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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

in Empfang zu nehmen und weiter zu fahren, stellten sich in Positur, und – da erscheint er, der schauerliche kleine Wagen, und drinnen liegt ein schwarzer, von der Verwesung zersetzter, schon halbzerbröckelter, pestilenzialische Dünste aushauchender Gegenstand, der noch vor wenigen Tagen ein athmender, vielleicht fröhlicher und glücklicher Mensch gewesen ist! Der Anblick ist so grauenhaft, so über jede Beschreitung entsetzlich, daß Einem förmlich das Blut in den Adern stockt und man seiner Nerven ziemlich sicher sein muß, um es zu wagen, sich dem Eindrucke länger auszusetzen.

Acht der Verunglückten oder vielmehr, was von ihnen noch übrig war, habe ich auf diese Weise an’s Tageslicht schaffen sehen, doch nur ein einziger der emporgewundenen Körper hatte noch eine einigermaßen erkennbare Menschengestalt, alle anderen waren nur Menschenbrocken; bei dem Einen fehlte der Kopf gänzlich, bei einem Anderen war er bereits so in Fäulniß zerflossen, daß sich kein Theil desselben mehr unterscheiden ließ; bei einem Dritten war der Kopf zu einer mumienhaften Winzigkeit zusammengeschrumpft, ohne daß ein Zug des Gesichtes wahrnehmbar blieb; dem Vierten fehlten Arme und Beine, sammt und sonders aber sahen sie so tiefschwarz aus wie die dunkelste Pechkohle, welche die Armen jemals losgehauen hatten, und überall quoll schon die Jauche der Verwesung heraus.

Ich will die Leser der Gartenlaube nicht mit noch detaillirterer Ausmalung dieser Schauerbilder foltern, nur das muß ich noch hinzusetzen daß, da bei der in der Tiefe herrschenden großen Hitze die Verwesung auf das Rapideste fortschreiten muß, von Stunde zu Stunde die Leichenaufförderung schwieriger wird und schließlich nur noch einzelne kleine Stücke der einstigen Menschenkörper oder widerliche Breimassen an die Oberfläche kommen werden. Von einem Recognosciren dieser Trümmer kann selbstverständlich nicht mehr die Rede sein, es ist darin sicher nur zu loben, daß die leitenden Behörden, wie ich schon bemerkte, auch die Angehörigen der Verunglückten so viel wie möglich von Ort und Stelle fern zu halten trachten. In den letzten Tagen hat man denn auch keinen dieser kleinen Leichenwagen zu Tage gebracht, den man nicht schon unten sorgfältig mit einem Tuche bedeckt hätte, um den entsetzlichen Anblick allen Augen zu entziehen.

So wie einer dieser traurigen Transporte aus dem Gestelle genommen war, fuhr man ihn auf den zur Förderung der Hunde dienenden Eisenschienen schleunigst dem nahen Kohlenschuppen zu. Hier ward er „ausgeschüttet“ und, so schnell wie es sich nur immer thun ließ, ohne alle sonst üblichen Proceduren, in einen der bereit gehaltenen Särge geworfen, von denen die Tischler der gesammten Nachbarschaft immer neuen Vorrath nach Segen-Gottes schaffen. Unmittelbar hinter dem Schuppen aber waren einige zwanzig Menschen beschäftigt, aus dem harten Gestein eine große Grube auszuhauen, und zwischen diesen Steinen, nicht in die weiche Erde, werden nun, nachdem, wie es anfangs geschah, die Bestattung auf dem Friedhofe von Döhlen längst nicht mehr möglich ist, die armen Häuer und Förderleute zum letzten Schlummer gebettet. Unaufhörlich folgen sich hier die Leichenzüge; sang- und klanglos tragen stämmige Männer schnellen Schritts den Sarg heran und schieben ihn dicht an den vorhergehenden zwischen die Steine, während die Hacken der Arbeiter rüstig fortpicken, das Leichenfeld zu erweitern, um für neue Schläfer Raum zu gewinnen. Als ich am Rande des schauerlichen Massengrabes stand und schmerzbewegt und von Grauen erfüllt die Reihe der Särge überschaute, so weit die Steinschicht sie nicht schon dem Blicke verbarg, waren ihrer neunundvierzig, die im Kalke bei einander standen. Drüben am andern Ufer schauten einige wenige Gruppen von Männern und Frauen in dumpfem Weh in die Grube hinab, – es war, als wenn das Grausen auch ihnen jeden lauten Ausbruch des Kummers erstarren machte. Nur zwei junge Männer, augenscheinlich keine Bergleute, schrieen laut auf vor Schmerz und wühlten sich verzweiflungsvoll in den blonden Haaren.

„Denken zu müssen,“ stöhnte der Eine, „daß unter diesen gräßlichen, schwarzen, verkohlten, verstümmelten Leichen unser Vater ist – ach, Du Gott da oben, wie kannst Du uns das auferlegen!“

Ich frug einen der Umstehenden, wer die jungen Leute seien; es waren die Söhne eines Hauers vom Segen-Gottesschacht, dessen Leiche man nach einigen Anzeichen allerdings mit ziemlichem Grunde in einem der letzten Särge vermuthen konnte.[1]

Die Ausdünstung wurde von Minute zu Minute entsetzlicher, so entsetzlich, daß ich noch am Abende, in stundenweiter Entfernung den Geruch des Pesthauchs in meinen Kleidern hatte, trotzdem, daß durch Ausgießung verdünnter Carbolsäure sowohl unten im Schacht selbst, als oben bei den Leichen alles Mögliche für Desinfection – auf sanitätspolizeiliche Anordnung – geschah. Auch meines Bleibens am Orte des Grauens konnte nicht länger sein, ich warf noch einen Blick auf Grab und Kaue und schritt, unter einem heranziehenden Gewitter, bei den Stößen eines heftigen Wirbelwindes, welcher der Scenerie etwas noch Unheimlicheres verlieh und die Schwefeldünste aus den Coaksöfen weit über die Hochfläche jagte, daß mir schier der Athem verging, nach Burgk hinab. Unten auf einer Wiese am Fuße des Windbergs, da wo der Weg nach dem Dorfe einbiegt, saß eine ältliche Frau. Der Regen begann in großen Tropfen zu fallen, Blitz auf Blitz zuckte über den westlichen Himmel, und krachend dröhnte der Donner – sie achtete dessen nicht, sie achtete auch nicht aus die Bemühungen eines neben ihr stehenden Bergmanns, der sie aufzurütteln und mit fortzunehmen strebte. Den Kopf in die Hände vergraben, schluchzte sie krampfhaft, so daß sie von Zeit zu Zeit in die Höhe fuhr von der Erschütterung, die sie durchbebte. Leise näherte ich mich und sprach mit ihrem Begleiter: die Unglückliche hatte Mann und Sohn in der noch unzugänglichen Tiefe des Neuen-Hoffnungsschachtes liegen und ihren zweiten Sohn nur dadurch erhalten, daß ihn seit längerer Zeit – unheilbares Siechthum an’s Krankenlager fesselte!

Das sind nur wenige einzelne Beispiele des namenlosen Elends, welches der unheilvolle zweite August über den kleinen Bezirk von kaum zwei Stunden heraufbeschworen hat.

Ehe freilich diese meine Zeilen, die ich beklommen von dem Geschauten und Erlebten an Ort und Stecke niederschrieb, im Druck dem Publicum vorliegen, hat die Presse längst bis in die entlegensten Winkel unseres Vaterlandes hinein und weit über dasselbe hinaus ausführliche Meldung gethan von dem vernichtenden Naturereigniß; ich konnte mich daher blos auf ein Gesammtbild desselben und seiner Wirkung und auf Schilderung einzelner Scenen und Erscheinungen beschränken, wie sie mir persönlich entgegengetreten sind.


Tausend Wittwen und Waisen in einem Augenblick!

Fast um das Dreifache gräßlicher, als es vor dem Unglücksschacht zu Lugau war, ist über dem kohlenreichen Schooße des Windbergs bei Potschappel das Jammern des Elends und der Schrei der Verzweiflung. Von den viertausend Bergleuten des Plauenschen Grundes, jenes Natur- und Industrieparadieses in Dresdens Nähe, hat der alte Feind des Bergmanns, das böse Wetter, ihrer 274 mit einem Schlage vernichtet! Die Männer, die Väter, die Brüder, all’ die rüstigen Ernährer alter Eltern und hülfloser Weiber und Kinder, am zweiten August früh vier Uhr aus vielen Ortschaften des Grundes zur Tagesschicht herbeigeeilt, lagen schon um fünf Uhr todt in ihren beiden großen Gräbern, den zwei Nachbarschächten, deren Namen lauten: „Neue Hoffnung“ und „Segen Gottes“!

Hoffnung und Gottes Segen für tausend Wittwen und Waisen! Sind ehedem beide Gruben Beides gewesen vor der entsetzlichen Stunde, so wird für die Unglücklichen jetzt der älteste und tiefste Schacht der Hoffnung und des Segens, das liebevolle Menschenherz, sich öffnen und Trost und Hülfe durch dieselbe Hand der Wohlthätigkeit spenden, welche einst in Lugau so viele Thränen getrocknet hat. – Die Gartenlaube nimmt den alten Opferstock vor und bittet ihre Freunde und Leser um ihre Gaben!

Die Redaction der Gartenlaube. 




Vor Erscheinen des obigen Aufrufs gingen an Beiträgen bereits ein: Dr. A. Fränkel 3 Thlr. – Redaction der Gartenlaube 100 Thlr. – Familie K. 5 Thlr. – Prof. Bock 10 Thlr. – A. Fischer 7 Thlr. – A. Wiede 10 Thlr. – W. Schuwardt 1 Thlr. – Dr. Fr. Hfm. 3 Thlr. – Sammlung im Verein deutscher Locomotivführer während der Zusammenkunft in Leipzig 14 Thlr. 15 Ngr. – N. H. 2 Thlr. – A. St. in Göttingen 1 Thlr. – S. in E 2 Thlr. – C. S. 15 Ngr. – Sammlung gelegentlich eines Familienfestes in Schöneck i. S. 6 Thlr. 10 Ngr. – Ertrag einer Sammlung im Hôtel de France in Baden-Baden 100 fl. rhein. (57 Thlr. 4 Ngr. 3 Pf.) – Sammlung bei einem kleinen Festessen der Schützengesellschaft in Königssee 16 Thlr. – Ertrag eines vom Charakterkomiker Ad. Fleischmann aus Nürnberg im Schützenhause in Leipzig gegebenen Concerts 21 Thlr. 18 Ngr. – L. A. k. in Forst 1 Thlr. – X. Y. 3 Thlr. – (Summa: 264 Thlr. 2 Ngr. 3 Pf.)

  1. Wir werden unseren Lesern eine an Ort und Stelle aufgenommene Abbildung dieses Begräbnisses in Holzschnitt und dann auch noch in einem Nachtrag zu dem Berichte Manches mittheilen, was hier aus Raummangel zurückgelegt werden mußte oder noch nicht ermittelt war.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_544.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)