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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 36.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.

Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Der Schultheiß las den Brief. Seine Miene nahm dabei einen Ausdruck tiefen Ernstes an – er las still bis zu Ende, dann sagte er aufschauend:

„Und hat der Schreiber dieses Briefes denselben Ihnen übergeben, um ihn mir zu bringen? Sie sind französischer Soldat – wie ist das, wie hängt das zusammen?“

„Ein Camerad hat ihn mir übergeben,“ erwiderte Wilderich, „der …“

„Lassen Sie mich, bitte, den Brief sehen,“ unterbrach Duvignot, indem er ohne weiteres dem alten Herrn den Brief aus der Hand nahm und zu überfliegen begann.

„Es ist seltsam,“ fuhr der Schultheiß fort, „der Brief muß dann aufgefangen und in Hände gekommen sein, für die er nicht bestimmt war – wie kann ein französischer Soldat ihn mir bringen …“

„Beruhigen Sie sich mein Herr Schultheiß,“ fuhr hier Duvignot scharf dazwischen, „der Mann ist kein französischer Soldat – er ist ein österreichischer Spion, und dieser Brief beweist mir, daß Sie mit unseren Feinden in heimlicher Verbindung stehen! Man rechnet auf Ihre Beihülfe, Ihren Verrath, um dem Feinde Frankfurt in die Hände zu spielen. Und wer Ihnen dies schreibt, ist der Erzherzog Reichsfeldmarschall selbst!“

„Mein Herr General,“ fuhr der Schultheiß erschrocken auf, „ich muß Sie bitten …“

„Es thut mir leid,“ fiel ihm der General in’s Wort, „Sie sind ein Mann, den ich als sein Gast schon zu achten habe; ich bin Ihnen Dankbarkeit schuldig für das Wohlwollen, das Sie mir schon vor Jahren, als ich unter Custine’s Truppen Ihre Stadt betrat und Ihr unfreiwilliger Gast wurde, mit so vieler Urbanität zeigten … aber meine Pflicht geht über meine persönlichen Gefühle … ich muß Sie vor ein Kriegsgericht stellen lassen, Herr Schultheiß …“

Der Schultheiß war todtenbleich geworden.

„Wenn Sie mich achten,“ sagte er, „so werden Sie mir auch glauben – ich bin kein Verräther – dies Schreiben ist an mich gerichtet ohne mein Wissen und Wollen – dieser Mann dort kann kein Spion sein, denn …“

„Kein Spion? Wir werden das sehen!“ rief Duvignot, sich zu Wilderich wendend, aus. „Wer seid Ihr? Ihr werdet nicht länger behaupten, daß Ihr französischer Soldat seid! Ihr seid ein Deutscher – das habe ich an Eurer Sprache erkannt! Nun wohl, wir haben auch Deutsche unter unseren Fahnen. Aber die Chasseur-Abtheilung, zu der Ihr gehören wollt, steht nicht in Hanau; ich traf sie gestern auf dem Marsch nach der Wetterau – sie gehört nicht zu Ney’s Division, ich kenne keinen de la Rive. … Wie war gestern Eure Parole? Seht ihr, Ihr wißt das nicht! Ihr hättet Euch vorher besser über Eure Rolle unterrichten sollen, bevor Ihr wagtet, sie zu übernehmen. Sie sehen, Schultheiß, daß ich Recht habe – dieser Mann ist kein französischer Soldat, er ist ein österreichischer Spion. Ich denke, dieses Schreiben hier, dies Schreiben in seinen Händen ist Beweis genug …“

„Beim lebendigen Gott,“ rief Wilderich hier stolz und entrüstet aus, „Ihre Beschuldigung ist falsch und ungerecht, Herr General – ich bin kein Spion, und dieser Herr hier, den ich in einen so unseligen Verdacht bringe ist völlig unschuldig … ich bin kein Franzose, ich gestehe das offen ein, ich bin der Revierförster Wilderich Buchrodt vom Rohrbrunner Revier im Spessart – ein Mann, den noch Niemand einer schlechten Handlung wie die, den Spion zu machen, fähig gehalten hat.“

„Förster aus dem Spessart, in der That?“ fiel Duvignot ein, „… einer von den Leuten, mit denen wir eine so schwere Rechnung auszugleichen haben! Doch enden wir,“ fuhr er, wie eine innerliche Erregung niederdrückend und stoßweise fort, „Herr Schultheiß, ich muß thun, was der Dienst mir gebietet. Ich bin gezwungen, Ihnen anzukündigen, daß Sie diese Zimmer nicht zu verlassen haben, bis weiter über Sie verfügt wird. Den Mann dort wird man zur Constablerwache führen. Der Brief bleibt in meiner Hand!“ –

Der General wandte sich rasch und ging – so rasch, als wolle er sich der peinigenden Scene, der Pflicht, die er gegen seinen Gastfreund zu erfüllen hatte, so bald wie möglich entziehen. Wilderich hätte ihm nachrufen mögen. ‚Halt – warten Sie – ich habe einen Preis, um den Sie abstehen werden von diesem entsetzlichen Verfahren wider zwei Unschuldige‘ – aber eben so rasch fuhr ihm der Gedanke durch’s Hirn, daß der französische Gewalthaber alsdann ihm einfach seine Briefe werde nehmen wollen, wie er den Brief des Erzherzogs genommen, ohne dafür das geringste Zugeständniß zu machen – und dann, wie konnte Wilderich von diesen Briefen in Gegenwart des Schultheißen reden, sie zeigen … wer war die Frau, die sie an den General geschrieben? war es nicht das eigene Weib des Schultheißen? sollte er dem alten gebrochenen Manne die Schmach anthun – und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_561.jpg&oldid=- (Version vom 22.4.2020)