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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

In diesen Gedanken schritt er wieder der Kirche zu, wo er der Botschaft halber das Mädchen noch abwarten wollte, und es gelang ihm, durch eine der halboffenstehenden Seitenthüren noch hineinzuschlüpfen und ein Plätzchen zu finden, als eben der Geistliche in Mitte des Hochamts den Altar verlassen und die Kanzel bestiegen hatte, und nun in erhebender Rede den Segen und das Glück des Christen pries, der keine Ursache habe zu bangen vor irgend einem Leid oder Geschick der Erde, denn über ihm walte der dreieinige Gott, ein Gott unendlicher Macht, denn „Himmel und Erde seien seiner Herrlichkeit voll“!

Wendel war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, als daß die Worte des Predigers für den Augenblick tiefer zu dringen vermocht hätten, als in sein Ohr – seine Seele war bei anderen Dingen und saß ihm bald völlig in den Augen, denn an der Säule vorüber gegen die Kanzel blickend gewahrte er bald, daß er gerade so stand und des Gedränges wegen stehen bleiben mußte, daß er Derjenigen, die er fortan zu meiden entschlossen war, gerade in’s Angesicht sah. Sie hatte sich bei Beginn der Predigt in den Kirchstuhl gesetzt und saß nun, den Kopf nach der Kanzel gewendet, ernst aufmerkend mit unverwandtem Antlitz und voll aufgeschlagenen Augen vor ihm da. Und je mehr er das liebe, holde Antlitz betrachtete, desto unbegreiflicher dünkte ihm, was ihm kurz vorher begegnet war – dieselben Augen, die ihn so zürnend angeblitzt hatten; und die jetzt so ruhig nach oben gerichtet waren wie ein sanfter Stern der Sommernacht, hatten ihn schon manchmal mit Blicken gegrüßt, aus denen es ihn anschien wie ein freundliches Morgenroth, wie der erste lichtbringende Sonnenstrahl eines schönen Tages. Als er ihr unlängst die verlaufene schwarzscheckige Kalbin, die sie so gern hatte, wiederbrachte in der finstern Nacht, da Alle schon das Suchen und die Hoffnung des Findens aufgegeben, hatte sie ihm da nicht mit einem Blick gedankt, in dem mehr zu liegen schien als die Zufriedenheit der Herrin und der Dank der Hausgenossin? Und als er neulich vom Rosenheimer Markt ihr das Lied vom schönen Tegernsee, das sie so gerne hörte und sang, gedruckt mitbrachte, war es nicht gewesen, als ob sie es schon auf der Zunge gehabt, ihn „lieber Wendel“ zu nennen und ihm zum Danke gar die Hand zu reichen? So hoch und weit die Hallen der Kirche emporstiegen, sö erfrischend kühl die Mailuft durch die offene Pforte säuselte – es war ihm zu eng und zu heiß und trieb ihn wieder hinaus in’s Freie, wo er hochaufathmend zwischen den Saatfeldern dahinschritt und so tiefsinnig in die Halme des eben in Aehren schießenden Weizens und die rothen Kleeblumen hinein sah, als wolle er das geheime Gesetz ihres Werdens und Wachsens ergründen oder als suche er das vierfache Kleeblatt, welches der Sage nach an seinen Träger das Glück zu bannen vermag.

Der Wiederbeginn des Geläuts erinnerte ihn an das Ende des Gottesdienstes und daß es Zeit sei zur Kirche zurückzukehren; unfern des Hauptthors unter den Linden blieb er stehn, weil er von dort die Wege nach allen Richtungen überblicken konnte. Bei den letzten volltönenden Cadenzen der Orgel drängte bald das strömende Volk in’s Freie und so einmüthig wie vorher zu Gebet und geistiger Erhebung eilten jetzt die Schaaren der leiblichen Erquickung im nahen Wirthshause zu. Rasch hatte die Kirche sich entleert; bald kamen an dem Harrenden nur noch verspätete Einzelne vorüber, und nicht lange, so stand Wendel wieder ganz allein unter den Linden, ohne die Erwartete erblickt zu haben: sie mußte entweder noch allein in der Kirche geblieben sein, oder er hatte, trotz seiner Aufmerksamkeit, sie dennoch im Gedränge übersehen.

Eben wollte er zur Thür um hineinzublicken, als er leichte Schritte hinter sich vernahm und, rasch sich umwendend, der Gesuchten hart gegenüber stand.

Es war wirklich Christel – aber nicht mehr streng und herrisch wie vorher; sie war sichtbar befangen, fast wie bittend sah sie ihn mit den schönen blauen Augen an und streckte ihm zu Gruß und Versöhnung die Hand entgegen.

„Ich bin vorhin recht schiech (garstig) mit Euch gewesen, Wendelin,“ sagte sie mit sanfter, leicht bebender Stimme, und des Burschen ganze Seele zitterte nach, „ich hab’ gemeint, es wär’ nur so eine übermüthige Art, daß Ihr mich während des Umgangs angeredet habt … jetzt weiß ich es freilich besser! Ich weiß es von der alten Bäckni – die hat mir drinnen beim Herausgehn Alles erzählt – wie der Vater wieder so ungut gewesen ist mit Euch, und wie Ihr so geduldig gewesen seid mit dem kranken Mann, der oft selber nit weiß, was er will … Ihr habt ihm geholfen und seid sogar weg von ihm, bloß damit er’s nicht sehen sollt’ und Ihr ihm einen Verdruß erspart … Ihr seid ein guter Mensch, Wendelin … drum thut mir’s leid, daß ich so schlecht umgegangen bin mit Euch, und drum müßt Ihr mir nit bös sein und müßt mir verzeihn, wenn ich Euch sag’, daß es mich reut…“

Wendel wußte nicht, wie ihm geschah; es war ihm zu Muthe wie einem Halbschlafenden, der sich zu regen scheut, weil er mit dem Schlummer das Paradies zu verscheuchen fürchtet, das ihm ein holder Traum vor die Seele gezaubert. …

„Wollt Ihr mir nit verzeihn, Wendelin?“ fragte sie wieder, da er noch immer wortlos vor ihr stand. „Gebt mir die Hand darauf, daß Ihr mir’s nicht nachtragen wollt.“ …

„Ja, ist es denn wahr?“ rief Wendel, welchem das Entzücken endlich den Bann der Zunge löste. „Seid Ihr es denn wirklich, Christel? Ihr kommt zu mir und redet mit mir, so lieb und freundlich wie noch nie? Redet mir doch nit vom Verzeihn … ein einziges solches Wort thät ja Alles gut machen, und wenn Ihr mir das Aergste angethan hättet! Wie könnt’ ich Euch bös’ sein wegen einer einzigen Red’. … Ich wollt’ nur, Ihr verlangtet etwas von mir: etwas recht Hartes und Schweres, das ich für Euch thun könnte, blos damit ich Euch zeigen könnte …“

Er stockte mitten im Fluß seiner Rede über dem, was er auszusprechen im Begriffe war. Verwirrung überkam ihn und theilte sich auch dem Mädchen mit, dessen Rechte er im Feuer ergriffen hatte und mit beiden Händen gefaßt hielt, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.

Beklommen und schweigend standen Beide einige Augenblicke sich gegenüber – was sie fühlten, war so viel und groß, sie fanden die Worte nicht, die es zu fassen vermochten.

„Ihr sollt mir ja wohl etwas vom Vater ausrichten,“ sagte dann Christel schüchtern. „Wo ist er denn?“

„Drüben im Bergwirthshaus,“ erwiderte Wendel erleichtert, aber mit einem Nachdruck und Feuer, als spräche er die zärtlichste Betheuerung aus. „Ihr sollt auch nachkommen und ich …“

„Und Ihr?“

„Ich … ich soll Euch hinüber führen …“ setzte er zögernd hinzu.

„Führen?“ rief Christel, die nach Mädchenart die Befangenheit rascher überwand, mit munterem Lachen, und dies Lachen hörte sich an, wie heller Vogelruf. „Das wird’s nit brauchen – ich bin wohl groß genug, daß ich auf dem Stück Weg auch ohne Führer nicht verloren gehen thät’! Aber Ihr habt wohl was Andres vor und geht nicht gern mit ...“

„Ich?“ rief Wendel entgegen. „Ach Gott – ich wüßt’ mir ja auf dem ganzen Erdboden nichts Lieberes, als bei Euch sein ... ich wollt’, ich könnt’ nicht blos das Stündel da hinüber mit Euch gehn, sondern den ganzen Tag, und immer fort, bis wo die Welt ein End’ hat und der Himmel anfangt.“

„Das wär’ mir doch zu lang,“ sagte Christel mit freundlichem Lächeln, „ich bin das Gehen nit so gewohnt – da thät’ ich allzumüd’ werden, fürcht’ ich …“

„O dafür wollt’ ich schon sorgen!“ rief Wendel eifrig, indem sie den Weg einschlugen, der in das nahe Dorf und von dort hügelauf zum Bergwirthshause führte. „Wir wollten fein langsam gehn, daß es Euch nit so hart ankommen sollt’ … ich thät’ die besten Weg’ aussuchen, und wo ein schönes Plätzel wär’, da müßtet Ihr ausrasten, und ich thät’ Euch von weit und breit das Beste holen, was es nur geben thät! ...“

Sie waren an einer Stelle angelangt, wo die Enge des Weges es unmöglich machte, nebeneinander zu gehn; Wendel blieb seitwärts stehn, um Christel vorangehn zu lassen – aber sie ging nicht; sie blieb vor ihm stehn, sichtbar entschlossen und doch ob’ des eigenen Entschlusses in holder Verwirrung erglühend.

„So gut könnt Ihr’s ja wohl haben, Wendel,“ sagte sie leise, „Ihr dürft ja nur nicht mehr fortgehn von dem Feichtenhof …“

„O mein’ – das geht doch nit!“ erwiderte er betrübt. „Wie lang’ wird’s anstehn, so übergiebt Euch der Vater das Gut … Ihr werdet Feichtenhof-Bäurin … ein anderer Bauer zieht auf und das … seht, Christel, so gern ich bei Euch bin, das könnt’ ich nicht mit anschau’n … ich ging’ zu Grund’ darüber … also ist’s doch das Gescheidere, ich gehe schon vorher …“

„Auf dem Feichtenhof,“ erwiderte das Mädchen, „zieht kein

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