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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


sicheren, aber geschonten, unbenützten Wohlstandes. Und nun kamen die schweren Wahlmännerstiefel und trabten auf der gescheuerten Diele umher, wie die Soldaten im Quartier. Ach, es waren ja die Truppen zur morgigen Wahlschlacht!

Sie ward von den „Patrioten“ mit einem großen Hochamt eröffnet. In dem gewaltigen Saal, wo die Wahl vollzogen wurde, prangten Fahnen und Wappen, an einem blaudrapirten Tisch saß der Ausschuß und der Wahlcommissär der Regierung, der die Zettel vertheilte. Rechts und links waren die Tische der Parteigenossen, welche ein förmliches Schreib- und Werbebureau errichteten. Mitten drinnen endloses Menschengewühl. Namen aller Parteien tönten hin und wider; Anträge wurden gemacht und verworfen, Unmuth und Witz, Rohheit und Würde ließen sich vernehmen. Ein mißliebiger Name wurde gerufen. „Jawohl,“ schrie ein Bauer dazwischen, „wählen wir den; der sagt heute so und morgen so, der gilt gleich für Zwei. Dann ersparen wir uns die halbe Arbeit, denn die ganze ist doch umsonst.“

Nach den gesetzlichen Bestimmungen ist es gestattet, daß ein Anderer den Wahlzettel ausfüllt, wenn derselbe nur vom Wähler selbst unterzeichnet ist. Gerade hierdurch entsteht zu Unterschleifen mancherlei Gelegenheit, indem die Inhaber solcher Wahlzettel getäuscht oder gar nicht um ihre Meinung gefragt werden. Ein Fall der letzteren Art kam zur Anzeige.

„Der Herr Pfarrer von F. soll vortreten,“ rief der Regierungscommissär. Durch die schmale Gasse, die sich im Menschengewühl gebildet hatte, durch die allgemeine Sensation wand der Gerufene sich erröthend hindurch.

„Sie haben für die beiden Bauern N. und N. die Wahlzettel ausgefüllt?“

„Ja.“

„Ist dies im Auftrag derselben geschehen?“

„Ja.“

„Wo sind die Beiden? Sie sollen vortreten!“

Das kleine Auge des Angeschuldigten stach zuckend durch den Saal. „Sie sind fort!“ sprach er befriedigt.

Unter allgemeiner Erregung wurden die Beiden aufgesucht und kamen zur Stelle.

„Habt Ihr dem Herrn Pfarrer von F. Auftrag gegeben, Eure Wahlzettel auszufüllen?“ redete der Commissär sie an.

„Ja,“ antworteten Beide übereinstimmend.

„Hat er auch die Namen der zu Wählenden in Eurem Auftrage geschrieben?“

„Ja.“

„Gut – und welche Namen habt Ihr ihm aufgetragen?“

„Die, welche auf dem Zettel stehen,“ erwiderten Beide kurz.

„So – und welche stehen denn auf dem Zettel?“ Keiner der Beiden wußte auch nur einen einzigen der Namen anzugeben, für welche der Pfarrer die Unterschrift ihnen abgenommen hatte.

Sofort wurden durch Beschluß des Ausschusses beide Wahlen vernichtet, der Vorgang aber zur weiteren Behandlung in’s Wahlprotokoll eingetragen. Von acht Uhr Morgens bis Abends sechs Uhr dauerte der Kampf – der Sieg aber blieb den Ultramontanen. –

Wäre dies Ergebniß der wahre Ausdruck der Volksmeinung, dann hätte ein liberales Regiment in Baiern schweren Stand. Allein man darf nicht vergessen, wie viele dieser Wahlen gemacht sind und daß der Clerus fast allein am Platze stand, als es sich darum handelte, sie zu machen. Nur die Partei, welche die Freiheit organisirt und handhabt, fehlt auf dem Lande; die Freiheit selbst ist dort nicht verrufen. Das werden spätere Wahlen

darthun. Auch Baiern ist besser als sein Ruf.

Dr. Karl Stieler.     




Bei den Preiskindern.

England ist die ursprüngliche Heimath der öffentlichen Ausstellungen. Kunst- und Industrieausstellungen, Blumen- und Fruchtausstellungen, Vieh- und Geräthausstellungen, Hühner- und Taubenausstellungen u. a. m. sind, nach seinem Vorgange, mittlerweile längst auch bei uns zu regelmäßig wiederkehrenden Vorkommnissen geworden, eine Art von Ausstellung aber hat bis jetzt anderwärts noch keine Nachahmung gefunden, sondern ist eine „berechtigte Eigenthümlichkeit“ der anglosächsischen Race diesseit und jenseit des atlantischen Oceans geblieben – die Ausstellung kleiner Kinder oder Babies, wie der Engländer sagt. Zu einer solchen führte mich vor wenigen Wochen mein Weg, und ich lade den Leser, mehr noch die Leserin, ein, mir freundlich dahin zu folgen, überzeugt, daß auch ihnen die Neuheit der Sache und des Schauspiels nicht ohne Interesse sein werde.

An der Westminsterbrücke stieg ich in eines der sogenannten Penny-Dampfschiffe, die um das geringe Fahrgeld von einem Penny pro Kopf den Omnibusdienst auf der Themse stromab und stromauf versehen, um mich nach den Gärten von Woolwich hinabtragen zu lassen, wo die Ausstellung veranstaltet war. Der Dampfer wimmelte bereits von Menschen, namentlich von Frauen. Alles wollte nach der Babyschau. Woolwich ist bekanntlich eines der größten Kriegsarsenale der Welt; hier hat die englische Regierung ihre gewaltige Fabrik von Zerstörungsmitteln, ihre Kanonengießerei, ihre Congreve-Schmiede, ihre Kugelgießereien, ihre Artilleriecaserne mit den Sammlungen von Geschütz- und Festungsmodellen aller Art und ihre berühmte Militärakademie, so daß man eines vollen Tages bedarf, um alle diese Etablissements und Institute nur einigermaßen in Augenschein zu nehmen. Heute aber lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ganz andere, viel friedlichere und erfreulichere Dinge, auf den wunderhübsch angelegten Garten oder Park, welcher Woolwich umgiebt und einen der lieblichsten Plätze ausmacht, wo der Londoner, aus dem Getümmel seines rauch- und nebelvollen Häusermeeres entronnen, einen freien Nachmittag auf das Vergnüglichste verbringen kann; was im Westen der ungeheuern Metropole die vielgenannten Gärten von Cremorne sind, das sind die Anlagen von Woolwich im Osten, oder versprechen es wenigstens zu werden.

In diesen reizenden Umgebungen nun, inmitten eines saftstrotzenden, üppigen Baumgrüns, wie man es in gleicher Schönheit und Fülle nur in England sehen kann, war eine improvisirte Halle und daneben ein großes Zelt errichtet, und dahin wallten die Tausende, welche jetzt den Park erfüllten, denn in diesen beiden Räumlichkeiten hatte man die „Babies“ zur Schau ausgestellt. Offenbar bestand das Publicum, dem jeder neue Dampfer frische Menschenschaaren zuführte, der Mehrzahl nach aus Mitgliedern der unteren Gesellschaftsschichten, die „obersten Zehntausend“ waren blos in sehr sporadischen Erscheinungen vertreten. Dienstmädchen, Handwerker mit ihren Weibern und Kindern, junge Leute, welche zugleich ihr Absehen auf einen oder den andern der im Freien aufgezimmerten Tanzböden gerichtet haben mochten, bildeten den weitaus größeren Theil der Besucher.

Es war kein Leichtes, sich in diesem Menschenstrome fortzuarbeiten. Alles stürzte mit Ungestüm auf das eine Ziel los, und man mußte seine Ellenbogen ganz gehörig brauchen und seinerseits manchen Stoß und Puff ertragen, bis man sich an Ort und Stelle gewürgt hatte. Ich bin ein großer Kinderfreund, selten, daß ich auf meinen Wegen und Spaziergängen einem Kinde oder einer Kindergruppe begegne, ohne daß ich stehen bleibe und mich weide an diesen lieblichen Menschenknospen, ich hatte mich daher auf die Ausstellung wahrhaft gefreut. Aber – ich muß es gleich heraussagen, auch auf die Gefahr hin, daß man diesen Ausspruch unvereinbar finde mit meiner obigen Behauptung – das Schauspiel berührte mich durchaus nicht angenehm. So anziehend wie ein einzelnes kleines Kind oder eine Gruppe von Kindern auch ist, ein Durcheinander von den verschiedenartigsten Säuglingen und kleinen Kindern erscheint als das directe Gegentheil davon. Man denke sich etwa hundertundfünfzig „Babies“, von sieben Wochen bis zu achtzehn Monaten, versammelt, die, wie Ferkel in ihren Ställen, aus einem Gitter hervorsehen, hinter welchem die Mütter mit ihren Kleinen auf den Armen in langer Reihe saßen. Das Wetter war, ausnahmsweise in diesem winterhaften Sommer, drückend heiß und der Duft von gekochter Milch und Brei mischte sich mit der dampfenden Ausdünstung der eng zusammengepferchten Menge. Viele von den Kindern schliefen und lagen auf den Bänken oder auf den Knieen ihrer Mütter oder Pflegerinnen in Stellungen, die, grausig genug, an kleine Leichen gemahnten.

So viel ich mich erinnere, habe ich in der ganzen Ausstellung nur ein einziges hübsches Kind gesehen. Es war ein ungefähr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_618.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)