, nur machten sich mannigfache Zweifel geltend, ob diese Leutchen im Stande sein würden, der Oper auch nur annähernd gerecht zu werden.

Der Tag der ersten Vorstellung kam. Der ziemlich große Saal, in welchem die Bühne aufgerichtet war, füllte sich im Umsehen bis zum Erdrücken, und erwartungsvoll harrten Alle dem Beginn. Unseres alten Stadtkunstpfeifers Capelle war zwar nicht besser, aber auch nicht schlechter, als die Capellen der Kunstpfeifer kleiner Landstädte in der Regel zu sein pflegen. Jean Weitzmann selbst, der handlich Geige strich und etwas zu dirigiren verstand, hatte die Oper mit der Capelle einstudirt, der alte Kunstpfeifer sammt seinen Gesellen und Lehrbuben gaben sich die möglichste Mühe, zahlreiche Proben waren gehalten worden - die Execution der Ouverture schon befriedigte die Musikverständigen und selbst die, welche damals die Oper in Anklam mit Brökelmann’s trefflicher eigenen Capelle gehört und mit einer gelinden Voreingenommenheit gegen die hiesige Darstellung in den Saal gekommen waren.

Jean Weitzmann, mit einem sehr kräftigen und ausgiebigen, wenn selbstverständlich auch nur durchaus naturalistischen Baß begabt, sang den Kaspar, sein jüngerer Bruder Robert mit einer ansprechenden, weichen Tenorstimme den Max; den Kilian ein

Herr Julius, der in seinem charakteristischen Costüm und mit seiner

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_490.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)