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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Versuch, Worte hervorzubringen, das gelang aber nicht, es kamen nur gurgelnde, unverständliche Laute zum Vorschein. Ich hatte das vorher schon bei verschiedenen Gefangenen wahrgenommen. Das Bewußtsein der Schuld läßt gleichzeitig alle Folgen derselben übersehen, den Verlust der Ehre und der zukünftigen Existenz, das Elend, in welches die Familie versetzt ist, und die Strafe, mit welcher die Schuld gesühnt werden muß. Und das zusammengenommen erzeugt einen Schmerz, der so ungeheuer groß ist, daß er die Brust und die Kehle zusammendrückt, daß er lähmt und eine Mittheilung unmöglich macht. Das Zucken hörte nach und nach auf, Thürbeck wurde ruhiger, bei einem neuen Versuch stieß er hastig, mit tonloser Stimme, die Worte heraus:

„Ich habe Cassengelder unterschlagen, ich habe Bücher gefälscht, ich, ich –“

Er konnte nicht weiter sprechen, kein Wort weiter hervorbringen. der große kräftige Mann war bis tief in das Innerste erschüttert. Ich holte einen Stuhl herbei und ließ ihn niedersetzen. Das schien ihm wohlzuthun, er streckte die markigen Glieder, holte mehrere Male tief Athem und sah mir einige Secunden wehmüthig ernst in das Gesicht. Dann sagte er bittend:

„Haben Sie Mitleiden mit mir. Sie sind ja auch Beamter, sind wohl auch Soldat gewesen. In die Lage, in der ich mich befinde, kann jeder Beamte kommen. Ich habe gefehlt, ich bin schuldig, ich weiß das, ich bin aber durch die Verhältnisse dazu gedrängt worden. Ich bin kein Spieler, kein Trinker, kein Schlemmer gewesen, habe nur selten ein Wirthshaus besucht und jeden unnützen Aufwand vermieden. Und dennoch ein Verbrecher! Wenn Sie einige Zeit übrig haben, so will ich Ihnen sagen, wie ich das geworden bin.“

„Aber Sie sind verwundet,“ sagte ich, als mein Blick zufällig wieder auf seine Hände fiel, „Sie bedürfen ärztlicher Hülfe. Lassen Sie –“

„Nein, nein,“ unterbrach mich Thürbeck, „das hat nichts auf sich. Wenn ich davon hätte sterben sollen, so würden Sie mich nicht vor sich sehen. Ja, Herr, ich wollte mir den Tod geben, weil ich mich der Verzweiflung überließ, nicht Herr meiner Sinne war, weil ich an nichts dachte, nicht an Weib, nicht an Kind, nicht an Gott, nur allein an meine Schuld. Aber der Tod kam nicht, ich habe seit gestern auf ihn gewartet, die ganze Nacht ihn herbeigewünscht, aber er kam nicht, er befreite mich nicht von den unsäglichen Qualen, die ich ertragen muß. – Ich bin Soldat gewesen, vierzehn Jahre lang,“ fuhr Thürbeck nach einer kleinen Unterbrechung fort; „zuletzt war ich Wachtmeister bei der reitenden Artillerie. Mein Einkommen in dieser Stelle betrug monatlich mindestens fünfundzwanzig Thaler. Außerdem hatte ich für Kleidung nichts auszugeben, für Arzt und Apotheker nichts zu zahlen, meine Kinder hatten unentgeltlichen Unterricht, und ich hatte weder an den Staat, noch an die Commune, noch an die Geistlichkeit irgend etwas zu entrichten.“

Die Erinnerung an das Soldatenleben schien für den Augenblick alles Elend in Vergessenheit zu bringen. Das vorher durch Schmerz entstellte Gesicht glättete sich, die Augen wurden lebhaft, der Ausdruck von Ermüdung war nicht mehr zu bemerken, Thürbeck hatte, vielleicht unbewußt, eine soldatische Haltung angenommen. Das war indeß nur von kurzer Dauer. In noch größerer Betrübniß fuhr er fort:

„Das Alles wurde anders. Ich hatte das Unglück, mit dem Pferde zu stürzen und den Fuß zu brechen, und erhielt in Folge dessen den Abschied mit der Berechtigung, mir ein Unterkommen bei einer Civilbehörde zu suchen. Dies Unterkommen fand ich bei dem Gericht in meiner Garnisonstadt. Mit dem Tage meiner Annahme erhielt ich monatlich sechszehn Thaler zwanzig Silbergroschen Diäten. Dagegen hörte von da an Alles auf, was mir als Soldat gegeben worden war. Ich bekam keine Pension, mußte dagegen Abgaben zahlen an den Staat, an die Commune, an die Geistlichkeit und an die Schule; ich mußte mir Kleider schaffen und zwar anständige Kleider, weil ich als Beamter anständig auftreten sollte; ich mußte mir Bücher kaufen, weil ich als Soldat nichts gelernt hatte, was mir in meiner neuen Stellung hätte nützen können. Und alle diese Ausgaben sollte ich, neben den Kosten des Unterhalts für mich und meine Familie, bestreiten mit monatlich sechszehn Thaler zwanzig Silbergroschen. Da hieß es denn sich einschränken. Das Unmögliche läßt sich aber nicht möglich machen. Mein Gehalt reichte nicht hin, die allernothwendigsten Ausgaben zu bestreiten, ich mußte Credit beanspruchen. Dieser Credit war für meine Verhältnisse ungewöhnlich, ich konnte denselben aber nicht verringern, obwohl ich im Laufe eines ganzen Jahres jeden Pfennig zu Rathe hielt, mit den Meinigen häufig nur Salz und Brod verzehrte und die Kinder meist barfuß laufen ließ.“

Thürbeck machte eine Pause. Ich hatte eine Tasse Kaffee kommen lassen, die er mit der Bemerkung annahm, daß er seit gestern nichts über seine Lippen gebracht habe. Nachdem er die Tasse hastig geleert und den Verband erneuert hatte, fuhr er fort:

„Die Entbehrungen waren fühlbar, die Sorgen für den Unterhalt von großem Umfange. Das hätte mich muthlos machen können, ich fand jedoch gerade hierin eine dringende Veranlassung zum Fleiß, weil ich nur erst nach bestandener Prüfung eine Besserung meiner Verhältnisse erwarten durfte. Die Hoffnung hielt mich in dem Streben nach Ausbildung aufrecht. Nach Jahresfrist hatte ich ein gutes Examen bestanden. Kurze Zeit später wurde ich als Bureau-Assistent und Sportel-Receptor bei der Gerichtscommission in R. angestellt. Ich war glücklich, ich glaubte das Ende meiner Leiden erreicht zu haben. Mein Gehalt betrug nun jährlich dreihundertundfünfzig Thaler, so stand es in der Bestallungsurkunde. Davon wurde mir aber ein Zwölftel, also der Gehalt für einen ganze Monat, als Beitrag zum Pensionsfonds zurückbehalten. Es wurden mir ferner die laufenden Beiträge zu diesem Fonds in Abzug gebracht. Ich mußte meine Frau gegen eine hohe Prämie in die Wittwencasse einkaufen, und endlich, um mein neues Amt anzutreten, mit Weib und Kindern, Hab und Gut, meinen Wohnort wechseln und dreizehn Meilen umziehen, ohne hierfür eine Entschädigung zu erhalten. Ich war arm. Die kleinen Ersparnisse, die ich als Soldat hatte machen können, waren ausgegeben, ich hatte bereits nicht unerhebliche Schulden, und mußte deren noch weit mehr machen, um nur erst meinen neuen Bestimmungsort zu erreichen. R. ist ein kleines freundliches Städtchen. Außer dem Kreisrichter wohnen dort nur noch zwei Prediger, ein Arzt und der Bürgermeister, sonst kein Beamter. Der Kreisrichter, ein freundlicher liebenswürdiger Mann, dem man gut sein mußte, machte mich darauf aufmerksam, daß ich mich diesen Familien vorstellen müsse. Ich that das. Die Folge davon war, daß ich Einladungen erhielt, die ich glaubte nicht zurückweisen zu können, und daß ich zuletzt wieder einladen mußte. Ich zögerte damit. Der Kreisrichter, dem es nur darum zu thun war, mir den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen, und der das freundliche Verhältniß, in welches ich getreten war, erhalten wollte, drängte mich dazu, indem er meinte, daß ich dies ‚Anstandshalber‘ nicht länger hinausschieben dürfe. Das bestimmte mich endlich, den Anforderungen des gesellschaftlichen Verkehrs gerecht zu werden und neue Verpflichtungen zu übernehmen. Kurze Zeit später erkrankte erst meine Frau und dann zwei meiner Kinder. Da ich am Tage nicht im Hause bleiben, die Pflege und Wartung also nicht selbst besorgen konnte, so mußte ich neben dem Arzte und dem Apotheker auch noch eine Wärterin annehmen. Die Ausgaben, welche dadurch verursacht wurden, hinderten mich, für ältere Verpflichtungen etwas zurückzulegen. Die Folgen hiervon wurden bald fühlbar. Ich erhielt Mahnbriefe und, da diese keinen Erfolg haben konnten, bald darauf Drohbriefe. Von dieser Zeit an quälte ich mich Tag und Nacht, einen Ausweg oder ein Mittel zu finden, meine Gläubiger zufriedenzustellen. Ich stellte diesen meine Lage vor, bat um Nachsicht, und beschränkte die Ausgaben auf die wirklich nur allernothwendigsten Bedürfnisse. Das half mir nichts, ich konnte nichts erübrigen, der Gehalt war eben nur für das Allernothwendigste berechnet.“

Thürbeck schien hier zu übertreiben. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm das zu sagen. Er hörte mir ruhig zu, erwiderte dann aber mit einer Heftigkeit, die mich überraschte:

„Sie sagen mir da nichts Neues, meine Gläubiger schrieben mir dasselbe, diese wunderten sich sogar, daß ich bei meinem Gehalte nicht auskommen könne, und meinten, daß derjenige, der etwas ‚Gewisses‘ habe, seine Ausgaben danach einrichten müsse. Ach Gott, ja, die Leute hatten scheinbar nicht Unrecht. Ich hätte mir keine Kleider, keine Bücher schaffen dürfen, weil ich sie nicht bezahlen konnte; ich hätte nicht umziehen, auch nicht den Wünschen

meines unmittelbaren Vorgesetzten nachgeben dürfen und lieber auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_764.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)