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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Begegnungen mit Zeitgenossen
Von Karl Vogt.
Nr. 1 A. v. Humboldt

Es wäre eigentlich jetzt genug über den Todten geschrieben und gesagt. Seitdem Schlagintweit-Sakunlünski in der der Kölnischen Zeitung den Schillerschen Vers:

Wie er sich räuspert und wie er spuckt,
Das habt Ihr ihm glücklich abgeguckt!

in so glänzend einfacher Tiroler Handschuhkrämer-Naivetät zur Berechtigung gebracht hat, ist eigentlich Alles erschöpft und gar Nichts mehr zu sagen. Der Artikel hat mir abermals den Beweis geliefert, daß, wenn eine Geisterwelt existirt, was ich trotz Perty stark bezweifle, doch kein Zusammenhang zwischen ihr und der Erde stattfinden kann. Bei dem Gefühle, so fürchterlich von indischen Elephantenfüßen platt in Grund und Boden gestampft zu werden, hätte Humboldt’s Seele in einem immensen Schmerzensschrei ausbrechen müssen, der die ganze Atmosphäre erfüllte hätte, wie der Trompetenstoß zum jüngsten Gerichte – denn Humboldt’s Geist umfaßte ja, nach Aller Versicherung, beide Welten. Man hat aber Nichts gehört, weder hier noch in Amerika, also. … Wie dankbar bin ich Chr. Ritter von Schlagintweit-Sakunlünski, dem ich seinen ganzen Russen-Titel von Herzen gönne, obgleich Kladderadatsch in seiner irreverentiösen Weise ihn immer nur Schnabelweid zu nennen pflegte! Kennen wir doch erst jetzt Humboldt recht, seitdem wir den deutschen Mann in seiner innersten Häuslichkeit gesehen, seitdem wir erfahren haben, wann er den Frack und zu welcher Stunde nach mittlerer Berliner Zeit er die Halsbinde, die weiße, umlegte. That er dasselbe auch, wenn er in Paris war, zu derselbe Stunde oder trug er der Längen-Differenz zwischen beiden Metropolen der Intelligenz Rechnung? Diese Frage scheint mir außerordentlich wichtig, zumal da sie ein Streiflicht auf Humboldt’s specielle Befähigung zur Astronomie werden dürfte, die von mancher Seite her in Zweifel gestellt wurde, und deshalb möchte ich zu ihrer Lösung einen kleinen Beitrag liefern.

Es war im Januar 1845. Im Laufe des Sommers hatte ich Agassiz in Neuenburg, mit dem und Desor ich fünf Jahre lang in diesem traurigsten aller Krähennester zugebracht hatte, verlassen, um in Paris meine Wohnstätte aufzuschlagen. Agassiz stand ebenfalls im Begriffe, Neuenburg, das damals noch preußisches Fürstenthum war und durch die Lieferung von Kammerdienern und Gouvernanten aus den niederen, von Diplomaten aus den höheren Ständen eng mit dem Hofe in Berlin zusammenhing, den Rücken zu kehren und nach Amerika zu wandern – seine Schulden trieben ihn über das Meer – der Goethe’sche Vers:

Widersacher, Weiber, Schulden,
Ach! kein Ritter wird sie los!

hatte stets strenge Anwendung auf ihn gefunden.

Unser Leben in Neuenburg war einfach und doch vielfach bewegt. Tags über arbeiteten wir, wenigstens Desor und ich, wie zwei junge Leute nur arbeiten können, die Kraft, Interesse und Muth haben – oft, wenn eine Lieferung abgefertigt, eine des Tags über gemachte Untersuchung geschlossen und zu Papier gebracht werden sollte, bis tief in die Nacht hinein. Abends fand man sich in einer für das damalige Fürstenthum liberalen Gesellschaft, dem cercle des marchands. Dort gab es seltsame Typen: les trois mousquetaires, drei alte Junggesellen, die sich zusammengethan hatten und gemeinschaftliche Wirthschaft führten, um einander gründlich zu ärgern – eine Anzahl von Räthen, die wir spottweise so getauft – der Commercienrath, ein dicker, witziger Kaufmann; der Studienrath, ein Professor aus Deutschland, den der hitzige Neuenburger Wein zu früh unter die Erde brachte; der Medicinalrath, ein Apotheker mit höhreren wissenschaftlichen Bestrebungen, die stets wieder in der Latwerge zu Boden fielen. Eine über Alles komische Figur war der Stadtrath, ein Mitglied jener Oberbehörde der Stadt, die aus neun Personen bestand, aber den bizarren Titel führte: „Messieurs les quatre minstraux“, wie der Volkswitz behauptete, weil sie, obgleich neun an der Zahl, doch nur für Vier Verstand hätten. Der Stadtrath hatte die Special-Mission, unglückliche gefallene Mädchen im Augenblicke, wo das Kind geboren wurde, zu fragen, wer der Vater desselben sei. Nannte die von Schmerzen und der Anwesenheit einer Magistratsperson Gequälte einen Namen, so galt das für einen geschworenen Eid und der Betreffende mußte zahlen; hielt sie aber standhaft aus und schwieg, so war das Kind ein „enfant du Prince“ (Fürstenkind) und der Fürst von Neuenburg, d. h. der König von Preußen mußte die Kosten seiner Erziehung auf seine Civilliste nehmen. Das war so eines von den vielen Stückchen Mittelalter, die in dem Musterfürstenthum üppig neben dem barbarischen Gesetzbuche der peinlichen Halsgerichts-Ordnung Kaiser Caroli des Fünften, der Carolina criminalis und anderen Ueberlieferungen fortwucherten und gegen die wir Fremde beständigen Kampf und Spott unterhielten. Wenn der Stadtrath unruhig im Zimmer auf und ab ging, dicke Wolken aus seiner langen Pfeife dampfte, unwirsche Antworten gab und bis Mitternacht ausharrte, während er sonst regelmäßig mit dem Glockenschlage Zehn nach Hause ging, so wußte man, daß seine Amtsthätigkeit in Anspruch genommen werden sollte, und dann war der Neckereien kein Ende.

Ich könnte Tage lang erzählen von dem mitteralterlichen Unsinn, der dort herrschte und der uns reichlichen Stoff zur Unterhaltung bot. Die Stadt hatte nicht einmal sechstausend Einwohner, aber nichtsdestoweniger einen „Großen Rath“ von, glaube ich, hundert Mitgliedern, die sich alle Montage feierlich in kurzen Hosen, seidenen Strümpfen, mit einem Mäntelchen und weißen Bäffchen, wie Pfarrer ausgestattet, zur Sitzung begaben und ihre Verhandlungen so geheim hielten, daß nicht einmal der Kanzleidiener in den Saal durfte, sondern das jüngste Mitglied die Thüre öffnen und, was Jener brachte, entgegen nehmen mußte. Und sie waren so stolz auf ihr Bürgerthum von Neuenburg, daß, als Agassiz fast zu gleicher Zeit Bürger von Neuenburg und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Paris wurde, man lebhaft darüber discutirte, welches die größere Ehrenbezeigung sei, und fast einstimmig zu dem Schlusse kam, da schon viele Gelehrte Akademiker, aber bis dahin noch Keiner Bürger von Neuenburg geworden sei, so müsse Letzteres doch einen weit höheren Werth besitzen.

Außer den Abwechslungen, welche Excursionen, größere Reisen auf die Gletscher, Besuche von Fremden und Wissenschafts-Genossen brachten, waren es besonders Briefe von Humboldt, welche uns in eine gewisse Aufregung brachten. Jedesmal, wenn die Casse von Agassiz die bedenklichste Ebbe zeigte und keine Aussicht auf andere Hülfe am Horizonte sich sehen ließ, wurde ein Angstruf an Humboldt erlassen, der dann mit gewohnter Gutmüthigkeit alle Segel aussetzte, um unter irgend einem mehr oder minder plausiblen Grunde seinem Souverän einige harte Thaler zu erpressen. Beihülfe zur Untersuchung fossiler Fische, zu Expeditionen auf die Gletscher, Extra-Gratificationen kamen hie und da, oft aber blieben sie auch aus und Humboldt vertröstete dann auf bessere Zeiten und bessere Launen des Monarchen. Kam nun ein solcher sehnlich erwarteter Brief, so wurde der Bann und Hinterbann der Schriftgelehrten aufgeboten, ihn zu entziffern. Lupen und Vergößerungsgläser wurden über die Krakelfüße gehalten, die von einer Ecke des Briefes in die andere krabbelten, und wenn die Prophetengabe unseres Dreiblattes nicht zur Lesung der Hieroglyphen ausreichte, so wurden andere Freunde zu Rathe gezogen – , ein Geographe, der unter Karl Ritter studirt und aus dessen Heften französische Lehrbücher zusammengestoppelt hatte, oder der Bibliothekar Monvert, der mit vier Anekdoten, die er erb- und eigenthümlich besaß und meisterhaft erzählte, seit vierzig Jahren ein unentbehrlicher Erheiterer aller großen Diners der höheren Gesellschaft war. So kam denn endlich, oft erst nach tagelangen Mühen, das Entzifferungsgeschäft zu Stande, bei welchem regelmäßig, zur Entschuldigung des Gönners, angeführt wurde, daß er sich bei seinen Reisen auf Orinoco in Ermangelung eines Tisches daran gewöhnt habe, auf dem Knie zu schreiben. Freilich kam es uns nicht in den Sinn, uns die Frage zu stellen, warum deshalb die Handschrift so unleserlich sein müsse, und wir hätten dies doch um so leichter thun können, als in ganz Frankreich, in allen Hörsälen der Collèges wie der Facultäten, keine Tische vorhanden sind und nur auf dem Knie geschrieben wird.

Manchmal mögen wir wohl bei der Arbeit, die uns ein solcher Brief machte, geflucht haben – aber im Ganzen stand uns doch Humboldt’s Bild als das eines hülfreichen, wohlwollenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_008.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)