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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Pyrmont wohnte in einer der kleinsten und ärmlichsten Hütten der Drechslermeister Drake, ein Tausendkünstler, ein mechanisches Genie, aber leider trotz seiner Begabung und seines Fleißes vom Glücke wenig oder vielmehr gar nicht begünstigt. Von ihm lernte der kleine Fritz, mitten in Noth und Armuth, spielend die Kunstgriffe des Handwerks, und bevor er noch ordentlich lesen und schreiben konnte, erfand er bereits einen Pulverkammerbohrer, womit er seinen Vater überraschte, der sich der Freudenthränen über die frühreife Erfindungsgabe des Sohnes kaum zu erwehren vermochte.

Obgleich der Knabe in Folge der schlechten Ernährung in seiner körperlichen Entwickelung zurückblieb und auch sein Schulunterricht noch mehr als mangelhaft war, fehlte es ihm nicht an geistiger Bewegung und selbst poetischen Eindrücken, denen sich sein Herz namentlich dann öffnete, wenn er Morgens in den thaufrischen, sonnenlichten Wald geschickt wurde, für die einzige Ziege trockenes Laub zu holen.

Zu diesen dichterischen Eindrücken der Natur kam das nicht minder anregende Leben und Treiben des berühmten Badeorts mit seinen vornehmen Badegästen, mit seinem trefflichen Orchester und mit dem schimmernden Theater. Namentlich das letztere übte auf den Knaben, wie auf die meisten begabten Kinder, seine mächtige Anziehungskraft. Als er einst vor dem Schauspielhause die dort aufgehangenen Gemälde und Kupferstiche eines industriellen Bilderhändlers mit großem Interesse betrachtete, erschreckte ihn plötzlich ein unbegreiflicher Lärm, der ihm aus dem Gebäude entgegen schallte. Auf sein Anfragen erklärte ihm der Kaufmann, daß in dem Theater der große Devrient aus Berlin gastire und der vermeintliche Lärm der ihm gespendete Beifall sei. Der Gedanke, daß ein Mensch so berühmt zu werden vermöchte, erschütterte den Knaben und machte den tiefsten Eindruck auf sein kindliches Gemüth. Seitdem zog ihn seine Sehnsucht wiederholt nach dem Theater, aber leider besaß er kein Geld, um sich den Eingang zu erkaufen. Da er aber wußte, daß sein Vater dem Director verschiedene Requisiten, unter Anderem eine Klystiersprttze, geliehen hatte, als die Posse „Rochus Pumpernickel“ gegeben wurde, so suchte er sich dadurch Zutritt zu dem ihm verschlossenen Kunsttempel zu verschaffen, daß er das besagte Instrument wiederholt anbot, gleichviel, ob Shakespeare’s „Hamlet“ oder Schiller’s „Don Carlos“ gespielt wurde, in dem Glauben, daß ohne besagte Spritze kein Theaterstück überhaupt denkbar sei!

Unter solchen Eindrücken und Anregungen war Fritz sechzehn Jahre alt geworden und die Zeit gekommen, wo er einen Lebensberuf wählen sollte. Auf Wunsch seines Vaters wanderte er mit dem leichten Bündelchen, das seine ganze Ausstattung enthielt, nach Cassel zu dem tüchtigen Mechanikus Breithaupt, um bei diesem das Nöthige zu lernen. Aber der Meister wies den schwächlichen, halbwüchsigen Burschen, dem er nichts Besonderes zutraute, unter dem Vorgeben zurück, daß er genug Arbeiter habe. Fritz jedoch bat so lange und inständig, bis der gutmüthige Breithaupt ihm gestattete, nach vierzehn Tagen wieder anzufragen. Um keinen Preis der Welt wäre er nach Pyrmont zurückgekehrt, lieber trieb er sich unter den schwersten Entbehrungen auf einem Dorf in der Nähe von Cassel herum. Sobald die Frist verstrichen, stand der kleine kümmerliche Geselle wieder vor der Thür des Meisters, der ihn nur zögernd und wider Willen aufnahm. Aber bald überraschte er seinen Lehrer durch Fleiß und Beharrlichkeit, welche die Haupttugenden Drake’s neben seiner genialen Begabung sind. Breithaupt räumte ihm einen Platz an seinem Familientische ein und bevorzugte ihn vor seinen gewöhnlichen Arbeitern. Nachdem er länger als vier Jahre hier verweilt, beabsichtigte er als Mechanikus nach Petersburg zu gehn.

Schon in Cassel zwar tauchte dann und wann in der Seele des heranwachsenden Jünglings der Gedanke auf, statt eines Handwerkers ein Künstler und zwar Bildhauer zu werden. Hatte er doch bereits als Knabe heimische Erinnerungen, Scenen aus der Hermannsschlacht in hölzerne Pfeifenköpfe geschnitten. Hier wandte er sich an den Hofbildhauer Ruhl, der ihm aber wohl in Anbetracht der ärmlichen Verhältnisse entschieden abrieth. Mit dem Entschluß, als Mechanikus in Petersburg sein Glück zu suchen, kehrte er nach Pyrmont in das Vaterhaus zurück, um seine Paßangelegenheiten zu ordnen, nachdem ihn eine gütige, aber unbekannte Hand von der ihm obliegenden Militärpflicht befreit hatte. Während seines Aufenthaltes half er dem Vater bei der Arbeit, die leider gerade damals so schwach ging, daß er noch viel Zeit übrig hatte. In einer dieser Mußestunden modellirte er ohne jede frühere Anweisung die Statue eines Schullehrers, der ein äußerst populärer Mann in dem Städtchen war. Das kleine wohlgetroffene Bild stellte er in das Fenster und bald sammelten sich die Bewohner, die bewundernd sogleich den beliebten Lehrer erkannten. Zugleich schnitt er einen Christus in Elfenbein, den ein fremder Badegast so schön fand, daß er statt der geforderten sechs Louisd'or ihm dafür zwölf zahlte.

Aufgemuntert durch diese Erfolge wagte er sich darauf an die Büste des dortigen Brunnenarztes Mundhenk, der sich stets der Familie Drake als ein freundlicher Gönner und Wohlthäter erwiesen hatte. Dieser war von seinem Bilde so sehr befriedigt, daß er unwillkürlich ausrief: „Ach! wenn Sie zu meinem berühmten Vetter Rauch nach Berlin kommen könnten!“ Diese unabsichtlichen Worte waren entscheidend für Drake’s Lebenslauf und schlugen wie ein Blitz in seine Seele. Sein Entschluß stand jetzt fest: er wollte Bildhauer werden und unter Rauch’s Anleitung sich zum Künstler bilden. Zu diesem Behufe schickte er dem berühmten Landsmann als Probearbeit eine kleine Statue, mit der Bitte, dieselbe zu beurtheilen und, wenn er sie gut finden sollte, ihn unter die Zahl seiner Schüler aufzunehmen. Als eine zustimmende Antwort erfolgte, reiste Drake nach Berlin, wo ihm Rauch den Eintritt in sein Atelier unter der Bedingung gestattete, daß der junge Eleve auf drei Jahre die nöthigen Subsistenzmittel aufweisen sollte.

Damit sah es freilich traurig aus, da Fritz im Ganzen nur über achtzehn baare Thaler zu verfügen hatte, mit denen er drei Jahre auskommen sollte. Zunächst fand er bei einem Landsmann, einem Tischler, eine Schlafstelle auf den Hobelspähnen der Werkstätte und später in dem kleinen dunkeln Gemüsekeller, wo er sein Lager mit Ratten und Mäusen freundschaftlich theilte, ohne sich in seinem gesunden Schlafe stören zu lassen. Das war freilich etwas, aber nicht viel. Das Glück ließ ihn jedoch bald die Bekanntschaft eines wohlhabenden Beamten machen, der sich in seinen Mußestunden mit mechanischen Arbeiten beschäftigte. Drake führte sich bei ihm als Liebhaber der Mechanik ein, gestand aber dem braven Manne seine Noth, worauf dieser ihm das Anerbieten machte, ihm gegen freie Wohnung und Kost bei seinen Arbeiten zu helfen, was natürlich mit dem größten Danke angenommen wurde.

Auch mit seinem berühmten Lehrer Rauch gestalteten sich die Verhältnisse täglich freundlicher. Der Meister zog den armen, schüchternen Schüler in sein Haus, wo dieser zum ersten Mal den Reiz einer höheren Geselligkeit kennen lernte. In dem Atelier arbeiteten verschiedene junge Männer, mit denen er sich bald befreundete. Vor Allen ragte schon damals der geniale Rietschel hervor, dessen höfliches, freundlich anschmiegendes Wesen zwar Drake anzog, während eine gewisse Verschiedenheit der Charaktere und des Bildungsganges keine innige Berührung aufkommen ließ. Trotzdem vertrugen sich Beide auf das Beste, wie folgende kleine Geschichte beweist. Nach gethaner Arbeit reinigten die Schüler ihre von Thon beschmutzten Hände in einem gemeinschaftlichen Becken. Während Drake sich wusch, bemerkte er an der Wand einen Zettel, den einer der Schüler angeheftet hatte. Zuerst summend, dann laut mit volltönender Stimme sang er den Zettel ab, der verschiedene Anzeigen enthielt: Tinte, Stiefelwichse, bairisch Bier, trockne Pflaumen, Federn und Papier. Rietschel, der daneben stand und wartete, stimmte mit ein; es bildete sich eine Art Wechselgesang, der, ohne daß die jungen Leute eine Ahnung hatten, zahlreiche und vornehme Zuhörer fand, da ein königlicher Prinz gerade das Atelier besuchte und die scherzhafte Production in allem Ernst für eine ihm erwiesene Huldigung hielt, für die er sich bei Rauch ausdrücklich bedankte.

Drake lebte nur seinem Beruf; am Tage arbeitete er für Rauch und des Nachts für sich an einem „Relief der Hermannsschlacht“. Dieses war fast vollendet, als eines Nachts in seiner Wohnung, die er mit einem armen Studenten theilte, Feuer ausbrach und nicht nur die Arbeit vieler Monate, sondern seine sämmtlichen Habseligkeiten zerstörte. Aber gerade das Unglück sollte dazu dienen, eine günstigere Wendung in seinem Schicksal herbeizuführen. Der edle Rauch, von Drake’s traurigen Verhältnissen unterrichtet, bot ihm in seinem Hause eine kleine Wohnung an, wodurch der junge Künstler in den Stand gesetzt wurde, seinen Lieblingswunsch auszuführen, nämlich seine Schwester aus Pyrmont

kommen zu lassen und mit ihr gemeinschaftlich zu wirthschaften.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_776.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2022)