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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

von Franz Schubert geweckt worden, die ein mit hübscher Tenorstimme begabter Mitarbeiter ihn kennen gelehrt hatte. Ein nur halbjähriger Unterricht bei einem tüchtiger Musiker, dem bekannten jetzt in Schmalkalden lebenden Componisten Karl Wilhelm, brachte ihn so weit, daß er 1849 in’s Leipziger Conservatorium eintreten konnte, dessen Cursus er durchmachte, um darnach neben seiner bereits errungenen Stellung als Musiklehrer die Leipziger Universität zu frequentiren. Während er mit Energie und eisernem Fleiße seiner neuen Thätigkeit sich hingab, fühlte er sich immer wie von einem dunkeln Punkte durch die damals noch sporadischen Nachrichten angezogen, welche er über die Compositionen Palestrina’s und der alten Italiener vernahm. Es wuchs in ihm der Drang, durch eigene Wahrnehmung sich Kenntniß zu verschaffen von der als wunderbar gepriesenen Wirkung dieser Schöpfungen, und schon 1853 faßte er den Entschluß, einen Männergesangverein zu dem Zwecke gründen. Die Ausführung gelang indessen nicht.

Riedel machte sich die gewonnene Erfahrung gleich zu Nutze. Mit einem im Mai 1854 zusammengetretenen einfachen gemischten Quartett, welches sich unter seine Leitung stellte, übte er gute, in die Ohren fallende Gesänge von Hauptmann, Mendelssohn, Schumann ein und vermied es, eine andere bestimmte Tendenz auszusprechen, als die, guten musikalischen Genuß zu verschaffen. Dabei wurde der Grundsatz aufgestellt, sich ganz anspruchslos zu geberden und alles Ostensible fern zu halten. Von nun an entwickelte sich schnell Riedels Lehr-, Directions- und Organisations-Talent. Am Ende des ersten Vereinsjahres war die Gesellschaft bereits von vier auf sechsunddreißig Mitglieder angewachsen und mit drei sorgfältig einstudirten Programmen vor Privatkreisen hervorgetreten. Mit der wachsenden Mitgliederzahl und dem gewonnenen Erfolge stellte sich Riedel wiederum das höhere, ideale, nicht vergessene Ziel vor Augen. Seinem Blick blieb nicht verborgen, daß in Leipzigs Musikleben, so reich es schon lange nach allen Seiten der weltlichen Musik sich entfaltet hatte, die Pflege der religiösen Tonkunst, besonders der alten Kirchenmusik vernachlässigt war. Diese Lücke mit seinem Verein auszufüllen, entsprach ja ganz und gar seinen geheimen Neigungen und würde ihm immer mehr bestimmtes Ziel. Doch manches Hinderniß stellte sich der Verwirklichung seines Planes noch entgegen.

Das nächste und schwerste bereiteten ihm die Mitglieder selbst. So lange diese nur weltliche Quartette ausführten, wozu ihre musikalische Bildung und ihr gegenwärtiger Geschmack hinreichten, deren Studium ihnen zudem verhältnißmäßig leicht wurde, fanden sie Vergnügen und Befriedigung an ihrer Thätigkeit und waren leicht dabei festzuhalten. Wie aber dieselben geneigt und willig machen, dies angenehme, Allen verständliche[WS 1] Gebiet der Modernen Gesangmusik zu verlassen und dafür das ernste, schwere, „gelehrte“ der kirchlichen Tonkunst zu betreten, das Allen so ferne lag, dem der sinnlich heitere Reiz abging, für das sie noch keine Bildung und wenig Verständniß hatten? Welche Mittel standen Riedel zu Gebote, um einen solchen totalen Umschwung zu bewirken? Die Mitglieder wurden ja nicht besoldet, sie konnten durch kein Gebot gezwungen werden, sie waren lauter selbstständige Personen, denen der Dirigent nicht das Geringste zu befehlen hatte, denen nur durch Wünsche beizukommen war. Riedel’s Befürchtungen waren in der That nicht unbegründet. Als er versuchsweise die Stimmen zu Palestrina’s Motette „die Improperien“ vorlegte (welche jeden Charfreitag in der Sixtinischen Capelle zu Rom gesungen wird, und die durch ihre einfache, rührende Schönheit Palestrina’s Ruhm gegründet), mußte er die Uebung abbrechen, weil die Damen ob dieses ihnen ganz sonderbar und ungewohnt vorkommenden Musikstyls in lautes Lachen ausbrachen und vor Heiterkeit nicht weiter singen konnten. Diese Motette ist jetzt ein Lieblingsstück des Riedel’schen Vereins.

Riedel ließ sich durch diese Erfahrung nicht abschrecken. Denn es ist eine falsche Annahme, wenn man der Menge im Allgemeinen Unempfänglichkeit und Theilnahmlosigkeit für höhere künstlerische Interessen vorwirft. Es komme nur der rechte Mann, der sie dafür zu erwärmen, zu entzünden und die Flamme dann zu unterhalten versteht, so schmilzt das spröde Material und läßt sich in die gewünschte edlere Form bringen. Ein solcher Mann ist Riedel.

Nachdem auch der zweite Versuch mißglückt war, fing er die Sache auf andere Weise an. An den gewöhnlichen Uebungen setzte er nach wie vor die Quartette von Hauptmann, Gade etc. auf die Tagesordnung und wußte seine Mitglieder in der besten Laune zu erhalten. Sonntags Nachmittags aber versammelte er einige wenige Mitglieder um sich, auf deren ernsten musikalischen Sinn und persönliche Anhänglichkeit er vertrauen konnte. In Wahrheit folgten sie ohne irgend welches Schwanken Riedel’s musikalischer Leitung in eine ihnen ganz neue Welt, und halfen ihm die „große Revolution“ vollbringen, durch welche der Riedel’sche Verein zu wirklich musikalischer Bedeutung gelangte.

Nachdem dieser Nebenverein Bestand gewonnen hatte, wurden auch zu ihm ganz vereinzelt und mit großer Vorsicht andere Mitglieder hinzugezogen und für „das neue Streben nach dem Alten“ gewonnen. Ein vollständiges Concertprogramm wurde vorbereitet. Als Riedel sich so den Rücken gedeckt hatte, offenbarte er in einer Uebung des größeren Vereins, daß er mit mehreren Mitgliedern eine Aufführung alter Kirchenmusik veranstalten werde, daß er sämmtliche Mitglieder zur Betheiligung einlade, und die Uebungen zeitweise nur für diese Absicht bestimme. Dieser bereits halb zur Thatsache gewordene Versuch fand nun ganz andere Theilnahme und viel mehr Beifall, als die früheren Sondirungen. Wer auch etwa innerlich, der „trockenen“ alten Musik glaubte abhold sein zu müssen, mochte doch nicht bei einer Unternehmung zurückstehen, welche jedenfalls Interesse zu erregen geeignet war.

Das Concert fand an einem Novembermorgen 1855 in der Centralhalle vor einem gewählten Publicum statt, gelang vollkommen, rief große Sensation hervor, fand allgemeinen Beifall und war für die Pflege der alten Kirchenmusik in Leipzig von durchschlagendstem Erfolge. Jetzt hat Riedel seine Sänger im richtigen Fahrwasser, und seitdem vertraute die Masse derselben seiner Leitung unbedingt, wenn es auch noch manchmal galt nach unbekannten Zonen zu steuern. Dennoch verfuhr er vorsichtig. Die weltliche Musik setzte er nicht so leicht bei Seite und wählte von alter Musik anfänglich nur solche Sachen, welche ein Anknüpfen an das Empfindungsleben des jetzigen Publicums gestatteten. Auf dem Programm gab und giebt er biographische und musikalische Notizen über die Componisten und deren Werke, wo nöthig, über Letztere Erläuterungen, statt des lateinischen Textes der älteren Compositionen ließ er deutsche Worte singen, welche Uebersetzungen er selbst unterlegte (eine Arbeit, deren Mühe Kenner zu schätzen wissen werden); vorzüglich dadurch gewannen Sänger und Hörer, deren kleinster Theil nur Latein verstand, ein warmes Interesse für die alten Tonstücke. Obwohl selbst die besten deutschen Uebersetzungen dem Sänger nicht die Schönheit und Bequemlichkeit der lateinischen Spräche ersetzen können, so ist doch die lebendig wirkende Muttersprache bei Weitem mehr geeignet, die Sänger in ein neues Werk sich einleben zu lassen und den Hörern das schnelle unmittelbare, nicht erst durch Vergleichung mit der beigedruckten Uebersetzung gesuchte Verständniß zu erleichtern, als die schönste fremde Sprache.

Ein Hauptmittel ferner, freilich ein mit großen Opfern für ihn verbundenes, schuf Riedel sich dadurch, daß er die musikalischen Kräfte seiner Mitglieder steigerte und so durch die Erkenntniß der großen Fortschritte, welche sie in der Ausführung ihrer schweren Aufgabe machten, ihren Eifer weckte, erhöhte und festete. Er gründete Vorbereitungscurse und besonders wöchentliche Privat-Uebungen für die Damen, zog Knaben aus Bürgerfamilien herbei, um für diejenigen alten Compositionen, welche für tiefe Stimmlagen geschrieben sind, die richtige Klangfarbe in Sopran und Alt zu gewinnen, gab vielen der Knaben unentgeltlichen Unterricht und ließ sie nach absolvirtem Vorbereitungscursus in den Verein treten. Manchen diesen Knaben erblickte man nach seiner Mutation als eifrigen und geschickten Sänger im Tenor oder Baß des Riedel’schen Vereins. Als Beweis, wie unablässig er sann, seine Mitglieder weiter zu bilden und sie für das Edle in der Musik immer mehr zu erwärmen und zu begeistern, mögen auch die Kammermusik-Unterhaltungen dienen, welche er seit einer Reihe von Jahren an Sonntagnachmittagen eingeführt hat. Hier werden gute Werke der weltlichen Musik, Streichquartette, Claviertrios, kleine Chöre, Lieder von ausgezeichneten Musikern, Virtuosen und Gesangssolisten blos für die activen Mitglieder und deren nächste Angehörige aufgeführt. Riedel’s Absicht ist dabei: die Vereinsmitglieder mit den besten musikalischen Erzeugnissen der Instrumental-Kammermusik sowie des großen deutschen Liederschatzes aus alter und neuer Zeit bekannt zu machen, ihr Interesse und ihren Geschmack auch nach Seite der weltlichen Musik hin zu erweitern und zu veredeln, sie dadurch vor der Einseitigkeit zu bewahren, welche eine zu ausschließliche

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verändliche
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_566.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)