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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Beschäftigung mit Kirchenmusik herbeiführen könnte, dann auch, ihnen für die mannigfachen Anstrengungen in den Proben eine angenehme und zugleich würdige Erholung als genießendes Publicum zu gewähren.

Während Riedel im Laufe der Jahre noch oft mannigfache Bedenken seiner Mitglieder zu beschwichtigen hatte, gelang es ihm doch, die Uebungen fortwährend auf nahe Ziele hinzulenken, eine Aufführung nach der anderen vorzubereiten, diese dem größeren Publicum zugänglich zu machen und seine Mitglieder an die frische Luft der Oeffentlichkeit zu gewöhnen. Die Programme des Riedel’schen Vereins weisen es aus, daß nichts Bedeutungsloses mehr unternommen wurde. Jedes Programm wurde genau überlegt und zusammengestellt, musikalisch sorgfältig vorbereitet und gut ausgeführt. Nach jeder beendeten Aufführung, begannen sofort die Vorbereitungen zur nächsten, und dem Umstande, daß der Riedel’sche Verein seine Kräfte niemals vergeudet hat, daß er sie niemals hat erschlaffen lassen, daß jede seiner Aufführungen – man darf es wohl sagen – von hohem, oft höchstem Interesse war, daß bei aller Strenge und Einheit im Ganzen es an Abwechselung nicht mangelte, daß sowohl dem Alten wie dem Neuen Rechnung getragen wurde, diesem Umstande, dieser Intensität, seines Wirkens hat es der Riedelsche Verein zuzuschreiben, daß sein Alter scheinbar ein weit größeres ist, als in Wirklichkeit.

Es soll hier nicht die Geschichte des Riedel’schen Vereins geschrieben werden, obschon dieselbe jedem von Interesse sein würde, dem es Freude gewährt, die energisch und intelligent betriebene Durchführung einer glücklichen Idee aus den kleinsten Anfängen bis zu bedeutungsvoller Entwickelung zu verfolgen. Es kann deshalb auch nicht näher dargelegt werden, wie Riedel seine ideellen Bestrebungen immer mehr praktisch verwirklichte, wie er sich ein Dilettanten-Orchester schuf, andere Orchester heranzog, als ersteres nicht mehr ausreichte, endlich mit dem berühmten Gewandhaus-Orchester sich verband, Solokräfte von nah und fern – viele mit berühmten Namen – aber nie zur Ostentation, sondern stets so verwandte, wie es allem der musikalische Zweck erforderte; wie er die mannigfachsten, immer neu emportauchenden Hindernisse – und oft Unglaubliche – überwand; wie es ihm durch geschickte Organisation gelang, auch die äußeren Verhältnisse des Vereins immer fester zu begründen, und andererseits aus den ab- und zuströmenden Sängerschaaren eine immer größere Anzahl heranzubilden, welche ihren Dirigenten auch innerlich unterstützte, seine Gedanken zu ihrem Eigenthum machte und Gehülfen seines Strebens wurden, des Strebens, sowohl die bedeutendsten größten und interessantesten monumentalen Werke der religiösen Tonkunst dem Volke zu vermitteln, als auch „Mitgliedern verschiedener Stände, besonders aber dem Mittelstande den veredelnden Einfluß ernsten künstlerischer Selbstthätigkeit zu erschließen“.

Damit die Aufführungen des Riedel’schen Vereins nicht nur betreffs der musikalischen Seite, sondern auch ihren äußeren Einrichtungen nach nicht als Luxus-Concerte erscheinen und wirken möchten, verlegte Riedel diese fast sämmtlich in die Kirche, wo bekanntlich jene äußeren Reizmittel selbst berühmter Concerte, z. B. Toiletten-Entfaltungen der Solistinnen wie der Zuhörenden, gänzlich wegfallen; die Kirche gestattet ferner im Gegensatz zu den weniger Raum bietenden Sälen die Zulassung von vielen tausend Hörern. Die von Riedel eingeführte Einrichtung, daß jedes seiner activen Mitglieder eine reichliche Anzahl Billets zum Vertheilen an Verwandte und Bekannte ausgiebt, sichert zugleich den thatsächlichen Einfluß der von ihm vertretenen Musik auf die große Menge und sogar auf diejengen, denen die theueren Saal-Concerte von selbst sich verschließen. Diese Zulassung großer Massen zu Chor-Concerten ist zugleich auf die richtige Erkenntniß berechnet, daß es leichter ist, an der Hand eines Allen verständlichen Textes selbst schwer aufzufassende Chorwerke einem ausgedehnten Kreise verschiedenster Zusammensetzung populär zu machen, als ernstere Instrumentalwerke symphonischen und polyphonen Charakters. Die oben auseinandergesetzte Beschaffenheit der von Riedel ausgegebenen Programme trägt noch wesentlich dazu bei, sowohl das Publicum von vornherein für die aufzuführenden Werke zu interessiren, als das Verständniß derselben zu erleichtern.

Jedermann, der sich jemals mit Zustandebringen symphonischer Concerte beschäftigt hat, weiß, daß deren Herstellung ungemeine Kosten verursacht, daß aber Chor-Concerte, welche ja längere Vorbereitungen und mehr Proben erfordern, noch weit größere Summen in Anspruch nehmen. Nicht ohne Interesse ist es zu erfahren, in welcher Weise das Budget des Riedel’schen Vereins sich herstellt. Zuvor aber sei es gestattet, noch einmal auf den zu Anfang dieses Artikels erwähnten Schriftsteller Hector Berlioz zurückzukommen und eines seiner Aufsätze im „Journal des Débats“ zu gedenken, in welchem er unter Anderem folgende Fragen und Bemerkungen aufstellt: „Giebt es irgendwo in der Welt eine einzige der Musik oder der dramatischen Kunst geweihte Anstalt, die nicht zugleich eine Billet-Bude ist? die blos auf die Schönheit der Werke und die gewissenhafte treue Ausführung derselben sieht? deren Verwalter oder Direktor von vornherein auf die Einnahme verzichtet? Die Alten hatten in Hinsicht auf die großen Werke des menschlichen Geistes ganz andere würdige und erhabene Ideen, für sie war die Kunst kein Handelsgegenstand, keine feile Waare, deren Werth je nach dem Zudrang des Volkes zum Kaufen stieg oder fiel.“ – Der Riedel’sche Verein,“ dessen Existenz dem Herrn Berlioz wohl hätte bekannt sein dürfen, der Verein, welcher den Muth hatte (denn dazu gehört heutzutage – leider! – noch Muth), zum ersten Male des Franzosen großes Requiem vollständig und öffentlich in Deutschland aufzuführen, ist eine glänzende Beantwortung seiner Frage. Kein Direktorium ist vorhanden, welches für die Kosten einsteht; die Geldbeiträge der Sänger und einer verhältnißmäßig geringen Anzahl inactiver Mitglieder (Beiträge, deren Höhe nicht entfernt mit dem Einkommen etwa der großen Berliner Gesang-Institute zu vergleichen ist) bilden die regelmäßige Einnahme, reichen aber bei weitem nicht zur Deckung der Ausgaben hin; die Theilnahme des außerdem zahlenden Publicums ist nicht der Rede werth.

Während bei anderen musikalischen Instituten der Dirigent nur den rein musikalischen Theil zu besorgen, die Wahl der Tonstücke, die Proben, die Aufführungen zu leiten hat und dafür eine seine Existenz sichernde Besoldung erhält, während ihm die Ausführungsmittel, Orchester, Sänger gestellt und bezahlt werden und dafür seinen Anordnungen gehorchen müssen, fehlen Riedel alle diese Bedingungen. Er erhält kein Honorar, keine Geldentschädigung, er hat nicht nur die musikalische Directive, nicht nur die gesammte technische Verwaltung, sondern auch das ganze pecunäre Risico übernommen und behandelt in der That die Deckung des jährlichen Deficits als seine Privatangelegenheit. Und dies nur deshalb, damit der aus seiner Idee hervorgegangene Verein in seinem Streben sich rein erhalte, damit dessen Aufführungen kein Gegenstand der Spekulation, damit die aufzuführenden Werke nicht als „Handelsgegenstand“ vom Beifall der Menge, abhängig gemacht, sondern nur aus rein künstlerischen Gründen gewählt werden können. Und hierbei handelt es sich nicht um die Deckung von Kleinigkeiten, sondern höchst bedeutender Summen!

Die Thätigkeit, welche die gesammte Leitung und Verwaltung des Riedel’schen Vereins erfordert, ist der Natur der Sache nach eine weit umfassendere als die anderer Concert-Institute, welche nur mit den üblichen Werken sich beschäftigen. Welche Arbeit allein ist aufzuwenden, ehe nur ein kleiner jener alten Chorsätze in Besitz gebracht, richtig herausgefunden, mit deutscher Uebersetzung, mit den rechten Vortragszeichen versehen, in Chorstimmen hergestellt worden ist und so dem Sänger zum Beginn des Studiums vorgelegt werden kann! Man denke sich diese Vorbereitungsarbeit auf ein ganzes Programm ausgedehnt, auf ein umfangreiches Werk! Und dies ist nur ein kleiner Theil der nothwendigen Thätigkeit!

Aus allem bisher Mitgetheilten geht hervor, mit welcher gewaltigen Energie, mit welcher Opferfreudigkeit, Consequenz und Beharrlichkeit, mit welchem Aufwande enormer geistiger und körperlicher Kraft Riedel gewirkt haben muß, um einer geliebten Idee Lebensfähigkeit zu geben und zu erhalten. Ein solches Streben, der Chormusik die verbreitetste und idealste Wirkung abzugewinnen, würde auch dann, wenn Riedel dadurch seinen Lebensunterhalt sich erwürbe, etwas höchst Achtungswerthes nicht blos, sondern Erhebendes und Bewunderung Abnöthigendes haben. Um wie viel höhere Anerkennung zollen wir ihm aber, wenn wir erfahren, daß Riedel diesem Streben nur seine freien Stunden widmen kann, daß es nur eine Nebenbeschäftigung neben seinem Erwerbsberuf als Musiklehrer ist, der wir dies Alles verdanken! Möge dieses Verdienst seine Krone aus der Hand des Volks nicht entbehren, fürstlicherseits hat der kunstfreundliche Herzog von Altenburg Riedel zum Professor ernannt.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_567.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)