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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Erforderniß des Menschenthums mehr oder weniger fehlt, mit dem Namen der „Affenmenschen“ belegt hat, und zwar dieses um so mehr als sie nicht blos in der Bildung und Entwicklung ihres Schädels und dessen knöcherner Zuthaten, sondern auch in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Benehmen, ihren Manieren etc. so Manches an sich haben, das an unsern nächsten Verwandten im Thierreich, an den Affen, erinnert.

Freilich darf man deshalb nicht, wie Herr Albrecht Schumann in Dresden (siehe dessen „Die Affenmenschen Karl Vogt’s“, Leipzig, 1868), glauben, daß diese Geschöpfe nun auch wirkliche Affen seien oder sein müßten; es sind, wie Herr Schumann ganz richtig bemerkt, kranke, mißbildete oder in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmte Menschen, welche jedoch dadurch, daß sie auf einer solchen niedrigen Stufe menschlicher Entwicklung stehen bleiben, Charaktere entwickeln, welche in vielfacher Hinsicht an die thierische Abstammung des Menschengeschlechts, an unsere frühesten Ur- oder Eltern-Väter erinnern. Vogt hat diese merkwürdige Erscheinung aus dem sogenannten Atavismus (Ahnenbildung) oder aus der bekannten Erfahrung zu erklären gesucht, daß beinahe alle lebenden Wesen die merkwürdige Neigung zeigen, bisweilen in einzelnen der von ihnen erzeugten Nachkommen solche Kennzeichen oder Eigenthümlichkeiten zu entwickeln, welche ihren frühesten Eltern oder Urahnen, die vielleicht schon seit vielen Jahrtausenden in sogenanntem fossilem Zustande in den Tiefen der Erde begraben liegen, eigen waren. Es ist gewissermaßen ein Verrath, den die Natur an sich selbst begeht, oder auch ein Sichselbstvergessen in Erinnerung an vergangene Zeiten. Oder – um es mehr wissenschaftlich auszudrücken – die Lebensbewegung, welche einer bestimmten Form seit Jahrtausenden innewohnt und sie drängt, sich stets wieder in ihren Nachkommen in gleicher Weise zu wiederholen, ist so stark, daß selbst in solchen Fällen, wo jene Form durch den Einfluß der Zeit und geänderter Umstände längst eine andere geworden ist, sie sich mitunter in den entferntesten Nachkommen kraft ihrer ursprünglichen Zähigkeit geltend macht und gelegentlich einen sogenannten Rückschlag in die ursprüngliche Form oder Lebensbewegung bewirkt. In geringerem Grade sind wir im Stande, die Erscheinungen des Atavismus oder Rückschlags beinahe alltäglich bei uns und in unseren eigenen Familien zu beobachten. Denn wie häufig kommt es vor, daß einzelne Kinder einer Familie ohne irgend nachweisbare direkte Ursache körperliche oder geistige Eigenthümlichkeiten oder noch häufiger Krankheitsanlagen entwickeln, welche in der Familie selbst nicht heimisch sind, welche aber bei genauerer Nachforschung sich als solche herausstellen, die bei den Groß- oder Urgroßeltern oder aber bei einem älteren und entfernteren Seitenzweig der Familie vorhanden waren.[1]

Von den Gesetzen dieses Atavismus oder Rückschlags ausgehend hat nun Vogt die Theorie aufgestellt, daß die menschlichen Mikrocephalen oder Kleinköpfe eine Art von Rückschlag nach dem Typus oder nach der Bildung jenes gemeinsamen und vorweltlichen, aber längst ausgestorbenen affenähnlichen Stammvaters darstellten, von welchem aller Wahrscheinlichkeit nach der heutige Affen- sowie der Menschentypus als zwei auseinandergehende Zweige desselben ursprünglichen Stammes in grauer Vorzeit sich entwickelt haben müssen. Dieser Theorie hat Karl Vogt auch in einem populären Aufsatz, der in Nr. 13 dieser Zeitschrift vom Jahre 1868 enthalten ist, Ausdruck gegeben und als Beispiel dafür eine Beschreibung und Abbildung des in einem Alexianerstift am Rhein befindlichen erwachsenen Mikrocephalen Emil N. gegeben. –

Ich will nun an dieser Stelle nicht untersuchen, ob jene Vogt’sche Theorie, welche Manches für, aber auch Manches gegen sich hat, richtig ist oder nicht, sondern überlasse es dem schon erwähnten Herrn Schumann, mit seinen geistreichen X-Y-Untersuchungen gegen Herrn Vogt und gegen die Materialisten überhaupt zu Felde zu ziehen und den Beweis zu führen, daß eigentlich Alles in der Welt Nichts ist und daß wir kein philosophisches Recht haben zu existiren, weder Herr Vogt, noch die Mikrocephaten, noch er selbst, noch ich, noch die Gartenlaube, noch Herr Keil, der sie gegründet und zum verbreitetsten literarischen Organ der Welt erhoben hat, noch die vielen Leser derselben etc. etc., sowie daß wir in Allem, was wir erkennen, eigentlich nur Täuschungen oder Vorspiegelungen unserer Sinne vor uns haben. Aber sollte auch die Vogt’sche Theorie unrichtig sein, so würde doch dadurch das Interesse an jenen beiden Kindern, welche ich hier beschreiben will, nicht im Mindesten beeinträchtigt werden, da sie auch ohne jede atavistische Bedeutung in ihrer thierischen Vernachlässigung und Hülflosigkeit einen wahrhaft niederschmetternden Beweis gegen alle nichtmaterialistischen oder – ich sage vorsichtiger – gegen alle nichtphysiologischen Betrachtungsweisen des menschlichen Seelenlebens bilden.

Wer einmal jene traurigen Geschöpfe gesehen und beobachtet hat, kann, auch wenn er sonst gar keine physiologischen Kenntnisse besitzen sollte, unmöglich mehr an die Versicherungen der sogenannten Spiritualisten unter den Philosophen glauben, daß der Geist oder die Seele des Menschen etwas für sich Bestehendes, vom Körper mehr oder weniger unabhängiges oder gar demselben Entgegengesetztes sein solle. Zwar bedarf die Wissenschaft selbst solcher gewissermaßen roher oder handgreiflicher Hülfen oder Beweise nicht, da ihr zahllose anderweitige Erfahrungen und Beweismittel zu Gebote stehen, welche die Wahrheit längst bei ihr so festgestellt haben, daß sie in derartigen Vorkommnissen nur gelegentliche und erneute oder gar nicht anders zu erwartende Bestätigungen ihrer längst aufgestellten Sätze erblickt. Dagegen für den Laien ist die Unmittelbarkeit eines solchen Beweismittels um so werthvoller, weil bei ihm keine noch so treffliche theoretische Begründung oder Auseinandersetzung jenen unverlöschlichen Eindruck zu erzeugen vermag, den der eigene Augenschein oder auch nur die Erzählung eines solchen hervorzurufen pflegt; darum diese Mittheilung.

Helene Becker von Offenbach (eine Stunde von Frankfurt am Main) ist ein Kind im Alter von nunmehr sechseinhalb Jahren und von dreieinhalb Fuß Größe. Ihr Kopf oder Köpfchen, dessen eigentlicher Schädeltheil ungefähr die Größe einer starken Mannesfaust hat, besitzt (über den Haaren gemessen) einen Umfang von dreizehneinhalb Zoll (rheinisch), während eine quer über den Kopf herüber von einem Ohr zum andern gezogene Schnur eine Länge von sechseinhalb Zoll, und eine desgleichen der Länge nach von der Nasenwurzel zum Rande der Hinterhauptsschuppe über den Scheitel hinweg angelegte eine Länge von achtdreiviertel Zoll zeigt. Zum Vergleiche damit führe ich an, daß mein jüngstes, geistesgesundes Söhnchen Wilhelm, welches nur drei Jahre alt ist, einen Kopfumfang von zwanzigeinviertel Zoll hat und daß das Quermaß bei ihm eine Länge von zwölfeinhalb, das Längenmaß aber eine solche von vierzehn Zoll besitzt – also beinahe das doppelte in allen Verhältnissen. Am stärksten überwiegt das Quermaß; und dem entspricht auch die flache, von den Seiten zusammengedrückte, etwas dachförmige Gestalt des Schädels des Idiotenkindes. Von einer Stirne ist so gut wie gar nichts vorhanden, sie ist so flach, schmal und zurückfliehend, daß man ihrer unter den Haaren kaum gewahr wird. Dagegen ist der obere Augenhöhlenrand in thierischer Art und Weise etwas hervortretend, und sogleich unter demselben schließt sich die lange, gebogene und spitz zulaufende Nase an, in einer Linie mit der Stirnoberfläche verlaufend. Dieses, sowie das fehlende oder sehr zurücktretende Kinn und die schiefstehenden Zähne, giebt dem ganzen Gesicht einen eigenthümlichen, vogelartigen Ausdruck und erinnert sehr lebhaft an die vor Jahren in Europa gezeigten und auch in der Gartenlaube abgebildeten Aztekenkinder. Der ganze Typus pflegt daher auch als Aztekentypus bezeichnet zu werden. Uebrigens ist das Gehirn selbst wahrscheinlich noch kleiner, als es sich nach den obigen Maßen voraussehen läßt, da man allen Grund hat anzunehmen, daß die knöchernen Schädelwände ansehnlich verdickt sind.

Diesem enormen Gehirnmangel entsprechend steht das armselige Geschöpf nicht auf der Stufe des Thieres, sondern noch weit unter dem Thiere, welches Letztere trotz seiner verhaltnißmäßig ebenfalls geringen Gehirnentwickelung doch diejenigen Bedürfnisse und Fähigkeiten, welche ihm vermöge seiner ganzen Organisation und seiner besonderen Stellung in der Gesammtnatur zukommen, oft bis zu einem erstaunlichen Grade zu entwickeln und zu befriedigen lernt. Dem gegenüber ist das mikrocephale Menschenkind nicht im Stande, auch nur für das kleinste seiner Bedürfnisse zu sorgen, und ein vollständig unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Es kann nicht gehen, nicht stehen, nicht sprechen, nichts erfassen, nichts festhalten; und seine fortwährenden unruhigen und affenartigen Bewegungen, sein stetes Hin- und Herschleudern des Kopfes und Körpers beruhen nur auf einer krankhaften

Steigerung der sogenannten Reflex- oder unwillkürlichen Muskelthätigkeit,

  1. Das Nähere hierüber, sowie über die Gesetze der Vererbung und Erblichkeit überhaupt bittet der Verfasser in seinem Buche „Aus Natur und Wissenschaft“ (zweite Auflage, Leipzig, 1869) und zwar auf Seite 359 in dem Aufsatze „Physiologische Erbschaften“ nachsehen zu wollen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 697. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_697.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2022)