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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


„Ich muß scheiden, mein lieber Schultheiß … meine Zeit ist gemessen,“ sagte er. „Gott erhalte Sie und die Ihren, Gott erhalte Deutschland seine treuen und starken Männer, daß wir die Stürme, die noch kommen mögen, siegreich bestehen und einst so ruhig und glücklich darauf zurückblicken mögen, wie Ihr Haus es auf die Tage kann, die nun hinter Ihnen liegen!“

„Und Gott,“ flüsterte, während er vom Hausherrn und Wilderich geleitet ging, Marcelline still für sich, „Gott erhalte auch ihn – während er die Vaterstadt und meinen Gatten befreite, wurde ja auch ich frei von dem grauenhaftesten Irrthum und der entsetzlichsten Verirrung, die je ein armes schwaches Weib gefangen hielten!“




Die Wahltage im bairischen Gebirg.
Mit Abbildung.

Der Zusammentritt der bairischen Kammer, welcher vor Kurzem stattfand, lenkt die Aufmerksamkeit von neuem auf die Tage ihrer Wahl zurück. Eigentlich lebt man in Baiern still: das Naturell der Bewohner ist ein behagliches, die Physiognomie des Landes eine friedliebende. Ganz besonders gilt dies für Südbaiern, wo der Landbau vorherrscht, wo man den regsamen Lärm und die Strapazen der Industrie weit weniger kennt, als in Franken. Dennoch ist der letzte Frühling auch hier ein stürmischer gewesen: eine eigenthümliche Erregtheit, ein fast nervöser Zug ging durch das öffentliche Leben. Wer nur ein mäßiges Feingefühl für die öffentliche Stimmung besaß, der mußte dies fühlen, der mußte bemerken, daß die Atmosphäre entzündlicher geworden war. Dichter als sonst war der politische Stoff in der Luft gelagert und theilte sich auch denen mit, die am wenigsten politische Sensibilität besitzen – dem Bauernstande. So lagen die Dinge in Baiern zu Anfang Mai, als die Wahlen zum Landtag ausgeschrieben waren: die Urwahl auf den 12., die Hauptwahl auf den 20. Mai.

Wer in diesen Tagen durch die Gebirge ging, der konnte sich einem eigenthümlichen Eindruck nicht entziehen. Ueber Berg und Thal der erste Frühlingshauch. Die Luft war so licht und die Sonne so mild, blaue Blumen und keimendes Farrenkraut blühte am Wege. Auf dem Buchenzweig, der die ersten Knospen trieb, schaukelte der Fink, auf dem Boden, wo noch das Herbstlaub lag, raschelten die Thiere des Waldes. Wie klar und einfach ist dieses Werden, wie leicht sind die Athemzüge dieses Lebens! Und wie mühevoll gestaltet der Mensch sein Dasein; wie schwer und verwickelt sind die Gesetze, mit denen er Organismen schafft und die Gesammtheit zusammenhält! Dieser Gegensatz fiel scharf in die Sinne. Wenn man herauskam in’s Thal, wo die Menschen wohnen, ging eine andere Luft. Um eine Mühle, die im Thalgrund lag, war das Volk versammelt … die Schüsse krachten, die Jodler tönten, ein Festschießen ging zu Ende. Es war ein milder Abend im Mai, es war zur Zeit, wo noch keine Fremden im Gebirg weilten, wo das bäuerliche Element sich noch unbeengt und unverstellt bethätigen darf. Hier und dort standen Gruppen beisammen und ereiferten sich in lauter Rede. Man sprach von den Wahlen. Einzelne aus den älteren Männern hatten erklärt, daß sie diesmal freisinnig handeln wollten, weil sie einsähen, wie der Clerus ihre Unerfahrenheit mißbrauche. Sie sagten das ohne Erbitterung, aber mit jener starken unbiegsamen Zähigkeit, mit der der Bauer seine Entschlüsse bekundet. Mancher Neugierige schloß sich an, mancher, dem die Natur das Wort und die Gedanken versagt hatte, nickte befriedigt. Ueber der Mühle lag ein waldiger Hügel, nach welchem die kleine Schaar der Berathenden gezogen war. Hier fühlte man die stille ergreifende Mainacht, und unwillkürlich war es, als ob der Gedanke der Freiheit einen plötzlichen Zauber erhalten hätte. Grüne Matten flimmernde Sterne und dazu der schlichte Ernst der Worte, die hier gesprochen wurden, wie tief ging das zu Herzen! Mit gekreuzten Armen standen die kräftigen Gestalten im Kreise, und dann drückten sie sich die Hände und gelobten, diesmal der Freiheit die Ehre zu geben. Das war die erste Wahlversammlung, es war ein Rütli im Kleinen.

Für den nächsten Tag ward eine öffentliche Versammlung berufen, die von einigen liberalen Männern ausging, um die Candidaten zu besprechen. Als diese Absicht ruchbar wurde, da war großes Halloh unter einem Theile der „Honoratioren“. Es giebt rühmliche Ausnahmen, aber es giebt auch Bureaukraten, denen von vornherein jede Versammlung vorkommt, wie ein Skandal. Mit ungewohnter Behendigkeit liefen diese hin und wider; die ganze Phalanx der Autorität sollte aufgestellt werden gegen solche Vermessenheit. Wie man in Zeiten der Noth aus dem Zeughaus die alten Kanonen holt, so drangen sie in den Pfarrhof ein und wollten den geistlichen Herrn holen, daß er die liberale Armee mit dem Granatenfeuer seiner heiligen Flüche bombardire.

Die Versammlung bot ein merkwürdiges Bild. Seit dem Schluß der vierziger Jahre war keine politische Zusammenkunft mehr gewesen bis zur Zollparlamentswahl, die Landtagswahlen hatten ohne innere Betheiligung des Volkes stattgefunden. Und nun auf einmal in aller Ruhe und Ordnung eine liberale Versammlung!

Der Schauplatz derselben war eines jener schönen langgestreckten Häuser, wo der Weg nach vielen Richtungen sich kreuzte. Von allen Seiten kamen die Bauern in ihrer Sonntagstracht. Neugier und Spannung lag auf allen Gesichtern. Auch die Schwarzgesinnten unter den Honoratioren waren da, ein peinliches Geflüster, das dem Bewußtsein der Gegensätze entspringt, ging durch die Reihen. Endlich zog man hinauf in den großen Saal, und ein schlichter Mensch, der in der Gegend daheim war, ergriff das Wort. Er widerlegte zuerst das Lieblingsthema der Priester, als ob die Begriffe „freisinnig sein“ und „preußisch werden“ sich deckten. Aber er sei ein guter Baier und darum bitte er die Leute, sie sollten sich nicht über Preußen den Kopf zerbrechen. Die deutsche Frage wird nicht von Baiern und noch weniger von den Bauern gelöst, sondern von der Weltgeschichte. Unsere Sorge kann nur die sein, daß die Stunde der Entscheidung uns vorbereitet findet. Je tüchtiger, je freisinniger Baiern im Innern entwickelt ist, desto wohlgehaltener wird es dann aus diesen Tagen der Krisis hervorgehen.

Zu dieser inneren Entwickelung mitzuwirken ist aber der Bauernstand hervorragend berufen. Hier kann der Einzelne durch seine Stimmführung bezeugen, ob er den Nutzen freisinniger Gesetze verstehe und ob er das Beste des Landes wolle.

Auf dem Lande wird der Fortschritt vielfach verlästert, und nur weil man ihn zu wenig kennt, gilt er für ein Gespenst. Man soll ihm frisch in die Augen schauen. An der Hand der neuen Gesetze entwickelte nun der Redner, was denn der Fortschritt in Wahrheit bedeutet. Wenn im Gewerbsgesetze Jedem die Verwerthung seiner Kraft gewährt wird, so ist dies doch nicht gefährlich, und wenn das Wehrgesetz auch intelligente und vermögliche Leute unter die Waffen ruft, ist das nur gerecht. Mit der Oeffentlichkeit des Verfahrens wird die Rechtspflege unter die Garantie des Publicums gestellt; durch die neue Gemeindeordnung begiebt sich der Staat einer Vormundschaft, die ihm nicht gebührte. Jedem das Seinige. Wenn man das Facit zieht, dann kommt der Fortschritt gerade dem gemeinen Mann am meisten zu Gute. Ihm werden Lasten abgenommen, die er allein vorher getragen, und Vortheile zugewendet, die er allein vorher entbehrte. Er braucht die Bildung am meisten und darum gewinnt er am meisten, wenn sie auf eine liberale Weise dem Volke vermittelt wird. In Baiern ist jetzt ein Ministerium am Ruder, das von dieser Ueberzeugung geleitet wird, und dem die vernünftige Erziehung des Volkes eine Herzenssache ist. Was in anderen Zeiten schrittweise erobert werden mußte, wird uns jetzt als ein ganzes einheitliches Werk und aus freier Hand geboten.

Daß wir diese Reformen verstehen, daß wir annehmen, was die Zeit von uns fordert, und die Zeit uns giebt, das ist der echte Fortschritt, und in diesem liegt weder eine Gefahr für die Ruhe des Landes, noch des Gewissens.

Wir sind loyal, indem wir liberal sind. So wählt denn Männer, welch diese Grundsätze vertreten!

Nicht mit diesen Worten, aber in diesem Geiste sprach der ländliche Redner, und ein wohlthätiges Gemurmel lief durch die Reihen. Das effectvolle Bravo und die künstliche Claque, in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_616.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)