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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Außer Stande nur eine Sylbe zu erwidern, von den peinlichsten Gedanken und Erwägungen gequält, entfernte sich Schwester X. Zum ersten Male begann sie die Dinge einigermaßen in ihrem wahren Lichte zu sehen, und nicht nur an dem Abbé Desherbiers, sondern auch an der Oberin selbst zu zweifeln.

In der Angst ihres Herzens nahm sie ihre Zuflucht zu dem alten würdigen Geistlichen des Klosters.

„Mein Vater,“ sagte sie, nachdem sie ihm gebeichtet hatte, „erlauben Sie mir, daß ich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen darf. Ich brauche Ihren Rath, denn ich weiß in der That nicht, was ich thun soll. Voller Angst und Unentschlossenheit, fühle ich mich durch und durch unglücklich!“

„Ach!“ erwiderte der Greis. „Schon jetzt?“

Sie vermochte nur durch ein halb ersticktes Schluchzen zu antworten.

„Du weinst, meine liebe Tochter,“ sagte der Pfarrer liebevoll. „Was ist Dir geschehen? Erschließe mir Dein Herz; fürchte Dich nicht, Du kannst ganz offen mit mir reden und darfst meinerseits der nämlichen Aufrichtigkeit versichert sein.“

„Mein Vater,“ sprach sie mit bebender Stimme und immer von neuen Thränen unterbrochen, „meine Eltern haben mir auch nicht ein einziges Mal geschrieben, sie haben eine große Reise angetreten, ohne an mich zu denken, ohne ein Wort, ja selbst ohne ein Wort des Vorwurfs!“

„Darf Dich das überraschen, mein Kind? Hast Du Dein eigenes gedankenloses, unkindliches Benehmen ihnen gegenüber vergessen?“

Schwester X. schluchzte bitterlich.

„Aber, mein guter Vater,“ stammelte sie alsdann, „ich habe sie ja mehrere Male um ihre Verzeihung angefleht.“

„Ich weiß es. Unter dem Dictat Deiner Oberin hast Du einige jener nichtssagenden Briefe geschrieben, die mehr beleidigen, als absolutes Stillschweigen. Hältst Du das für genügend, um die Wunde heilen zu können, welche Du den Herzen liebender Eltern, Denen geschlagen hast, welchen Du, als einziges Kind, in ihrem Alter ein Trost und eine Stütze hättest sein sollen?“

„Sie haben Recht, aber da ich Ihnen mein ganzes Herz und Gewissen öffnen soll, so will ich bekennen, daß auch ich mich sehr gekränkt fühle. Meine Eltern hätten doch Schritte thun sollen, mich zur Rückkehr zu bewegen. Ihr kühles Verhalten zerreißt mir die Brust! Und dann ... dann kann ich auch nicht umhin, auf wunderliche Gedanken, auf einen eigenthümlichen ... Verdacht zu kommen. Ich fange an, mißtrauisch zu werden; ich fürchte, daß entweder meine Briefe von der hochwürdigen Mutter ... gar nicht abgeschickt oder die eingelaufenen Antworten mir vorenthalten worden sind.“

Vater Gabriel schwieg und blieb eine Weile in tiefen Gedanken verloren.

„Komm morgen nach der Messe zu mir. Es ist eine ernste Sache, die reiflich erwogen sein will. Inzwischen ängstige Dich nicht, vertraue auf Gott und vor allen Dingen lasse Dir kein Wort darüber entschlüpfen – gegen Niemanden; merke es wohl: gegen Niemanden. Vergiß nicht, daß es Dein Beichtvater ist, der Dir diesen Rath ertheilt.“

(Schluß folgt.)




Aus den politischen Salons des neuen Italiens.
Von Emil Pirazzi.
1. Die Frau des Märtyrers.

Zu meinen interessantesten Begegnungen in Italien gehören zwei Frauengestalten, die, so grundverschieden sie an sich auch waren, doch das mit einander gemein hatten, daß beide Ausländerinnen waren, beide zu den leitenden Persönlichkeiten der Halbinsel in intimen Beziehungen standen – die eine in öffentlichen, die andere in geheimen – und daß jede derselben mir in einem der beiden Hauptbrennpunkte und zugleich Gegenpole der italienischen Bewegung entgegentrat: die Eine in Turin – die Andere in Rom. Beides im Jahre 1862, wo Turin noch die Hauptstadt und der Heerd war, auf dem die nationale Flamme Italiens genährt wurde. Jahre sind seitdem vergangen und ich darf über jene Begegnisse hoffentlich heute ganz offen reden, ohne fürchten zu müssen, der Indiscretion geziehen zu werden. Zugleich will ich hier noch bemerken, daß meine nachstehenden Mittheilungen durchweg auf strengster Wahrheit und gewissenhaftester Beobachtung beruhen und ich kein Wort hinzugedichtet habe.

Durch ein Empfehlungsschreiben eines der größten politischen Journale Deutschlands war ich bei dessen Mailänder Correspondenten eingeführt und von diesem wieder mit einem Grafen Belgiojoso bekannt gemacht worden, der, ein venetianischer Emigrant, mit ganzer Hingabe sich dem öffentlichen Dienste seines neu aufgebauten Vaterlandes Italien gewidmet hatte und damals auf der Municipalität von Mailand beschäftigt war. Von ihm erhielt ich eine Empfehlung an seine Tante, die Marchesa Anna Pallavicino-Trivulzio in Turin, die ihren stolzen und klangvollen Namen mit Auszeichnung trug, denn unter den politischen Frauengestalten, an denen das neue Italien wahrlich nicht arm, war sie eine der hervorragendsten.

Das weit verzweigte italienische Adelsgeschlecht der Pallavicini ist eines der ältesten der Christenheit und hat mit den Geschlechtern der Este, Massa und Malaspina den gleichen Stammvater Adalberto, der hinwiederum von den alten Markgrafen und Herzögen von Toscana abstammt. In Italien selbst erscheint das Geschlecht heute in dem fürstlichen Hause der Rospigliosi-Pallavicini zu Rom, blüht vor Allem aber in Oberitalien, in der Lombardei und Genua. Wie der Name Pallavicini den Politikern, so ist er auch den Touristen in Italien wohlbekannt von jener Villa Pallavicini in Pegli bei Genua her, die zu den berühmtesten Parkanlagen Italiens zählt und Eigenthum des Marchese Pallavicino ist, der seinen Palast in der Via Carlo Felice in Genua hat. Der Gatte der Dame jedoch, von der wir hier reden, der Marchese Giorgio Pallavicino, wohnt abwechselnd in Turin und auf seiner Besitzung in der Lombardei, führt zum Unterschied von der genuesischen Linie des Hauses den Beinamen Trivulzio und besitzt weder einen eigenen Palast noch einen fürstlichen Park, dafür aber eine Frau, die zu den geachtetsten Patriotinnen Italiens zählt, auf dessen neueste Gestaltung sie den bedeutendsten und wohlthätigsten Einfluß geübt, obschon es nicht einmal ihr eigentliches Vaterland ist.

Der Marchese, welcher zur Zeit meines Aufenthaltes in Turin nicht daselbst anwesend war und den ich daher persönlich kennen zu lernen keine Gelegenheit hatte, der mir aber später, da ich fortwährend mit seiner Gattin in Briefwechsel stand, durch den sich die Politik wie ein rother Faden hindurchschlang, von seinen neueren, durchweg die wohlwollendsten Gesinnungen und den reinsten Patriotismus bekundenden politischen Schriften wiederholt übersandte, der Marchese Giorgio Pallavicino hat die Politik ebenfalls von Jugend auf mit Hingebung getrieben. Er gehörte mit Silvio Pellico und Anderen zu jenen edeln Verbündeten, in denen sich schon sehr früh der Gedanke der nationalen Wiedergeburt des schönen Vaterlandes regte und die dafür von Oesterreich dem Tode oder den Kerkern des Spielberges überliefert wurden, was fast dasselbe hieß, wenn nicht Schrecklicheres! Dieser nationale Gedanke, welcher sich als nächstes Ziel die Abwälzung der Fremdherrschaft gesetzt, unter der Italien schmachtete, verkörperte sich am frühesten in jenem über die ganze Halbinsel ausgebreiteten Geheimbund der Carbonari, aus dem sich erst zu Anfang der dreißiger Jahre unter Mazzini das „Junge Italien“ abzweigte. Ohne eigentliche Carbonari im strengen Sinne der Schule zu sein, wurden doch die Pellico, Maroncelli und Andere, als des Carbonarismus verdächtig vor Gericht gestellt, zum Tode verurtheilt und zu vieljährigem Kerker „begnadigt“! Zu diesem Kreis oberitalienischer Patrioten, deren Tendenz zunächst gegen die österreichische Herrschaft in Italien gerichtet war, gehörte auch Marchese Giorgio Pallavicino von Mailand. Nach Fehlgang und Niederwerfung der nationalen Erhebung in Piemont von 1820 und 1821 hochverrätherischer Bestrebungen angeklagt und mit zahlreichen Gesinnungsgenossen in Mailand von den österreichischen Behörden verhaftet, hatte Pallavicino, damals noch ein Jüngling von kaum zwanzig Jahren, dort zunächst eine schwere zweijährige Untersuchungshaft zu bestehen, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_074.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)