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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

In der That, man braucht nur die Namen der Componisten zu nennen, deren Hauptwerke sowohl a capella als in Verbindung mit dem Gewandhaus-Orchester und theilweiser Heranziehung auswärtiger Solosänger seit einem Decennium an uns vorüber geführt worden sind, um diesen Ausspruch vollkommen gerechtfertigt zu finden. Außer Bach und Händel sind in den reichhaltigen Programmen u. A. vertreten die früher nur den Namen nach bekannten Italiener Palestrina, Lotti, Allegri, Nanini, Clari, Caldara, Astorga, Vittorin, Marcello, Pergolese, Gabrieli, Durante und Leo; nicht weniger die gänzlich unbekannten Componisten Deutschlands aus dem sechzehnten und

Karl Riedel.

siebenzehnten Jahrhundert, Enard und Stobens, Prätorius und Leo Haßler, Melchior Frank und Heinrich Schütz. Von allen diesen Schätzen alter Kirchenmusik, die sich seit mehr als vier Jahrhunderten angesammelt haben, hätten wir in Leipzig ohne jenen Verein, aller Wahrscheinlichkeit nach, und wie die Verhältnisse nun einmal lagen, keine Note zu hören bekommen. Das war nur möglich durch einen Verein, als dessen hervorragendste Eigentümlichkeit es betrachtet werden muß, daß er mit Unerschrockenheit, mit Liebe und Sorgsamkeit sich derjenigen Werke annimmt, welche seitens der Sänger ihrer schwierigen Ausführung wegen, seitens des Publicums wegen schweren Verständnisses oder wegen noch nicht feststehender Anerkennung durch die Kenner und die Kritik, als undankbare Aufgaben bezeichnet zu werden pflegen.

Fragen wir zunächst: Wer sind die Sänger, die zum Beispiel Bach’s „Hohe Messe“, dessen Actus Tragicus, seine „Trauerode“, Beethoven’s „Missa solemnis“, Liszt’s „Grauer Messe“, welche Bach’s Motetten, ohne Begleitung, welche a capella die Werke der alten Deutschen und Italiener, die dreichörigen Gesänge eines Gabrieli, das doppelchörige „Stabat mater“ von Palestrina, das berühmte „Miserere“ von Allegri – Aufgaben der strengsten und allerschwierigsten Art für den gemischten Chorgesang – fast durchgängig in trefflicher, innerlich warmer, künstlerisch würdiger Weise zur Darstellung bringen? so darf man sich wohl verwundern, wenn man hört: es sind meistens Dilettanten, wohl über zweihundert Männer, Frauen, Jünglinge, Jungfrauen und Knaben, die den verschiedensten Berufskreisen angehören – vornehme Stände, bürgerliche Familien, Mittelstand, selbst ärmere Classen sind vertreten. Hier herrscht keine gesellschaftliche Exklusivität, vielmehr die wahre Demokratie auf dem Gebiete der Kunst! Oft schon hat man das schnelle Emporblühen des Riedel’schen Vereins, seinen Fleiß, sein energisches Vorwärtsstreben guten Statuten zugeschrieben, indessen, so wenig man auch im Allgemeinen Gesangvereine ohne feierliche Namengebung und Statutenentwerfung, ohne General-Versammlungen und Diskussionen sich vorstellen kann, der Riedel’sche Verein hat zur Zeit nicht einen Paragraphen Statute, er hat keine Besprechungen, keine Haupt- oder General-Versammlungen, ebenso wenig einen Vorstand, ein Comité oder ein Direktorium – er hat blos einen Dirigenten, welcher dies Alles in Allem ist.

Jedermann begreift, daß es nicht so leicht gewesen sein muß, einen aus so verschiedenen Bildungskreisen zusammengesetzten Verein zu errichten, zu vergrößern, zusammenzuhalten, ihn dahin zu bringen, ein den Neigungen des gewöhnlichen Dilettantismus so sehr widersprechendes Princip mit Eifer zu verfolgen.

Faßt man alle diese Umstände zusammen, so wird Niemand bestreiten, daß wir hier der That nach den Dilettantismus in der edelsten und achtungswerthesten Erscheinung vor uns haben. Wahrlich, wenn einer, so darf dieser Verein mit Stolz auf sein reines und uneigennütziges Streben blicken, das weit über all’ jenem Thun steht, welches die Musik nur als Luxus-Artikel betrachtet und lediglich zu leichtem Vergnügen betreibt.

Wie aber, muß man fragen, hat sich eine anfänglich so bedeutungslose Gesellschaft von Musikdilettanten in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu so hervorragenden, wirklich künstlerischen Productionen emporschwingen können? Gewiß nicht ohne eine an der Spitze stehende, ungewöhnlich begabte, leitende, lehrende, organisirende Kraft. Eine solche besitzt der Verein in seinem Dirigenten Karl Riedel. Aber sonderbar! Wie die in musikalischer Hinsicht geringen Elemente, aus denen sich der Verein zusammenthat, anfänglich nichts weniger als die hohen Leistungen ahnen ließen, zu denen sie sich später erhoben, so schien auch der junge Gründer des Vereins – eben der jetzige Dirigent – seinen Antecedentien zufolge auf den ersten oberflächlichen Blick in der Musik kaum eine besondere Wirksamkeit gewinnen zu können. Sein Lebensgang lag in der Jugend so weit ab von seiner späteren Bestimmung, daß weder er selbst, noch irgend Jemand hätte vermuthen können, er werde sich auf dem Felde der Kunst einen Namen erwerben.

Riedel war von Haus aus Seidenfärber. Die Färberei hatte er, ein geborner Rheinpreuße, in Crefeld erlernt, von wo er nach längerer Beschäftigung in der Schweiz sich Lyon zuwenden wollte, als das verhängnißvolle Jahr 1848 ihn zurücktrieb. Die Geschäftslosigkeit, welche in Folge der in Frankreich ausgebrochenen Revolution entstanden, war für ihn Veranlassung, einen anderen, ihm mehr zusagenden Beruf zu wählen, als den nun fünf Jahre lang betriebenen. Er entschied sich für die Musik, von der er zwar Gründliches noch nicht wußte, zu welcher er sich aber sehr hingezogen fühlte. Diese Neigung war besonders durch die Lieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_565.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)