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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Mein Gott, welch einen großen schönen Gedanken hat euer Fürst da in unseres Gottes Schöpfung hineingeworfen!“ so rief ein deutscher Dichter aus, als er an einem Sommermorgen die Wilhelmshöhe[1] zum ersten Male vor Augen hatte, und wer jemals die entzückende grüne Bergterrasse des Habichtswaldes mit ihren Bauten und Anlagen erschaute, der stimmt gewiß aus vollem Herzen dem ehrwürdigen Sänger der Messiade bei – denn kein Geringerer ist es, den wir citiren. „Ganz Europa hat nichts Herrlicheres aufzuweisen,“ meint gar ein seiner Zeit viel gelesener Reiseschriftsteller, ein Mann von Geist und Witz, der mancher Länder Städte und Menschen gesehen. In wie weit sein Wort stichhaltig ist auch nach der Begeisterung des Momentes, lassen wir dahin gestellt sein.

Der Stil von Schloß und Park, halb Renaissance, halb Rococo und Zopf, mannigfach manierirt und gespreizt, rührt zum großen Theil aus einer Zeit her, wo das landschaftliche Auge ein anderes war als heutzutage, wo man, in der Reaction gegen alle mittelalterlichen Anschauungen und Geschmacksrichtungen, „unplaisirlich“, „wüst und öde“ nannte, was uns jetzt als hochpittoresk und hochromantisch erscheint, allein das Ganze in seiner Harmonie von Natur und Menschenwerk bleibt unvergleichlich, und wenn sich der Mensch auch da und dort bemüht hat, die Natur zu corrigiren, dem Gesammteffect hat es keinen Eintrag zu thun vermocht.

Ich habe Wilhelmshöhe in allen Luftströmungen und Wetterstimmungen, in jeder Färbung und Beleuchtung gesehen, nie aber schöner als neulich beim durchsichtig klaren Himmel eines milden Herbsttages, eben als das Laub sich zu röthen begann. Vor mir die weite freie Aussicht auf das heitere Fuldathal mit der Stadt im Herzen, der stundenlangen Allee von alten Linden, die zum Plateau heraufführt, der Reihe von Zwischenstufen mit Feldern und Baumgruppen, mit Wiesen und Häusern daneben und den sanft geformten Bergen rechts und links und in der bläulichen Dämmerung des Hintergrundes; rund um mich herum der sich über drei Berge hinwegziehende köstliche Park mit seinen Büschen, seinen Blumen und Rasengründen, seinen Bächen und Weihern; dann das Schloß selbst, gefällig und imposant zugleich, mit seiner Kuppel, seiner Freitreppe und seinem Porticus; zur Seite die Riesenfontaine mit ihrer mächtigen Wassersäule; im Rücken die buntbetupften Waldhöhen mit der Löwenburg und dem Erzkoloß des Hercules, der sich gleich einem ungeheuern aufgehobenen Finger aus der Laublücke heraus in den Himmel reckt, zwischen alle dem in reizendem Wechsel Thäler, Schluchten, Felsen, Cascaden und Aquäducte und überall das fröhliche Treiben von Lustwandlern und Touristen – ein Bild, wie es das mittlere Deutschland in gleichem Einklang aller Elemente wohl nicht zum zweiten Male umschließt, ein Paradies von landschaftlicher Schönheit, um es mit einem banalen Worte bequem und verständlich zu bezeichnen, ein Ort, der so recht auf die Erde gesetzt zu sein scheint zu würdiger Erfüllung und edlem Genuß des Lebens.

So dünkt uns Wilhelmshöhe, so muß es Jedem dünken im Entzücken des ersten Anblicks, in der unbefangenen Hingabe an den Eindruck des Momentes, welchem sich Niemand entziehen kann. Bald aber kommen spukhafte Schatten hervorgekrochen aus den vergoldeten Prunksälen, aus den verschwiegenen Boudoirs, aus den kühlen Grotten, aus den lauschigen Boskets heraus, rauschen unheimlich in den Baumwipfeln, schlüpfen über den Sammet der Wiesen, tauchen aus der Fontaine empor, huschen durch die Alleen und umschweben uns, wo wir gehen und stehen, bis sie alle die Pracht vor unseren Augen ausgelöscht haben und uns schauert in der gespenstischen Gesellschaft.

Die Geister der früheren Zeiten sind es, die auf Wilhelmshöhe umgehen auch im Sonnenlichte des hellen Tages, die Erinnerungen vergangener Scenen und Gestalten, welche hier in diesen Räumen lebendig werden und auf uns eindringen, – ach, und wo ist da nur eine, bei der das Herz gern weilen möchte, bei der es sich beglückt, erhoben, veredelt fühlte? Von königlichem Prunk, von rauschender Lust, von Spiel und Fest und Sinnenzauber hat die Chronik von Wilhelmshöhe ohne Ende zu erzählen, – von Momenten höherer Weihe steht wenig geschrieben auf ihren Blättern. Ein Capitel aus jenem großen Buche der Monarchenwillkür, eine der unzähligen Variationen über „der Staat, das bin ich!“ wozu unsere deutschen Fürstenschlösser so reiche Beiträge und Illustrationen geliefert, wissen die Annalen von Wilhelmshöhe zwar nicht von Schauderdramen zu berichten, wie sie sich in den italienischen und russischen Palästen abgespielt haben; aber das auf den Schlachtfeldern Europas und weit drüben jenseits des Oceans verspritzte Blut der Landessöhne hat die Bauten, die Wasserkünste, die Gartenwunder von Wilhelmshöhe zusammengeleimt, und dort hinter den hohen Spiegelfenstern, auf den blanken Marmorparquets ihrer Säle, in den weichen Seidenpolstern ihrer wollusthauchenden Pavillons, im verborgenen Geranke ihrer Lauben ist der Schweiß und das Mark des Volkes verpraßt, ist seinen vaterländischen Gefühlen Hohn gesprochen, seine Würde mit Füßen getreten, seine Sitte und Tugend vergiftet worden. Und wenn es heute verwaist steht, das Prachtschloß, wenn von ihm aus der letzte seiner „angestammten“ Herren den Passionsweg antreten mußte in Gefangenschaft und Exil, wer möchte darin nicht das „Weltgericht der Weltgeschichte“ erkennen, nicht die nothwendige Sühne für jahrhundertelanges Verschulden?

„Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.“

Zu allen Zeiten haben die geistlichen Herren ein scharfes Auge für landschaftliche Schönheit und Vortheile gehabt. Das bezeugt die Lage von Hunderten von Klöstern und Stiften in und außerhalb Deutschlands. Geistliche Herren sind’s auch gewesen, welche die aussichtsreiche Bergterrasse des eine Stunde westlich von Kassel beginnenden Habichtswaldes, wo sich heute die Pracht von Wilhelmshöhe entfaltet, für die Welt entdeckt und zuerst besiedelt haben. Auf dem Plateau des sogenannten Winterkasten unweit des heutigen Dorfes Kirchdetmold gründeten Anfangs des elften Jahrhunderts Augustinermönche ein Kloster, das sie nach der Farbe des Felsens, auf welchem sie ihren Bau unternahmen, das Kloster auf dem Weißen Steine hießen. Die Reformation machte dem ziemlich unheiligen Leben der heiligen Väter und Mütter – denn auch diese hatten sich inzwischen auf dem Winterkasten etablirt – ein Ende, und die Stiftsgebäude, soweit sie noch vorhanden waren, begaben sich in den Dienst St. Hubert’s, als bequemer Sammel- und Rastpunkt bei den fürstlichen Jagden in den nahen Wäldern. Später führte Landgraf Moritz, der ein hochgelehrter Herr – seine Zeitgenossen gaben ihm den Beinamen „der Gelehrte“ – aber Glanz und Prunk nicht minder zugethan war als den Wissenschaften und mit seinen militärischen Neigungen den Grund legte zu der Soldatenpassion, welche bis in die Neuzeit hinab die hessischen Fürsten gekennzeichnet hat, an Stelle des halbverwüsteten Klosters ein eigenes Jagd- und Lustschloß auf, sein „Moritzheim“ oder die „Villa Mauritiana“. Der dreißigjährige Krieg, der ihm selbst die Krone kostete, zerstörte ihm auch seine Schöpfung, und lange Jahre lag der Weiße Stein wieder wüst und einsam.

Vom letzten Viertel des siebenzehnten bis über das erste des achtzehnten Jahrhunderts hinaus regierte in Hessen ein kluger, doch curioser Herr, eine Art Tausendkünstler, der selbst sich in allen möglichen Wunderwerken versuchte und eine merkwürdige Collection von seltsamen Gegenständen und Raritäten, Perpetuum-mobiles, Zauberlaternen, kunstvollen Uhren, Automaten und dergleichen zusammenbrachte. Er reiste zu diesem Behufe in Europa umher, tauschte mit anderen Potentaten, namentlich mit dem vielfach gleichgesinnten August dem Starken von Sachsen, seine Schätze aus und suchte sich mit Künstlern und Mechanikern nah und fern in Verbindung zu setzen. Italien war damals das gelobte Land für alle fürstlichen Touristen; auch Landgraf Karl pilgerte dahin. Dort sah er die Vorbilder für die großen Bauten, die er nachmals zu Hause unternahm, für das noch heute berühmte Marmorbad im Kasseler Curgarten, besonders aber für seine Schöpfungen auf dem Weißen Steine. Diesen wollte er zu einem wahren Zaubergarten umwandeln, und der italienische Baumeister, welchen er sich mitbrachte, Francesco Guarnieri, mußte ihm seine Pläne verwirklichen helfen. Ludwig der Vierzehnte hatte sein Versailles, August von Sachsen seinen Zwinger, Eberhard Ludwig von Würtemberg sein Ludwigsburg; Landgraf Karl mußte etwas besitzen, was anders und größer war als alle diese Weltwinkel, und so fiel er auf die Idee eines Riesenschlosses mit einem wahrhaftigen Riesen auf der Zinne.

Auf der höchsten Spitze der den Weißen Stein im Westen säumenden Bergkette ließ er ein kolossales Achteck setzen und als Krone des Ganzen die Statue des berühmten farnesischen Hercules in gigantischen Verhältnissen. Es war eine der „curieusen“ Ideen

  1. Die Leser der Gartenlaube erinnern sich wohl noch der großen Ansicht von Wilhelmshöhe in Nr. 21 des Jahrgangs 1860.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_040.jpg&oldid=- (Version vom 27.2.2020)