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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

sie wechseln ihre Ansicht eben so leicht wie die Hemden, und Ideen, die in Europa Decennien der Vorbereitung brauchen, werden hier über Nacht als selbstverständlich acceptirt. Noch ehe die Häuptlinge sich trennten, wurde beschlossen, dem Gueß eine Anzahl talentvoller junger Leute zu übergeben damit er dieselben in seiner Kunst unterrichte. Schon nach wenigen Wochen konnte er eine Prüfung veranstalten, die äußerst günstig ausfiel. Das war ein Freudentag der Cherokesen, wie seit Entdeckung des großen Pfeifensteinbruches kein zweiter die Indianer beglückte. Eine Büffeljagd wurde zu Ehren der Erfindung veranstaltet und ein langes Gastmahl folgte.

Der Leser muß nicht glauben, daß ich hier das Histörchen, welches sich an die Entdeckung des pythagoräischen Lehrsatzes knüpft, aufwärmen wolle; man lese nur Knapp’s Bericht, und diesem trockenen Yankee liegt sicherlich nichts ferner, als witzige Beziehungen; die Büffeljagd zu Ehren der neuerfundenen Cherokesenschrift hat tatsächlich stattgefunden und zeigt, daß – wie Heine sehr treffend bemerkte – seit den Tagen des Pythagoras bei jeder neuen Erfindung die Ochsen zittern müssen.

Bei dem Mahle erhielt Gueß den Ehrenplatz und die Indianer betrachteten ihn als ein höheres Wesen, denn der weise, große Manitou war mit ihm. Der noch vor Kurzem verachtete, von allen Kriegern scheu gemiedene Invalide wurde jetzt Häuptling der Nation, aber den Kriegspfad beschritt er nicht wieder, vielmehr gründete er in allen Cherokesendörfern Schulen und sorgte dafür, daß seine Erfindung in unglaublich kurzer Zeit Gemeingut der Nation wurde.

Die amerikanische Regierung – von jeher bereit, Alles zu thun, was die Civilisirung der Rothhäute fördern kann, die aber leider durch die Geldgier ihrer Agenten und die Landgier der früher dominirenden Sclavenbarone, hauptsächlich aber durch die von beiden Factoren provocirte grausame Kriegführung der Indianer oft zum Vernichtungskrieg gegen dieselben gezwungen wurde – besorgte einen Guß Typen für das von Gueß erfundene Alphabet und gab den Cherokesen die Mittel, in ihrer neuen westlichen Heimath – sie wurden nämlich zu jener Zeit von Georgia nach Kansas verwiesen – eine Zeitung zu etabliren, die in englischer und cherokesischer Sprache erscheint und unter dem Namen „Phönix“ noch heute in New-Echota prosperirt.

Wer von den monströsen Zeichnungen der Indianer und von den Hieroglyphen, die sich zuweilen an ihren Denksteinen befinden, auf das von Gueß erfundene Alphabet schließen wollte, würde sich sehr täuschen. Ich war wirklich erstaunt, als ich nach langem Nachforschen das erste in der Cherokesensprache gedruckte Buch sah. Die Charaktere sind so einfach, so symmetrisch abgerundet, daß ich wirklich zweifelte, ob dieses die Erfindung eines Indianers sei. In dem Alphabet sind sechszehn englische große Buchstaben, und Gueß mag dieselben jenem „sprechenden Blatt“ entnommen haben; aber woher bekam er das große und kleine Lambda, das Rho, das kleine Beta, letzteres sogar in der doppelten Schreibweise, und das große Gamma, die wir alle in der vollendetsten Weise hier wiederfinden? Selbst das Zend und Sanskrit ist in diesem Alphabet vertreten. Ein Silbenzeichen hat große Aehnlichkeit mit einer Maultrommel, deren Zunge ausgebrochen ist, ein anderes sieht einem Korkzieher nicht unähnlich.

Gueß blieb jedoch nicht bei dieser einen Erfindung stehen, sondern fand bald heraus, daß der weiße Mann auch noch in anderer Beziehung manchen Vorsprung habe. Das Nächste, was er vermißte, war ein sichtbares, maßgebendes Hülfsmittel für das Rechnen. Selbstverständlich kannte er weder arabische noch römische Ziffern; die Cherokesen hatten zwar Worte für alle Zahlen bis Hundert, aber sie hatten kein gemeinschaftliches Hülfsmittel für’s Addiren, Subtrahiren etc. Er sann nach und erfand ohne Euclid und ohne Adam Riese die vier Species. Seine größte Schwierigkeit war, den Zahlen in ihrer respectiven Bedeutung im Decimalsystem die gehörige Stelle anzuweisen; auch diese überwand er und es gelang ihm, seinen Landsleuten klare Begriffe von allen Zahlen bis zu einer Million zu verschaffen. Als Herr Knapp seine Bekanntschaft machte, war er ein tüchtiger Mathematiker.

Nun hat er doch wohl genug erfunden, wird der Leser denken. Noch lange nicht. Ein solcher Geist ist rastlos tätig, immer in fremden, unbekannten Regionen schweifend, für ihn giebt es kein Ziel, bis ihm der Tod sein unerbittliches „Genug“ zurraunt.

Gueß hatte bei seiner Alphabeterfindung leidlich Zeichnen gelernt. Wie alle Naturmenschen liebte er die Natur, und wenn er den Urwald im herbstlichen Blätterschmuck sah, wenn er die Pracht des Himmels beobachtete, wenn die Sonne im Spätherbst allabendlich von ihm Abschied nahm, so that es ihm in der Seele weh, eine solche Scene nicht festhalten zu können. Er sprach mit einem Agenten der Regierung darüber und hörte zu seiner Freude, daß der weiße Mann dieses meisterhaft verstehe. Sein Entzücken war jedoch vollkommen, als ihm der Agent einen Farbekasten verschrieb. Ohne weitere Anweisung machte sich Gueß daran, die Farben zu studiren, und sehr bald hatte er ausgefunden, daß durch Mischung derselben verschiedene Nuancen entstehen; nach kurzen Vorstudien begann er, die Natur mit überraschender Treue zu copiren. Seine Landschaften und Thierstücke erregten selbst bei Weißen Aufsehen, dieselben sind natürlich im Vergleich mit den Leistungen der kaukasischen Race roh, aber nicht selten geistreich und dabei immer correct. Einige derselben befinden sich in dem an Curiositäten und Indianer-Antiquitäten so reichen Smithsonian-Institut zu Washington, und diese Bilder verrathen eine bedeutende Kenntniß der Perspective.

Aber auch hierbei blieb er nicht stehen; er sah die unzähligen blinkenden Kleinigkeiten der Weißen und sann darauf, auch diesem nachzuahmen. Gueß wurde deshalb Feuerarbeiter. Bei seinem Stamm waren wohl einige Schmiede, diese verstanden jedoch nichts weiter, als einen rohen Tomahawk zurechtzuhämmern, oder ein Gewehrschloß zu repariren. Gueß schmiedete nach den bei amerikanischen Officieren gesehenen Mustern silberne Sporen, Löffel, goldene Ringe etc. zum großen Entzücken der rothen Krieger und ihrer Frauen. Durch diese sich fast auf alle den Bedürfnissen eines Naturvolkes entsprechende Gewerbe und Künste erstreckende, theils schöpferische, theils reproductive Thätigkeit wurde Gueß der Schöpfer der Civilisation seines Stammes, und selten hat wohl ein einzelner Mann einen so mächtigen Einfluß auf die Cultur eines rohen Volkes ausgeübt, als dieser heidnische Indianer.

Von den Cherokesen fast abgöttisch verehrt und von den Weißen, besonders den Häuptern der Regierung in Washington, mit großer Auszeichnung behandelt, hätte man meinen sollen, der Abend seines Lebens sei ein heiterer, wolkenloser gewesen; leider war es nicht so. Auch ihn traf das Loos, welches seit Prometheus fast alle die ereilte, „welche der Menschheit einen Schmerz gestillt“.

Die amerikanischen Missionäre bemächtigten sich nämlich sehr bald seiner Erfindung, übersetzten die Bibel in die Cherokesensprache und verdrängten die von Gueß und seinen Schülern verfaßten Lehrbücher durch ihre christlichen Handfibeln aus den Cherokesenschulen. Der alte Mann aber hing treu an seinem Manitou, und alle Bekehrungsversuche scheiterten an seiner Zähigkeit. Die Missionäre konnten bei dem gewaltigen Einfluß, welchen Gueß besaß, auf keine Erfolge unter den Cherokesen rechnen, sie sannen deshalb darauf ihn unschädlich zu machen. Noch einmal wurde Aberglaube und Wahn gegen ihn heraufbeschworen und dieses wirkte, eine Familie um die andere wandte sich von ihm ab, wie vor zwanzig Jahren stand er abermals allein und verachtet da, aber diesmal ohne Hoffnung; kein fester Mannesmuth half ihm über die Bitterkeiten des täglichen Lebens, keine Zuversicht auf bessere künftige Zeiten erhellte seine Pfade, sein Leben war ohne Ziel, sein Kampf gegen die Verleumdung ohne Siegeshoffnung – er verfluchte seine Erfindung, brach sein Zelt ab und zog mit seiner Familie im Spätherbst des Jahres 1842 der mexicanischen Grenze zu, wo er sich bei San Fernando niederließ. Dort starb er nach einem langen furchtbaren Winter, der ihn fast dem Hungertode nahe brachte, im August 1843 als achtzigjähriger Greis.

Noch rast auf den Prairien des fernen Westens der Vernichtungskampf gegen die rothen Kinder dieses Continents; noch lesen wir täglich von Blutbädern der Sioux, Apachen, Comanchen und anderer Stämme, vor deren Gräueln die historische Massacre von Wyoming in Nichts verschwindet; von den Cherokesen indessen hört man nur selten, außer etwa, daß eine Deputation in Washington angekommen ist, um die Verträge zu erneuern und gelegentlich „den großen Vater“ – wie der Präsident seit den Tagen von Washington von den Indianern genannt wird – einmal zu sehen. Fast mitten unter den Weißen wohnend, haben sie längst die nomadischen Gewohnheiten der rothen Race aufgegeben, es sind die civilisirtesten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_657.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2022)