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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Gaukler, mit der in Schlesien wohlaccreditirten Schiemang’schen Schauspielertruppe auch nach Jauer, der Stadt der einst weltberühmten – heute freilich schon in’s Reich der Sage versunkenen – Bratwürste, männiglich auch bekannt als Blüchersche Fiedelbogenwichse aus Adolf (rectius: August Ludwig) Follen’s Lied: „An der Katzbach!“ (oder ist das Lied von Karl Follen? ich bin wirklich unsicher!) nicht minder oft genannt aber auch als Geburtsstadt und Wohnsitz Frau Henriette Hanke’s.

Nachdem wir unsere Pfosten geschlagen und etwa zwei Wochen gegaukelt hatten, schlug ich eines schönen Tages alle Bedenken, die mich, den Wanderkomödianten, bisher zurückgehalten der von mir in ihren Schriften längst hochverehrten, im edelsten Wortsinne frommen Frau Hanke einen Besuch abzustatten, bei Seite, setzte mich in meinen besten Visitenstaat und machte mich kurz resolvirt auf den Weg.

Frau „Pastor“ Hanke wohnte am Ring in dem Hause, das unsere Zeichnung getreu wiedergiebt, und welches einem Kaufmann gehörte, der zwar ebenfalls den Namen Hanke führte, mit ihr aber nur „schlesisch“ verwandt war, das will sagen: so etwa im fünfzigsten Gliede vielleicht! Angelangt in dem Hause und auf dem Flur des ersten Stocks, den Frau Hanke inne hatte, trat mir hier eine saubere ältliche Person entgegen, die, auf meine Anrede, sich als „Schleißerin“ der Frau „Pastor’n“ mir freundlichst präsentirte, nach Empfang meiner Karte, auf der natürlich auch der „Charakter“ nicht fehlte, mich ein wenig warten hieß und dann ging, mich zu melden.

„Se seind willkummen!“ hinterbrachte mir nach kurzer Frist die Jungfern Schleißern (Jettel, dünkt mir, hieß die brave Person) und hielt mir die Thür offen.

Das ziemlich große, von Sauberkeit strahlende Zimmer, in das ich eintrat, war „altfränkischen Hausraths voll“. Dort in der Nische des linken Fensters auf zierlichem nußbaumausgelegten Tisch mit geschweiften Füßen stand ein kleines portatives Schreibepult mit grünem Tuch überzogen, dessen kahle Stellen von seinem Vielgebrauchtwerden zeugten. Und viel gebraucht allerdings war und wurde das kleine Pult! Hatte doch an ihm Frau Henriette, wie sie selbst mir dann erzählte, alle ihre bisher erschienenen Erzählungen niedergeschrieben, arbeitete sie doch auch zur Stunde noch täglich daran!

Dieser kleine Schreibekasten und ein Bücherschrank, hinter dessen Glasthüren grünseidene Vorhänge die Schätze seines Innern profanen Augen verhüllten, waren die einzigen Gegenstände im Zimmer, die vielleicht andeuten konnten, daß man sich im Sanctuarium einer – obendrein vielgelesenen – Schriftstellerin befand. Nichts außerdem verrieth es. Von all’ jenem Apparat, mit dem sonst wohl Schriftstellerinnen ihr Arbeitszimmer anzufüllen lieben, um sich selbst zu illustriren, sich den Anstrich der Gelehrsamkeit oder den der Genialität zu geben, war hier keine Spur vorhanden. Wohl aber spiegelte das Zimmer in seiner Gesammtheit den Geist und den Charakter seiner Bewohnerin wieder: keuscheste Frauenwürde, Frische des Gedankens und der Empfindung, Klarheit, Heiterkeit und behagliche Ruhe des Geistes, Simplicität im schönsten Sinne neben herzlichster Lust an anmuthigem Sinnengenuß. Hier sehe ich im Geist manche liebenswürdige jüngere Leserin das schöne blond-, braun- oder schwarzgelockte Köpfchen bedenklich skeptisch schütteln, ein wenig ironisch fragend: „Das Alles las der Mann sofort aus der Einrichtung des Zimmers heraus?“ Ja, schöne Leserin, Deinem Zweifel zum Trotz las ich es heraus! In der äußern Umgebung eines Menschen, insofern ihre Gestaltung seine Wahl, liest man wie in einem offenen Buche. Sie charakterisirt uns sofort den ganzen Menschen, erschließt uns seine Persönlichkeit, die Richtung seines Geistes, seinen Geschmack und seine Passionen. Allerdings gehört zu dieser Kunst des Lesens eine gewisse Summe Erfahrung, Welt- und Menschenkenntniß, die man nicht auf den Schul- und Collegienbänken und aus Büchern erwirbt. Darum überkam mich denn auch in Frau Henriettens Arbeitszimmer sofort der anheimelnde, wohlthuende Hauch jener echten und reinen Häuslichkeit, die niemals verfehlt, auch auf den zerfahrensten Sinn ihren sanft bestrickenden und hinnehmenden Zauber auszuüben.

Eine offenstehende Flügelthür, deren zurückgeschlagene, in schön geschwungenen Falten schwer herabwallende Portière den Blick durchließ, verband das Arbeitszimmer mit einem zweiten Gemach, das ich später als Speisezimmer kennen lernte und das, in seiner Art gleich würdig und reizvoll heiter ausgestattet, wie das Sanctuarium, nicht minder den feinen und reinen Schönheitssinn der Hausfrau documentirte. Im Lehnstuhl in der rechten Fensternische saß die Schriftstellerin, in ihrer äußern Erscheinung auch das prächtige Urbild einer verehrungswürdigen Matrone repräsentirend. Sie trug ein aschgraues Seidenkleid von kleidsamem, den Jahren der Trägerin wohlanpassendem Schnitt, darüber, breitgesteckt, ein blüthenweißes Spitzentuch und auf dem silbern schimmernden Scheitel eine gleichermaßen blüthenweiße Spitzenhaube. Von Figur war sie eher klein als groß, ihre Formen waren zierlich, aber noch von gefälliger Fülle und angenehmer Rundung. Alle ihre Bewegungen geschahen mit jener eigenartigen Grazie, die ein unveräußerliches Erbtheil geistig vornehmer Frauen zu sein scheint. Die Gesichtszüge der Matrone sprachen eine verständliche Sprache, sie waren ebenso bedeutsam, wie das klug und heiter blickende Augenpaar und das seelenvolle Lächeln, das um den gefällig gewölbten Mund schwebte. Bei meinem Eintritt erhob sich die Matrone, trat mir mit unverstellter Herzlichkeit einen Schritt entgegen und reichte mir die Hand, die ich ehrerbietig zu küssen wagte, was sie gütig hinnahm.

„Wie hübsch von Ihnen, eine alte einsame Frau zu besuchen!“ redete sie mich mit herzgewinnender Freundlichkeit an und deutete mit graziöser Handbewegung auf den Sessel ihrem Sitz gegenüber. „Und zu diesem Besuch einer alten Frau haben Sie sich wahrlich geschmückt wie ein Bräutigam, der zur Braut geht,“ fuhr sie heiter scherzend fort.

Unser Gespräch war im vollen Fluß, ehe ich hatte dazu kommen können, von meiner wohleinstudirten Anrede auch nur eine Phrase anzubringen.

Wovon und worüber wir plauderten? Nun, liebenswürdigste Leserin, von allem Möglichen! Unsere Conversation war hin und herspringend, schlug viele Saiten an, Eines gab das Andere – sie war, wenn auch nichts weniger als das, was man so in specie und nicht selten mit etwelchem ironischen Beigeschmack „geistreich“ zu nennen pflegt, doch heiter, anregend, anziehend, animirt, lebhaft in Rede und Gegenrede. Die würdige Frau verstand ebenso trefflich zu hören, als sie zu sprechen wußte, sie verstand aber auch, den Gast unbefangen sprechen zu machen, indem sie, frei und vorurtheilslos in ihren Anschauungen und Urtheilen, nur den Menschen und nur diesen nahm, indem sie jede Persönlichkeit ganz so gelten ließ, wie sie einmal war.

Bald nach meinem ersten Besuch ließ mich die Frau Pastorin durch ihre getreue alte Jungfer Schleißern zu Tische laden. „Ock bluß uff neie Kartuffeln“ – wie Jettel gleich bei der Einladung bemerkte. Nun ja, wir speisten allerdings auch wunderschön aufgeborstene, herrlich schmeckende neue Kartoffeln mit nußkernsüßer frischer Kleebutter, aber unser kleines Diner war außerdem, wenn auch nicht besonders reichhaltig, doch in seinen Bestandtheilen, so einfach sie übrigens waren, so vorzüglich, daß seine einzelnen Schüsseln unbedenklich dem ausgesuchtesten Diner von der Stelle fort hätten eingereiht werden können. Ich verstand mich schon damals ein wenig auf solche Dinge; habe ich doch das erleuchtete Studium der Gastronomie auch unter den ihm äußerlich ungünstigsten Verhältnissen noch zu cultiviren gewußt!

Während der vierzehn Tage, die wir noch im Städtchen weilten, besuchte ich nunmehr fast täglich Frau Hanke. War ich damals auch nicht mehr jung, so war ich doch auch noch nicht alt, und manche hochfliegende Pläne, die heute längst in Nichts zerstäubt sind, manche Ideale, heute längst gestorben, trug ich damals noch neben unzähligen süßen und reizenden Thorheiten in gluthheißem, mächtig pulsendem Herzen, und ohne Rückhalt durfte ich der vortrefflichen Greisin mein ganzes Herz ausschütten, that es auch, sicher und gewiß bei ihr des innigsten Verständnisses, des regsten Mitempfindens für Alles. Nahm sie doch sogar lebhaftesten Antheil an meiner Menschendarstellungskunst, obschon sie selbst, weil sie aus Rücksicht für ihre Gesundheit Abends das Haus nicht mehr verließ, das Theater nicht besuchte, hörte sie doch auf’s Aufmerksamste zu, wenn ich den Inhalt eines neuen oder mindestens ihr noch unbekannten Stückes ihr referirte und ihr die Auffassung der Rolle, die ich etwa darin zu spielen hatte, darzulegen und zu zergliedern suchte. Wie manchen feinen Wink wußte sie mir zu geben, wie manches kluge Wort auch über die Kunst der Menschendarstellung hat sie zu mir gesprochen! Und mit welcher erquickenden Naivetät und Offenheit erzählte sie mir aus ihrem einfachen Leben!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 793. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_793.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)