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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

es könnte ihr hier vom Leibe getreten oder zerrissen werden, und doch war sie nun mit Frau Hösli allein, der sie eine gewisse Haltung nicht absprechen konnte.

Aenny lief jubelnd in den Garten zurück, rief auf Englisch Frank herbei, wehrte sich auf Französisch gegen Fräulein Düchène, die es unternehmen wollte, ihr im Fluge den Kragen anzustecken, der ewig krumm saß, und stritt auf Deutsch mit Fräulein Körner, die nie das Spiel vorzuschlagen wußte, welches Aenny’s augenblicklicher Stimmung angemessen war. So trieb sich die Kleine gleichsam zwischen den Sprachen und Menschen zweier Welttheile herum, ohne eine Ahnung zu haben, welch’ eine Ueberlegenheit anderen Kindern gegenüber ihr das gab. Es verstand sich so von selber bei ihr. Sie dachte nicht, wie viel weiter ihr geistiger Horizont war, als der anderer Kinder, aber sie fühlte sich frei und beschwingt unter demselben, und ihre unbändige Lebenskraft fand eine mächtige Entwickelung in der ihr selbst unbewußten kosmopolitischen Anschauung, zu welcher sie erzogen wurde.

„Es wundert mich, daß Sie den Muth haben, Ihr Töchterchen so viel diesem Halbwilden zu überlassen,“ meinte Frau von Salten und sah mit Schrecken, wie der herbeigekommene Neger draußen ihren Sohn auf den Arm nahm. Aenny hatte beliebt, auf der Terrasse vor dem Hause das Reifenspiel fortzusetzen, und da der arme schwerfällige Knabe sich nicht so rasch hin und her bewegen konnte, als das Spiel erforderte, so hob Frank ihn auf seine Schulter und sprang so mit ihm den Reifen nach, daß Alfred sie bequem stechen und wieder werfen konnte. Das war ein unerhörtes Vergnügen für den Knaben. Er vergaß das Beschämende, was für ihn in seinem Alter darin lag, sich tragen lassen zu müssen, er war ja an seine Hülflosigkeit gewöhnt und die Neuheit eines solchen Spiels, die Annehmlichkeit der mühelos raschen Bewegung versetzte ihn in eine ganz ungewohnte Aufregung und Freude.

„O Herr Frank, wie gut Sie sind!“ rief er entzückt. „Werde ich Ihnen denn nicht zu schwer?“

Der athletische Mann blickte Alfred mit seinen guten großen Hundeaugen mitleidig an und sagte in seinem ergötzlichen Englisch-Deutsch: „Armes weißes Kind, – ist gerade, wie wenn kleiner Vogel fragt’, ob ist zu schwer für Baum.“

Aenny lachte über das bei Frank seltene Wagniß einer so langen Rede, auch Fräulein Düchène stimmte ein. Aber ein Blick ruhte ernst und gerührt auf seinem schwarzen Gesicht, während er die unbeholfenen Worte sprach, er kam aus den blauen seelenvollen Augen des Fräulein Körner.

Niemand hatte den Blick bemerkt, als drin im Zimmer die still beobachtende Frau Hösli, und sie lächelte heimlich vor sich hin.

Adelheid aber konnte die Vertraulichkeit zwischen dem Mohren und ihrem Sohne nicht länger mit ansehen. Sie erhob sich, um Alfred hereinzurufen. Frank setzte ihn erschrocken zur Erde, als er den unwilligen Ton hörte, mit dem die schöne Frau ihn anrief. Ein allgemeines „Ach“ erscholl, als sie erklärte, daß Alfred von dem wilden Spiel etwas ausruhen müsse. Schweigend wie immer gehorchte Alfred und setzte sich in eine Ecke des Zimmers, während Aennchen draußen weiterspielte. Aber der sicheren Beobachtung Frau Hösli’s entging es nicht, daß es in dem Knaben arbeitete und kochte, daß er einen ausbrechenden Unmuth niederkämpfte. Auch in ihr hatte sich eine tiefe Entrüstung über das engherzige Benehmen Adelheid’s geregt, und sie konnte nicht umhin, die unklare Stelle in dem Wesen der jungen Frau unnachsichtig aufzudecken. Sie sah sie mit ihren wunderbaren Nixen-Augen durchdringend an und fragte: „Es war Ihnen wohl unangenehm, daß ich den Neger mitspielen ließ?“

„Nun, es ist doch immer etwas Unheimliches, sollte ich meinen, um einen Menschen, der dem Thiere noch so nahe ist.“

Frau Hösli schaute groß auf. „Wären nur manche Menschen dem Thiere noch so nah, wie unser Frank, es wäre mehr Treue und Wahrhaftigkeit in der Welt! Dieser Schwarze hat die Stärke eines Löwen, die Anhänglichkeit eines Hundes und gerade so viel Verstand, als nöthig ist, um ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein.“

„Sie finden also, daß diese Neger wirklich brauchbare Bedienten werden können?“ frug Adelheid ungläubig.

„Ich wünsche mir keinen besseren Diener und keinen besseren Freund als unseren Frank. Er ist mein Milchbruder, denn als ich geboren ward, starb meine Mutter und es blieb auf dem entlegenen Landhaus, das meine Eltern im Sommer bewohnten, nichts übrig, als mir eine Negerin, Frank’s Mutter, zur Amme zu geben. Mein Vater wollte sie nicht von ihrem Knaben trennen und so wuchsen wir mit einander auf. Frank ist ein lebendiges Beispiel, was aus einem Neger durch Erziehung zu machen ist.“

Adelheid schüttelte den Kopf: „Das wundert mich wirklich von Jemandem zu hören, der diese Halbmenschen doch wie Sie aus eigener Anschauung kennen muß.“

„Ob ich sie kenne, diese arme mißhandelte Race!“ sagte Frau Hösli warm. „Mein Vater hielt auf seinen Pflanzungen selbst Sclaven, aber er hielt sie wie seine Kinder und sie liebten ihn wie einen Vater. Mit Stolz darf ich es sagen, er war der Wohlthäter von Hunderten armer gequälter Geschöpfe. Arbeiten mußten sie, wer muß es nicht? Aber sie durften unter seinem Schutze Familien bilden und besaßen alle die Menschenrechte, zu deren Genuß ihr niedriger Zustand sie fähig machte. Er war ein Menschenfreund, wie es wenige giebt, und wären alle Sclavenhalter seiner Gesinnung, die Sclaverei wäre eine Einrichtung der Humanität, eine Wohlthat geworden! Aber leider sind sie es nicht und so bleibt nichts übrig, als die mißbrauchte Gewalt zu vernichten, den Unmündigen eine verfrühte Mündigkeit zu geben, um sie vor der Grausamkeit ihrer Peiniger zu retten.“

„Ich habe gehört, die Neger seien durchaus unbildsam und alle Mühe, die man sich mit ihnen gebe, sei weggeworfen,“ fiel Adelheid ein.

„Möglich, daß die schwarze Race das Höchste nicht erreichen kann. Aber, mein Gott, was würde denn aus der Welt, wenn Alle nach dem Höchsten streben müßten, wer würde sich noch zu der niederen Arbeit des Lebens hergeben, wenn Alle das Höchste erreichen könnten? Wenn es uns also auch nicht gelingt, diese unglücklichen Geschöpfe zu uns emporzuziehen, wenn wir sie nur so weit bringen, wie unser gemeines Volk jetzt ist – so werden wir wenigstens allmählich einen freien tüchtigen Bauern- und Handwerkerstand aus ihnen schaffen. Ist dies nicht schon der Mühe werth? Und wenn selbst wir und unsere spätesten Nachkommen es nicht mehr erleben – denn eine viele Jahrhunderte lange Versäumniß in der Entwickelung eines Volkes holt sich auch erst in Jahrhunderten nach – mich soll doch keine Minute reuen, die ich dem Mitgefühl und der Hoffnung für die Sache unterdrückter Mitmenschen geweiht.“

„Ach, Frau Hösli, Sie sprechen schön,“ rief jetzt plötzlich Alfred, der seine Aufregung nicht mehr zurückhalten konnte. Er athmete tief und seine Augen hafteten strahlend auf Frau Hösli. „Siehst Du, Mutter, siehst Du, so denke auch ich – alle Menschen lieb haben und allen das Beste zutrauen, wie schön ist das! Ach, Frau Hösli, Sie und Aennchen dürfen wohl lieb haben, wen Sie wollen, und Niemand wehrt es Ihnen?“ Die Gefragte sah den Knaben erstaunt an; Adelheid erröthete.

„Darfst Du denn das nicht auch?“ fragte sie mit einem halb verlegenen, halb verweisenden Blick.

„Nein, Mutter, das darf ich nicht! Ach, ich darf ja so vieles nicht, was Aennchen darf, aber das ist doch das Schlimmste, denn das ist etwas, wovon ich nicht lassen kann, und ich habe immer ein böses Gewissen, weil ich hierin nie gehorsam bin und eine ganze Menge von Leuten, die ich nicht lieb haben soll, heimlich doch lieb habe!“

„Alfred!“ rief die Mutter verwirrt und ängstlich, er könne noch mehr sagen, aber Alfred schmiegte sich an Frau Hösli, als suche er bei ihr Schutz, und fuhr fort:

„Und siehst Du, Mutter, Frau Hösli steht doch so hoch über den Negern, weit höher als wir über“ – er besann sich – „über allen denen, die Ihr nicht mögt, aber sie liebt die Neger doch, wie ihre Brüder, und der Mohr da draußen darf mit Aennchen spielen; als aber unser Christian, der doch ein Weißer war, mit mir spielen wollte, sagtet Ihr auf Französisch, ein Bedienter sei kein Spielcamerad für mich. Der arme Christian verstand ein wenig Französisch und es that ihm so weh, das zu hören, daß er aus dem Dienst ging.“

„Lieber Alfred,“ sagte Frau Hösli und legte dem Knaben ihre schöne weiße Hand auf die Schulter. „Ihre Mutter wird hierzu wohl Gründe gehabt haben, die Sie noch nicht beurtheilen können. Ein Kind hält manchmal Menschen für liebenswerth, die es nicht sind, und möchte sich an Jemanden anschließen, von dem es nur Schlechtes lernen könnte. Davor müssen die Eltern es behüten und deshalb muß es gehorchen, ohne zu fragen, ob die Eltern Recht oder Unrecht haben!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_067.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2021)