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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und bald konnte der Gardist Samuel Heinicke die Classiker dieser beiden Sprachen lesen. Inzwischen hatten sich die Eltern mit ihm ausgesöhnt, er verheiratete sich und verdiente durch Privatstunden den Unterhalt für seine Familie. Aber noch war er Soldat und eben, als er den Abschied nehmen wollte, brach der siebenjährige Krieg aus und er mußte mit in’s Feld rücken. Der Finkenfang bei Maxen brachte ihn in preußische Gefangenschaft. Er entfloh und seine Frau verbarg ihn hinter alten Fässern vor den eifrig suchenden Preußen. Als alter Dorffiedler verkleidet gelang es ihm endlich aus Dresden zu entkommen und nach Jena zu flüchten. Dort ließ sich Heinicke als Student inscribiren; aber wieder waren es die preußischen Werber, die ihn auch hier aufjagten. Jetzt, fast ganz mittellos, ging er nach Hamburg. Hier nahmen sich Klopstock und Cramer, später Reimarus, Büsch, Unzer des armen Flüchtlings an und verschafften ihm Privatstunden. Auch die Loge nahm sich seiner an, und als er später in das Haus des Grafen Schimmelmann als Secretär kam, da hatte für ihn und die Seinen die äußere Noth ein Ende. Jetzt hatte der Graf ihm auch zu der Eppendorfer Stelle verholfen.

Nach solchem vielbewegten Leben sollte also Heinicke noch immer nicht zur Ruhe kommen. – Die Gereiztheit der Eltern hatte sich auch auf die Schulkinder übertragen, sie versuchten den Schulmeister zu ärgern. Es blieb aber beim Wollen. Die mächtige äußere Erscheinung des Mannes, sein ruhig ernster Blick, vor Allem die eigenthümliche Art und Weise seines Unterrichts übten bald auf die Kinder einen solchen Einfluß aus, daß sie zum großen Staunen der Alten sehr gern in die Schule gingen und mit großer Achtung von dem Lehrer sprachen. Nun wurde auch die Stimmung im Dorfe milder, man grüßte ihn freundlicher; aber bis jetzt war nur Einer in engeren persönlichen Verkehr mit ihm getreten. Das war der schon oben erwähnte Pachtmüller. Bei einem Spaziergange sah Heinicke dessen taubstummes Kind und sein warmes Herz trieb ihn, sich dieses Unglücklichen anzunehmen. Hatte er doch schon vor Jahren, als er noch in Dresden[1] lebte, einen taubstummen Knaben mit dem besten Erfolge unterrichtet. Mit dankbarer Freude ging der Pachtmüller auf den Vorschlag, sein Kind zur Schule zu schicken, ein. Auch die andern Dorfbewohner, obschon sie im Sinne ihrer Zeit das Unglück des Pachtmüllers als Strafe Gottes ansahen, fühlten die Menschenfreundlichkeit des Lehrers heraus und näherten sich ihm mehr und mehr; nur der Pastor stand ihm noch ebenso schroff und feindlich gegenüber, wie am ersten Tage. Er konnte es nicht vergessen, daß Heinicke gegen seinen Willen hergekommen, und sein Aerger stieg, als er sah, daß der fleißige und gewandte Lehrer immer einheimischer wurde. Er suchte neue Angriffspunkte und fand sie in Heinicke’s Lehrweise, die allerdings von der damals gebräuchlichen Schulmeisterei himmelweit verschieden war. Der althergebrachte Schulschlendrian war dem denkenden Lehrer ein Gräuel und mit Eifer begann er in seiner Schule zu reformiren. Vor Allem trat er dem „quälenden, zeitraubenden, begriffslosen, leeren Wortkram im Buchstabiren und Lesen und dem damit verbundenen Bläuen und Poltern in den Schulen, wodurch das Volk von Jugend an auf die unsinnigste Weise behandelt wird,“ auf’s Entschiedenste entgegen.

Mit dieser Art Schulmeisterei wollte Heinicke nichts zu thun haben. Vom Leichten zum Schweren fortsteigend, führte er seine Schüler erst in die sinnliche und dann in die geistige Welt ein. „Lehrt eure Lehrlinge mit Worten Begriffe verbinden; und wenn ihr nicht unsinnig seid, so fangt nicht mit zarten unwissenden Kindern da an, wo ihr aufhören sollt. Der Katechismus ist daher kein Buch für begrifflose Leseanfänger.“ Das Lesen lehrte Heinicke nach der damals ganz ungewöhnlichen Lautirmethode, und hier meinte der Pastor seinen Haken einschlagen zu können. Den guten Eppendorfern kam es nämlich wider alle Natur sonderbar vor, daß ihre Kinder gern zur Schule gingen. Und wenn an schönen Sommertagen die Fenster der Schule geöffnet waren, so vernahmen die Vorübergehenden ganz seltsame Töne. Das zischte, knurrte, brummte, summte so eigenthümlich, daß, „wenn es nicht lichter Tag gewesen, den Bauerweibern die Gänsehaut über den Rücken gelaufen wäre.“. Es fiel dem Pastor nicht ein, den Leuten zu sagen, daß dies die Lautirmethode so mit sich bringe, daß jene merkwürdigen Töne weiter nichts als Sprachlaute seien, die sie ja selbst bei jedem Worte gebrauchten. Er erklärte vielmehr, daß dies ganz unnütze Allotria wären, wodurch der Schulmeister die Kinder an sich lockte, und daß überhaupt die neue Lehrweise nichts tauge, sondern sogar ganz gottlos sei.

Jetzt wurde den Bauern wieder angst; sie meinten, ihr Schulmeister wolle eine neue Religion einführen, und in der Schenke erhoben sich abermals heftige Debatten. Es kam sogar so weit, daß Einige beschlossen, in die Schule zu gehen und den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen. Und wirklich, eines schönen Tages kam ein Haufe angezogen, und die Vorlautesten drangen gewaltsam in die Schule ein. Da aber regte sich in Heinicke das alte Soldatenblut; er machte kurzen Proceß, warf die Deputation zur Thür hinaus, und hatte nun auf einmal – da überlegene Körperkraft dem Ungebildeten am meisten imponirt – vor seinen Bauern Ruhe.

Eine bald darauf folgende Schulprüfung ergab nun ein sehr gutes Resultat, und die Bauern sahen mit Erstaunen; daß man mit der neuen Schulmeisterei viel weiter komme, als mit dem alten Schlendrian. Bei ihnen hatte der Schulmeister gewonnen, aber der Pastor blieb unversöhnlich. Er suchte einen neuen Angriffspunkt. –

Wie ich schon oben erzählte, hatte sich Heinicke des taubstummen Kindes des Pachtmüllers bald nach Antritt seines Lehramtes angenommen. Er sann auf Mittel und Wege, auch dieses Kind zu bilden und ihm Begriffe beizubringen. Die mechanische Fertigkeit des Schreibens bot keine Schwierigkeit dar; aber das genügte Heinecke nicht, er überlegte, ob der arme Junge nicht so viel von der Sprache zu lernen vermöge, daß er sich nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich mit anderen Menschen verständigen könne. Die Schrift allein war seiner Meinung nach nicht dazu ausreichend, da ja ein gut Theil der gewöhnlichen Leute nicht lesen konnte. Hier gab’s nur Ein Verständigungsmittel – das gesprochene Wort. Sollte es nicht möglich sein, da der Knabe wohlgebildete Sprechwerkzeuge hatte, ihn das Sprechen zu lehren? – Heinicke forschte nach, ob nicht früher schon solche Versuche gemacht worden seien, und er fand Manches. So hatte in Spanien Ende des sechszehnten Jahrhunderts Ramirez de Carrion einen taubstummen Marquis de Priego sprechen gelehrt. Der Schüler mußte eine seinem Temperamente angemessene Purganz einnehmen, der nach einiger Zeit eine stärkere, aus Nießwurz und Blätterschwamm bestehend, folgte. Hierauf wurden ihm oben auf dem Wirbel die Haare abgeschnitten und die kahle Stelle jeden Abend mit einer Salbe von Spiritus, Salpeter, bitterm Mandelöl und Wasserlilienwasser eingerieben. Dann mußte sich der Schüler jeden Morgen mit einem Kamme aus Ebenholz die Haare wider den Strich kämmen und abermals eine Latwerge einnehmen, die diesmal aus Mastix, Ambra, Moos und Süßholz bestand. Nun mußte er sich das Gesicht waschen, Nase und Ohren ganz besonders rein abtrocknen, und der Lehrer sprach ihm dann mit lauter Stimme oben über dem Wirbel erst die einzelner Buchstaben des Alphabets, dann Sylben und endlich die Namen bekannter Dinge vor. Der Marquis soll in kurzer Zeit nach diesem Verfahren die Sprache erlernt haben. Es war klar, daß der kluge Spanier solche eigenthümliche Mittel gewählt hatte, um nicht der Inquisition in die Hände zu fallen, die das Streben, Taubstumme ohne äußere Hülfsmittel redend zu machen, bestimmt als Teufelswerk hingestellt haben würde. Damit war also Heinicke nicht gedient. Nutzbringend war ihm aber das Verfahren des Arztes Johann Conrad Amman, der, 1669 in der Schweiz geboren, sich später nach Holland gewandt hatte. Der hatte seinen Schülern die jedem Laute eigenthümliche Mundstellung gezeigt und sie veranlaßt, dieselben vor dem Spiegel nachzuahmen. Da nun aber hierbei noch kein Ton zum Vorschein kam, so ließ er den Taubstummen, während er selbst den Laut aussprach, die Hand an seine Kehle halten, um ihn auf die beim Sprechen entstehende zitternde Bewegung der Luftröhre aufmerksam zu machen. Der Schüler legte dann die Hand an den eigenen Kehlkopf und ahmte dem Lehrer so lange nach, bis der gewünschte Ton kam. Amman’s Schrift: „surdus loquens“ (der redende Taubstumme) gab unserm Heinicke wichtige Fingerzeige, obschon sie über das rein mechanische Verfahren wenig hinausgeht. Von den Versuchen, die Abbé de l’Epée in Paris mit Taubstummen anstellte, hatte Heinicke damals noch keine Kenntniß, es hätte ihm auch nichts geholfen, denn er wollte die Taubstummen entstummen, während de l’Epée die Stummen stumm ließ, und ihnen anstatt des lebendigen Wortes die Schrift und die Pantomime gab.

  1. Ob im Jahre 1754 oder 55, ist nicht genau erwiesen, aber beachtenswerth ist es, daß es in derselben Zeit war, als Abbé de l’Epée in Paris anfing, Taubstumme zu unterrichten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_086.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)