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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


„Ihr seid verrückt!“ schrie die Tante sie an. „Alberne Zierliesen seid Ihr, weiter nichts! Aergern wollt Ihr mich. Geht zum Henker!“

„Tante, versteh’ sie doch,“ bat Ursula, „denke doch daran, wie eins sie sind. Es will Keine ein Glück, das die Andere nicht theilen kann. Laß sie doch ihrem sichern Kinderinstinct folgen. Ich muß Dir sagen, daß auch ich Clemens nicht verstehe. Es ist unmöglich, daß er nicht weiß, welche er vorzieht. Weshalb aber Eine von ihnen heirathen, wenn er Keine liebt? Es ist Keine eines Ministers Tochter, und den Gesandtschaftsposten könntest auch Du ihm nicht verschaffen.“

„Gerade daß er seine ehrgeizigen Pläne aufgegeben hat, ist mir ein Beweis seiner Liebe,“ ereiferte sich die Tante, „Sein Gesandtschaftsposten ist im Monde, das weiß er recht gut, wo aber Hasso’s Urwald liegt, weiß ich auch, da soll mir Keiner ein X für ein U machen, und die Bibliothek wird wohl nicht weit davon sein!“

Ursula wendete sich tief verletzt ab. Der Tante schien zu heiß zu werden. Sie lief an’s Fenster und öffnete es.

„Die verfluchten Spatzen!“ schimpfte sie und schlug es wieder zu.

Ursula stand bei den Schwestern und liebkosete sie.

„Das hängt zusammen wie die Kletten,“ murmelte Rosine, „wenn’s gegen mich geht, steht Keiner auf meiner Seite.“ Sie trat hart auf die Schwestern zu. „Nicht einen Groschen von meinem Vermögen bekommt Ihr, wenn nicht Eine von Euch den Clemens heiratet. Ihr wollt es nicht, nun gerade sollt Ihr es thun!“

Liddy und Elly starrten sie erschrocken an.

„Tante, damit wirst Du sie nicht umstimmen“ sagte Ursula ernst, und ihr verletztes Gefühl sprach sich in Ton und Miene aus. „Das ist keine Lockung für sie. Herzen lassen sich nicht kaufen. Reichthum hat sehr wenig Werth, wenn er gegen das Glück in die Wagschale geworfen wird.“

„Du philosophirst sehr uneigennützig,“ höhnte die Tante, und sich brüsk abwendend, setzte sie, zwischen den Zähnen murmelnd, hinzu. „philosophiren, intriguiren, speculiren, das reimt sich Alles vortrefflich.“

Die Schwestern hatten es nicht gehört. Indem rollte der omnibusähnliche Wagen vor die Thür, in welchem die Tante, allen Eisenbahnen zum Trotz, die Reise zurücklegen wollte. Auch Hasso kam und Clemens, Letzterer ahnungslos, daß und in welcher Weise seine Sache geführt worden war. Die kleine Gesellschaft stiebte auseinander. Im letzten Moment hatte noch Jeder mit Reisevorbereitungen zu thun, und die allgemeine Geschäftigkeit deckte am besten die allgemeine Verstörung. Nur mit wenigen Worten konnte Rosine ihrem Schützling von der Hoffnungslosigkeit seiner Aussichten berichten. Er erschrak sichtlich. Er biß die Zähne zusammen aber er war zart genug, der Tante keinen Vorwurf zu machen, ja, er that, als nähme er es auf die leichte Achsel.

„Ich verzage nicht,“ sagte er, „sie lieben mich.“

„Beide, das ist es eben, darum will Dich Keine. Warum hast Du denn Beide erobert, wozu.“ fuhr Rosine ihn etwas barsch an.

„Ist das meine Schuld, sind sie zu trennen? Sollte ich zwiespältiges Empfinden unter sie bringen, dann hätte ich sie noch sicherer verloren,“ vertheidigte sich Clemens.

„Und nun, was hast Du nun? Sie sind entschlossen, Dir zu entsagen.“

„Ein in Schreck gefaßter Entschluß, den die Liebe besiegen wird. Laß mir und ihnen Zeit, Tante, und schüchtere sie nicht ein. Ich gebe Liddy nicht auf.“

„Also Liddy?“ fragte Rosine.

„Ja, Liddy. Und Elly wird meine beste Bundesgenossin sein,“ versicherte Clemens.

„Nun, Glück zu, und wenn’s Dir fehlschlägt, mein Junge – es soll mehr ihr als Dein Schade sein.“

Er drückte der Tante mit einem warmen Blick die Hand, der Diener meldete, daß Alles eingepackt sei, Hasso und Ursula kamen gleichfalls die Tante zu holen. Rose, Liddy und Elly waren schon hinuntergegangen.

Man konnte nicht unbefangener erscheinen, als Clemens beim Abschiede, man konnte nicht unbefangener sein, als Hasso, der von den Vorfällen des Morgens nichts ahnte. Es war ein Glück für Alle. Die betrübten Herzen der Zwillinge fingen an in neuer Lebenszuversicht zu schlagen, Ursula vergaß das Grübeln über dem Schauen, und auch Rosen war zu Muth wie einem dem Käfig entronnenen Vogel, der, erst zaghaft die Schwingen prüfend, sich plötzlich seiner Kraft bewußt wird, sie nun fröhlich regt in hoffendem Vorgefühl wiedererlangter Freiheit und sein bestes, schon halb vergessenes Lied wieder anstimmt.

Zur Mittagszeit des zweiten Reisetages kamen sie in Gülzenow an. Ein herrlicher Frühlingstag, so einer, der jubelnd in’s Herz lacht, und an dem man es sich gar nicht vorstellen kann, wie die Erde ohne den grünen Frühlingsschleier ausgesehen hat, dessen leichtes Gewebe überall von Funken goldenen Sonnenlichts durchblitzt wird. Selbst das graue Schloß sah jugendlich aus und der steife alte Garten machte den Eindruck, als lache eine Matrone aus Kinderaugen. Der Verwalter, der von der Ankunft der Reisenden benachrichtigt worden war, hatte sein Möglichstes gethan, die Räume wohnlich herzustellen, dennoch fehlte es überall an dem gewohnten Comfort. Manches Stück der Einrichtung war mit Tante Rosine in die Stadt gewandert und nicht wieder ersetzt worden. Wozu auch? Seit dem Tode des vorigen Besitzers war das Schloß unbewohnt, und die hohen öden Räume machten einen fast unheimlichen Eindruck.

Die Tante schauerte zusammen, als sie über die Schwelle schritt. „Solch leerstehendes Haus ist wie ein Grab,“ sagte sie.

„Oder wie ein altes Buch,“ entgegnete Ursula, „hier und da fehlt ein Blatt, ist eine Seite zerrissen, aber etwas steht auf jeder.“

„Lies nur, Du wirst nicht viel Gutes herauslesen,“ meinte die Tante. Sie ging raschen Schrittes durch die Zimmerreihen, an jedes einzelne fast knüpfte sich eine Erinnerung.

„Hier stand meiner Mutter Sarg, in diesem Gemach ist mein Vater gestorben. Ich war fern, zum ersten Male seit Jahren abwesend, da gerade mußte er sterben. Hier auf dem Balcon sah ich meinen verstorbenen Mann zum ersten Male. Er war nicht hübsch, und Keiner außer mir fand ihn liebenswürdig. Ich war auch nicht hübsch und wurde auch nicht liebenswürdig gefunden. Ich war mir bewußt, daß ich deshalb doch liebeberechtigt und liebebedürftig war, warum sollte er’s nicht auch sein? Wir paßten zusammen. Sie sagten Alle: ,Du wirst ihn doch nicht heirathen?‘ Ich that es nun gerade. Wir paßten doch nicht zusammen. Ich hatte ihn lieb und er heirathete mich um’s Geld. Um’s Geld!“ wiederholte sie und trat energisch mit dem Fuße auf, während sie einen herausfordernden Blick aus die Geschwister schleuderte.

Sie hatte noch nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Die Art, wie sie es that, schloß eigentlich jede Erwiderung aus, dennoch sagte Hasso: „Du hättest nicht mit uns herreisen sollen, wenn’s Dir so weh thut hier zu sein.“

„Auf einer Stelle, auf der andern nicht,“ entgegnete sie. „Es gehen auch andere Geister hier um. Ich sehe dort unten im Garten ein wildes Kind durch die Gänge toben, das Kind bin ich. Ihr Stadtkinder, Ihr wißt gar nicht, was Vergnügen ist. Ihr verzierten zimperlichen Affen mit Euren Strohdächern von Hüten auf dem Kopf, die keinen frischen Luftzug an die Wange lassen, keinen Sonnenstrahl in’s Antlitz. Da, Sommersprossen wie Sand am Meer und die Hände braun gebrannt, die unbedeckt nach der Freude greifen und der strengen Gouvernante ein Schnippchen schlagen! Spazieren gehen mit ihr? Gerade nicht. Lange Kleider tragen wie eine Dame, tanzen lernen, französische Conversation machen, englische Bücher lesen! Wozu das Alles! Kinder, ich wuchs so frei auf wie die Rebe am wilden Wein, ich war ein glückliches Kind und ich war lange ein Kind, und als ich die Erwachsene spielen sollte, that ich’s gerade nicht. Ich riß mir noch die Kleider in Fetzen am Brombeergesträuch und trat mir die Schuhe schief mit achtzehn Jahren. Clemens’ Vater, mein bester Jugendcamerad, pflegte zu sagen: ‚Du bist eine wilde Range, Rosine, bist ein obstinates Geschöpf und zum Heirathen nicht zu brauchen, aber gut muß man Dir doch sein.‘ Nun, ich war ihm auch gut, bin’s ihm heute noch. Wir haben manchmal Anschlag, Ball und Reisen zusammen gespielt.“

Fortsetzung folgt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_694.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)