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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

War denn wirklich Alles wieder in Ordnung, so wie Dore es meinte? Als sie wieder zu ihrer Dame gerufen wurde, verlangte diese, zur Ruhe zu gehen. Der Herr Rechtsanwalt und sein Freund hatten sich empfohlen. Tante Rosine ließ die Thür ihres Schlafzimmers offen und ließ Rose bitten, etwas zu singen, sehen wollte sie jedoch Niemand. Rose erfüllte ihren Wunsch. Die Dame saß aufrecht in ihrem Bett und hörte zu, als müsse sie neue Lehenskraft aus den süßen Tönen schöpfen. Ihre Augen glänzten, ihr Athen ging fast hörbar laut, plötzlich stürzten heiße Thränen aus ihren Augen. Rose sang den Refrain eines bekannten Liedes, eines der Lieblingslieder der Dame:

„Behüt’ Dich Gott, es wär’ so schön gewesen,
Behüt’ Dich Gott, es hat nicht sollen sein.“

Dore, die noch an ihrem Bett stand, sah sie betroffen an.

„Es hat nicht sollen sein!“ wiederholte Rosine gepreßt. „Von Allen getäuscht, von Allen betrogen! Treu nur eine Magd, dankbar vielleicht eine Fremde!“

Dore sah sie kopfschüttelnd an. „Es ist wahrhaftig noch nicht Alles richtig,“ sagte sie. „Ich hole den Herrn Rechtsanwalt wieder, wir machen ein neues Testament oder gar keins und zerreißen das alte“ – sie machte Miene zu gehen, Rosine hielt sie zurück.

„Was fällt Dir ein, ich bin kein Kind!“ fuhr sie sie barsch an.

„Leider nicht, sonst möchte ich jetzt wohl Ihre Gouvernante oder lieber Ihre Mutter vorstellen und Ihnen in’s Gewissen reden, und wenn’s hälfe, befehlen, sich Ruhe zu schaffen. Sie werden nicht schlafen mit dem dummen Testament im Kopf.“

„O doch, tief, fest. Ich fühl’s. Geh’ nur und laß mich in Ruhe.“

„Wem haben Sie Ihr Vermögen vermacht?“ fragte Dore, anstatt zu gehorchen.

„Was geht’s Dich an?“ lautete der Bescheid.

„Sehr viel, denn man hat doch Ehrgeiz für seine Herrschaft und will nicht, daß sie schlechte Dinge thut.“

Rosine legte sich auf die andere Seite, das Gesicht der Wand zugekehrt. Dore blieb am Bett stehen und fuhr fort in ihrem barocken Kauderwälsch von treuherziger Gesinnung, zu täppischer Grobheit und warmem Liebeseifer auf ihre Tante einzureden, bis dieser ein Schatten nach dem anderen von der Seele fiel, das ganze künstliche Gewebe von Selbstquälerei, Mißtrauen, Zorn und Rache in lauter Dunst und Nebel zerfloß, und sie schon anfing, sich von Herzen eine Thörin zu schelten, noch ehe Jene zum endlichen Punkt ihrer Rede gelangt war. Sie lag noch mit dem Gesicht der Wand zugekehrt, der Athem ging noch schnell und die Hände zuckten unter der Bettdecke. Dore dachte jeden Augenblick, jetzt würde sie nach der Nachtmütze greifen und diese in die Lüfte schleudern, aber nichts davon. Sie drückte ihr Gesicht tiefer in die Kissen.

„Geh’,“ sagte sie, nicht gerade sanft und nachgebend, aber doch mit einem seltsamen Beben der Stimme, das bekämpfte Gemüthsbewegung verrieth, „geh’, morgen –“

„Morgen wollen Sie ein vernünftiges Testament machen?“ drang Dore in sie, aber sie erlangte keinen andern Bescheid, als ein nochmal wiederholtes „morgen, morgen!“

Ja morgen! Schiebe doch Keiner das Gute auf, das sich heut thun läßt, wer weiß ob der Morgen noch sein ist! Morgen! Am nächsten Morgen lag’ die Freifrau Rosine von Fuchs kalt und starr in ihrem Bett, und was sie sich auch für den Tag vorgenommen haben mochte, welche Pflichterfüllung, sie blieb unvollbracht, welche Liebesthaten, sie geschahen nicht, welche Sühne für verübte Ungerechtigkeit, sie war nimmer wieder gut zu machen. Das Herz kalt, die Lippen stumm, das Auge geschlossen für immer.

Da waren nun auf einmal alle Leidenschaften still geworden, hoch über allem Wechsel des Irdischen schwebte ein erlöster Geist. War sein Denken und Empfinden noch erdenwärts gerichtet, wie klein mußte der befreiten Seele der Grund des Zwiespalts erscheinen, den sie nicht zu bewältigen vermocht, so lange sie noch die irdische Hülle belebte! Man geht und nimmt nichts mit von all’ den Gütern, die uns so wichtig erschienen, nichts von äußerm Besitz, nichts von der Bildung, nach der man gestrebt, der Bedeutung, mit der man sich brüstete, dem Ehrgeiz, der uns trieb, nur was unverfälscht, was Gottähnliches im Herzen war, hilft uns über die grausige Brücke, die vom Tode zum Leben führt.

Dieser plötzliche Todesfall erregte eine unbeschreibliche Bestürzung. Selbst Clemens ging mit blassem Gesicht und verstörter Miene umher, und während die tiefe Erschütterung der Geschwister durch den Gedanken verstärkt wurde, daß ihr letztes Beisammensein so von Zorn und Mißtrauen getrübt gewesen, wirkte die Erinnerung an die letzte, voll über sein Haupt ausgeschüttete Gunst der Verstorbenen im Augenblick mehr betrübend als erhebend und beruhigend auf Clemens.

Er wußte es, daß er der Haupterbe sein würde, Rosine hatte es ihm gesagt. Wo war der Triumph hin, den er bei dieser Eröffnung empfunden? Leuchtete ihm dabei die Zukunft hell auf, in der er alle die kleinlichen Sorgen um seine Existenz abwerfen, und als reicher Mann so ganz anders seinem Schicksal, seinem Vater, seinen Freunden und Gefährten gegenüberstehen würde, so preßte ihm jetzt die so unerwartet schnelle Erfüllung seiner Hoffnungen das Herz angsthaft zusammen. Ein häßliches Wort klang ihm in’s Ohr: Erbschleicher. „Es ist nicht wahr!“ rief er in seinen verstörten Gedanken dagegen. „Was habe ich denn gethan? Ich habe mir Liebe erworben, weiter nichts. Ich habe teilen wollen, daß die einfältigen Mädchen mich zurückwiesen, kann ich dafür? Vielleicht sind sie jetzt willfähriger,“ dachte er weiter, „aber nein, nein, jetzt will ich nicht, jetzt – o Rose!“ seufzte er unwillkürlich und in dem Herzen des kalten Egoisten strömte das Blut heiß durch die Adern und zeigte ihm die Stelle, wo er verwundbar war.

Auf Hasso’s Benachrichtigung und Ruf eilte der Major von Brücken herbei. Man hatte nur seine Ankunft erwartet, den Sarg zu schließen. Tief bewegt umstanden sie Alle noch einmal die stille, friedlich auf ihrem letzten Ruhelager liegende Gestalt.

Schon hundertmal hatte Dore ihre letzte Unterredung mit der Verstorbenen erzählt, noch einmal wiederholte sie deren Scheidewort: „Morgen, auf morgen. Was sie meinte, weiß ich,“ setzte sie hinzu und legte ihre Hand auf die Brust der Todten; „aber Gott trat dazwischen und der Morgen brach für sie im lieben Himmelreich an. Da giebt’s kein Geld und Gut mehr zu vertheilen.“

„Nein,“ sagte Hasso, „da giebt’s aber auch keinen Zorn, kein Mißtrauen mehr, und was sie hier bezweifelte, dort oben wird sie es wissen.“

„Daß wir sie lieb gehabt, daß wir dankbar sind, daß wir sie nicht vergessen werden, nicht?“ stammelte Liddy mit strömenden Thränen und in Hasso’s ruhigem zuversichtlichem Blick die Antwort suchend.

Das Begräbniß war vorüber. Der Rechtsanwalt und sein Begleiter erschienen abermals auf dem Schloß. Das Testament wurde geöffnet. Alle waren sie dabei gegenwärtig, der Major, die Geschwister, Clemens, Rose, Dore. Der letzte Wille war in kurzen deutlichen Worten gesagt. Hasso wurde in dem Besitz von Gülzenow bestätigt, die drei Schwestern seiner Fürsorge überwiesen. Für Dore war ein ansehnliches Legat ausgesetzt, zur Erbin ihres Baarvermögens Rose Fröhlich eingesetzt. Die Wirkung dieser unerwarteten Bestimmung war unbeschreiblich.

„Nein, nein, niemals darf das geschehen!“ rief Rose flehend, die Hände wie abwehrend gegen Hasso ausgestreckt.

Clemens hatte Mühe, seine Haltung zu bewahren, sein Horizont zog sich düster zusammen, dann fuhr ein Blitz hinein und zerriß die Wolken. Ein triumphirender Blick schoß aus seinen Augen.

„Nur Zeit, nur Zeit,“ murmelte er vor sich hin; dann ging er auf Rose zu und bot ihr die Hand, indem er leise sagte: „Meine Hoffnungen sind vernichtet. Die bunte Seifenblase des Glückes, nach der ich haschte, ist zerronnen. Das Glück, das wirkliche Glück ist sicherer verloren als vordem. Sie sind reich, Rose, das trennt uns für immer, aber –“ seine Stimme wurde noch leiser, sein Blick umflort, „ich habe dennoch nur Sie geliebt!“ stieß er hervor und wendete sich rasch weg, den Blick der Verachtung nicht mehr gewahrend, den sie ihm zuwarf.

„Herr!“ redete ihn Dore an, „damit Sie nicht eine Falsche in Verdacht haben, ich fand das und zeigte es der gnädigen Frau.“ Sie wendete ihm trotzig den Rücken, ein Billet in seiner Hand zurücklassend, das er voller Erstaunen betrachtete, dann las er:

„Schicken Sie mir Ihre Verlobungskarte mit Fräulein Liddy oder Elly, und Sie erhalten gegen Schuldverschreibung die gewünschten dreitausend Thaler. Sicherheit muß sein auch unter Freunden. Ihr ergebener 
C. Lindemann.“ 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_736.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)