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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Haupt des Knaben, dessen Mienen etwas Seherhaftes angenommen hatten. Es dunkelte bereits und unwillkürlich zog es die Beiden dem letzten Abendschimmer nach an das Fenster. Dort setzten sie sich einander gegenüber und Alfred schaute verklärten Blickes hinaus in die dämmernde Nacht.

„Graf Schorn brachte mir auch ein Stück von dem Dattelbrod mit, das die Mönche am Sinai backen – o Herr Feldheim, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich da gefühlt. Ich sah das stille Kloster an dem öden baumlosen sonnverbrannten Abhang und über ihm den steilen kahlen Gipfel in ewige Wolken gehüllt, als könne die Stätte, auf der das Feuer des Herrn gebrannt, nimmer aufhören zu rauchen. Ich sah in dem Kloster die Mönche, die stillen, darbenden, durstenden Mönche, die einsamen! Ich sah sie das Brod backen aus den Früchten, die sie mühsam dem dürren Boden abgewonnen, ich sah sie es austheilen mit milder Hand an die Armen und Elenden des schmachtenden Landes. Und dann sah ich sie mit den bloßen Füßen durch den glühenden Sand schreiten zu den sterbenden Opfern der furchtbaren Seuchen dieser Gegend, um ihnen den letzten Trost zu bringen, und, sehen Sie, Herr Candidat, da habe ich mich gefragt, was haben nun diese Menschen für ihr entsagungsvolles Dasein? was zieht sie dahin, den vergessenen armen Bewohnern dieses verödeten Landes den Segen des Christenthums zu bringen, und läßt sie sich anbauen an dem unwirthlichen Rücken des Sinai in der ewigen Stille, als wollten sie jetzt noch den Nachhall von Gottes Stimme hören über Tausende von Jahren hinaus? Und ich konnte mir auf alle diese Fragen nur antworten: ‚Die Liebe! Die Liebe zu Gott und zu den Menschen. Sie ist ihr Antrieb und ihr Lohn! Welch eine Liebe muß das sein!‘“ Der Knabe faltete die Hände: „Und da, da kam es über mich wie ein unaussprechliches Glück, daß es solche Liebe gäbe in der Welt und daß ich sie in meinem Herzen nachempfinden kann. Und sehen Sie, Herr Candidat, in dem Augenblick versprach ich dem lieben Gott, Johanniter zu werden.“

Der Candidat breitete die Arme aus und zog Alfred an seine Brust: „Alfred, mein Alfred,“ rief er und preßte seine Lippen auf des Knaben Mund. „Das ist nicht die Frömmigkeit eines Kindes – das ist die Frömmigkeit eines Dichters! Sei getrost, schmerzgeprüftes Kind – Du wirst überwinden, Alles, Alles – Deine Leiden, Deine Feinde, Dich selbst!“




6. Eine Mahnung.

Es tagte bereits, als Adelheid in ihrem Zimmer noch am Schreibtisch saß und einen eben vollendeten Brief überlas, um nachträglich die Komma’s hineinzumachen, die sie in der Hast, mit der sie geschrieben, vergessen hatte.

Der Brief lautete:

 „Mein Egon!
Du wirst mir wieder zürnen und dennoch mit Unrecht. Ich habe heute einen letzten Versuch gemacht, den Candidaten zu entfernen, er ist gescheitert an dem Widerstande meines Sohnes. Ach verzeih’, verzeih’, daß ich Dir um seinetwillen einen Wunsch abschlage! Er gerieth so außer sich, als er von der Trennung von seinem Lehrer hörte, daß ich es nicht über das Herz bringen konnte, weiter in dieser Sache zu gehen. Dies unglückliche Kind hat ja so wenig vom Leben, soll ich ihm das Wenige, worin es sich glücklich fühlt, noch nehmen? Nein! Ich habe ohnehin nie genug gethan, um mich dieses Kindes würdig zu zeigen, das eine so große, so engelgleiche Seele in seinem Körper birgt! Ich habe meine Pflichten gegen den Knaben stets nur mit halbem Herzen erfüllt und mußte zu meinem Schrecken heute erkennen, daß er es empfunden und daß es ihn geschmerzt hat. Du weißt nicht, Egon, und meine Feder ist zu schwach, es Dir zu schildern, was es heißt, wenn ein Kindesauge sich vorwurfsvoll auf uns richtet und wir im Innersten fühlen, daß es Recht hat! O, solch’ ein Kind ist unser lebendig gewordenes Gewissen! Vor Keinem meiner Umgebung demüthige ich mich. Ich habe an Keinem von ihnen ein Unrecht begangen. Die Tanten ertrage ich mit übermenschlicher Geduld, meinem – o daß ich ihn so nennen muß – Gatten habe ich den einzigen Zweck erfüllt, um dessen willen er mich zur Frau nahm: ich gab ihm einen Sohn, und was ich Dir gebe, mein Herz, meine Liebe, raube ich ihm nicht, denn Du besaßest es vor ihm, und er wußte, daß es nie sein werden könne. Aber vor meinem Kinde schlage ich die Augen nieder, denn es hat ein heiliges Anrecht an meine ganze Liebe, meine ungetheilte Aufmerksamkeit – und Du, Du heiß ersehnter Mann, machst ihm dieses Anrecht streitig.

Es giebt Stunden, wo es über mich kommt wie eine Offenbarung, welch’ ein unermeßliches Glück mir in der Erziehung dieser wundervollen Kindesseele aufgehen könnte, aber das Mutterglück ist das einzige, das Keinem unverdient zu Theil werden kann, denn man kann es ja nur empfinden in der strengsten treusten Pflichterfüllung! Ich ahne dieses Glück, aber ich kann es nicht verdienen. Selbst während ich an Alfred’s Bette sitze, sind meine Gedanken bei Dir! Immer und immer wieder schweift mein Wünschen und Sehnen in namenloser verzehrender Qual über das Kind hinweg zu Dir, und wenn mich dann in solchen Stunden sein Blick trifft, und es so bekümmert fragt, warum ich immer traurig sei, nach einem Lächeln sucht, nach einem Lächeln der Mutter, und sich dann, wenn es ihm nicht geworden, geschlossenen Auges still und bleich in die Kissen zurücklegt – Egon, Egon, da wünschte ich oft, daß mich die Erde verschlänge! Da stürze ich vor dem Bette auf die Kniee und der Gedanke zerfleischt mich: wenn das Kind einmal so die Augen schlösse, um sie nie wieder aufzuthun, und ich hätte ihm das letzte Lächeln der Mutterliebe versagt, weil mir das Verlangen nach dem Kuß des Geliebten die Lippen zusammenpreßte! Dürfte ich mit dem Brand dieses Verlangens auf den Lippen den erkaltenden Mund der Leiche meines Kindes berühren?

Ach Egon, theurer, treuer, geduldiger Mann, der Du meiner harrst seit fünfzehn Jahren – vergieb, vergieb, daß ich es sage: in solchen Stunden da grolle ich Dir, daß Du je in mein Leben tratest mit Deiner unwiderstehlichen Liebesgewalt, daß Du mir eine Leidenschaft eingeflößt, die mir das einzige Glück, dessen ich mich ohne Vorwurf erfreuen könnte, werthlos macht. O mein Gott, nicht nur vor meinem Sohne muß ich erröthen, auch vor dem Manne, dem ich die Leitung seiner Erziehung anvertraut und der mich täglich beschämt durch eine Hingebung an den Knaben, die mir, der Mutter, besser anstünde als ihm, dem bezahlten Fremden! Ach, es sind furchtbare Augenblicke, Augenblicke, die meine ganze Jugendblüthe abstreifen, und Du solltest nichts verlangen, Egon, das diesen Zwiespalt noch auf’s Aeußerste treibt, es ist nicht wohlgethan! Denn so oft ich Alfred um Deinetwillen vernachlässige, liebe ich Dich weniger! So oft Dein Einfluß zwischen ihn und mich treten will, empfinde ich ihn als etwas Feindliches, als Etwas, das ich ausstoßen muß. Denn so eng verbunden ist doch nichts wie die Mutter mit dem Kinde. Und wenn Du und mein Kind mit einander in meinem Herzen ringen – da bleibt doch zuletzt das Kind Sieger, ob auch mein ganzes Herz in Stücke geht! Deshalb, Egon, fordere nicht mehr, daß ich den Mann entferne, der dem Knaben Das ersetzt, was ihm durch Dich an meiner Liebe abgebrochen wird, der es mir allein möglich macht, mich stunden- und tagelang ungestört dem Gedanken an Dich zu überlassen – was ich nimmer könnte, wenn ich Alfred nicht in so guten Händen wüßte! Wahrlich, Egon, Du handelst wider Dich selbst, wenn Du wider Feldheim handelst! Wüßte ich nur überhaupt, was Dich so eifersüchtig auf ihn werden ließ! Daß ich Dir, dem ich keinen Gedanken meiner Seele vorenthalte, meine Verehrung für den seltenen Mann aussprach, – sollte Dich nicht auf so unselige Gedanken gebracht haben! Hätte ich Etwas zu verbergen, so würde ich nicht mit so unbefangener Wärme von ihm reden. Laß dieses reine Bild in einer Seele, die ja ganz nur Dir gehört, unangefochten, – ich schwöre Dir“ – hier hielt Adelheid’s den Zeilen folgende Feder plötzlich inne – „Du hast keinen Grund, auf den Blick ernster Verehrung eifersüchtig zu sein, mit dem ich es betrachte, wie man ein Heiligenbild in der Kirche ansieht!“

Sie kam nicht über die Stelle weg, ihr Auge kehrte zu dem „ich schwöre Dir“ zurück und blieb darauf haften. Eine dunkle Blutwelle stieg ihr in das Gesicht, als habe sie sich auf einmal von Jemandem beobachtet gefunden; sie sah sich unwillkürlich um, aber sie war ganz allein. Sie hatte ohne Erröthen einen Brief geschrieben, in dem jede Zeile Ehebruch athmete; aber über den Gedanken eines Treubruchs an dem Geliebten erröthete sie. Es war ihrer verirrten und doch ursprünglich edeln Natur ein unbewußtes Bedürfniß, das widerrechtliche Verhältniß, in welchem sie stand, durch Treue zu adeln, sich vor der beleidigten Sittlichkeit durch die Macht einer großen unwiderstehlichen Leidenschaft zu entschuldigen. Sobald diese blinde, aus der ersten Jugend, wo sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_083.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)