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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Heinicke benützte die von Ammann gegebenen Fingerzeige, und weiteres Nachdenken über die Natur der Taubstummen führte ihn auf den richtigen Weg. Zur großen Freude des Pachtmüllers und zum großen Erstaunen aller Eppendorfer begann der stumme Knabe zu sprechen und schon nach zwei Jahren konnte er, da er gut befähigt war, zur Confirmation angemeldet werden.

Nun denke man sich aber die Verwunderung Aller, als der Pastor – ich will seinen Namen bei dieser Gelegenheit der Vergessenheit entreißen: er hieß Granau – am nächsten Sonntag gegen Heinicke predigte und von der Kanzel herab den erstaunten Bauern nachwies, daß ihr Schulmeister ein Frevler gegen Gottes Allmacht und Weisheit sei, ein Mensch, der Gott meistern wolle, da er die, welche Gott gezeichnet habe – die Taubstummen sprechen lehre!

Der arme Pastor – er würde vergessen sein, wenn ihn sein Streit mit Heinicke nicht lächerlich gemacht hätte. Es wird aber auch erklärlich, warum Heinicke der Geistlichkeit seiner Zeit – es gab noch mehr solcher Zeloten – nicht eben günstig gesinnt war und sie in seinen späteren Schriften so hart mitgenommen hat. Zunächst kümmerte er sich nicht weiter um seinen Pastor, sondern ging mit seinem Zögling nach Hamburg zum Hauptpastor Götze[WS 1], dem bekannten Gegner Lessing’s, und machte ihn mit der Sachlage bekannt. Das sofort angestellte Examen fiel befriedigend aus und nun stand der Confirmation kein Hinderniß im Wege und Granau mußte sie auf höheren Befehl selbst vollziehen. Heinicke’s Lehrverfahren hatte die gelehrte Welt Hamburgs interessirt und zu verschiedenen Artikeln in öffentlichen Blättern Veranlassung gegeben. In Folge davon wurden dem tüchtigen Lehrer von verschiedenen Seiten her taubstumme Kinder zur Erziehung übergeben und die Eppendorfer konnten sich nicht genug wundern, was für vornehmen Besuch ihr Schulmeister fortwährend erhalte. Ihr Erstaunen fand aber keine Grenzen, als sogar 1774 der russische Graf von Vietinghof bei dem Küster vorfuhr und ihm seine taubstumme Tochter zur Erziehung übergab. Doch stets erzielte Heinicke glückliche Resultate und namentlich ward die Sprechfertigkeit seiner Schüler gerühmt. So erklärten verschiedene Hamburger Gelehrte ihre Verwunderung über die Fortschritte, welche die taubstummen Zöglinge im Sprechen machten, und waren überrascht von der Fertigkeit, mit welcher z. B. die Baronesse von Vietinghof vom Munde abzulesen verstand. Kein Wunder, daß sich der Ruf Heinicke’s mehr und mehr steigerte und ihm neue Schüler zuführte. Wie aber sollte er Zeit finden sie alle zu unterrichten? Die Dorfschule war überfüllt und forderte eine volle Manneskraft, und doch galt es auch die taubstummen Pensionäre nach Möglichkeit zu fördern. Es war eine Riesenarbeit, die auf Heinicke lastete, die nur eine solche körperlich und geistig kräftige Persönlichkeit einige Jahre bewältigen konnte. Auf die Dauer vermochte es aber auch diese eiserne Natur nicht auszuhalten. Heinicke ward seines Lebens nicht mehr froh, er fühlte, daß er sein Amt oder sein junges Institut aufgeben müsse, und es konnte für ihn nicht fraglich sein, welches von beiden. Sofort ließ sich dies aber nicht ausführen.

Da wurde ihm durch den Grafen Schimmelmann, seinen alten Gönner, der mit großer Theilnahme die Bestrebungen Heinicke’s verfolgt hatte, der ehrenvolle Antrag gestellt, er möge sein junges Institut nach Wandsbeck, dem Lieblingssitze des Grafen, verlegen. Dort werde die Anstalt sowohl durch hinreichende Localitäten, wie durch Geldmittel in ausreichender Weise unterstützt werden. Heinicke würde auf dieses großmüthige Anerbieten sofort mit Freuden eingegangen sein, wenn der Graf eine größere Stadt, etwa Altona, gewählt hätte, denn er meinte, daß „für eine Taubstummenbildungsanstalt eine große volkreiche Stadt gewählt werden müsse, in deren vielbewegtem bürgerliche Leben für taubstumme Zöglinge sich ein weites und reiches Feld nützlicher und bildender Anschauungen und Erfahrungen öffne“. Das bot aber das eben erst zum Flecken erhobene Wandsbeck nicht, und deshalb zerschlugen sich die Verhandlungen mit dem Grafen, dessen Lieblingsidee es eben geworden war, diesen Ort zu vergrößern und zu verschönern und durch die Begründung einer Taubstummenanstalt – der ersten in Deutschland – berühmt zu machen.

Die Last, welche unsern Heinicke drückte, wurde immer größer, als im Spätherbste des Jahres 1775 seine Gattin starb, die einundzwanzig Jahre hindurch so treulich Freud und Leid mit ihm getragen hatte. Sie hinterließ ihm vier Kinder.

Wohl traf ihn dieser Schlag härter, als alle früheren zusammen, aber seine kräftige Natur überwand auch diesen Verlust; in schwerer Arbeit begrub er seinen Schmerz und unablässig waren seine Bemühungen seine Methode zu vervollkommnen. Die junge Anstalt in Eppendorf wurde immer bekannter. Das Dorf wurde durch Heinicke berühmt und Besucher aller Art selbst aus den höchsten Ständen, kehrten ein in der niedrigen Küsterwohnung. Es ging nun nicht mehr länger, Heinicke mußte sich entscheiden und Ostern 1777 legte er sein Amt als Cantor, Organist und Küster in Eppendorf nieder, um nun ganz seinen Taubstummen leben zu können. Es war dies ein schwerer Schritt, er hatte für vier Kinder zu sorgen und die Eppendorfer Stelle hatte ihn reichlich genährt; aber um der guten Sache willen wagte er das Entscheidende. Zunächst blieb er noch in Eppendorf.

Da, im Sommer desselben Jahres, kam unter anderem Besuche auch ein sächsischer Hauptmann von Schröder nach Eppendorf, der sich ungemein für Heinicke’s Bestrebungen interessirte. Er erfuhr im Verlaufe des Gesprächs, daß Heinicke aus Kursachsen gebürtig sei, und fragte nun, warum Heinicke nicht nach Sachsen zurückkehre. Daran hatte Heinicke nie gedacht. Der Gedanke entzückte ihn, aber er hielt ihn nicht für ausführbar. Schröder erklärte weitere Schritte thun zu wollen, und hielt rechtschaffen Wort. Nach Dresden zurückgekehrt, sprach er mit dem Geheimrath von Ferber weiter über diese Angelegenheit und dieser, eine bei Hofe angesehene Persönlichkeit, legte dieselbe dem Kurfürsten vor und hatte in Folge davon die Freude, an unsern Heinicke schreiben zu können, daß der Kurfürst „den ihm desfalls gewordenen Vorschlag beifällig angenommen habe, und daß Heinicke seinen Willen und die Bedingungen unter welchen er sein Institut nach Sachsen verlegen würde, schriftlich einsenden möge.“

Heinicke zögerte nicht mit der Antwort. Er erbat sich eine Besoldung, die dem Einkommen der Eppendorfer Stelle – vierhundert Thaler – gleichkomme und ihn mit den Seinigen gegen Mangel schütze, wofür er sich anheischig machte, arme Taubstumme, wenn sonst für ihre Beköstigung gesorgt würde, zu unterrichten. Da ihm die Wahl des Ortes freigestellt war, so bestimmte er Leipzig hierzu.

Sehnsuchtsvoll harrte Heinicke auf den Bescheid, der so tief in sein Leben eingreifen sollte. Er sollte nicht lange warten Das kurfürstliche Schreiben kam an und mit zitternder Hand erbrach er das Siegel. Alles war ihm bewilligt, und der Brief enthielt schon das von Friedrich August eigenhändig unterzeichnete Vocations-Rescript, datirt vom 13. September 1777. Es sei unvergessen in der Geschichte der Menschheit, daß dieser Fürst der erste gewesen, der in seinem Lande eine Taubstummenanstalt errichtete.

Heinicke war glücklich. Ohne Sorge für die Existenz seiner Familie war er nun in den Stand gesetzt sich ganz seinen edeln Bestrebungen hingeben zu können. Er wendete sich zunächst nach Hamburg, um von dort aus seine Vorbereitungen zur Uebersiedlung nach Leipzig zu treffen, vor Allem aber um seinen Kindern und Pflegekindern eine neue Mutter zu geben. Diese Frau, Katharina Elisabeth Heinicke, ist für die Leipziger Anstalt von großer Wichtigkeit geworden, denn sie hat nach Heinicke’s Tode durch die schlimmsten Kriegsjahre hindurch die Anstalt geleitet und behütet und somit ihres Mannes Schöpfung vor sicherem Untergange bewahrt.

Anfangs April 1778 war endlich Alles zur Abreise fertig und Heinicke zog mit den Seinen – unter ihnen neun taubstumme Zöglinge – dem alten Heimathlande zu. Als armer hülfloser Flüchtling hatte er dasselbe vor zwanzig Jahren verlassen müssen und jetzt kehrte er zurück, gerufen von dem Fürsten des Landes, als ein angesehener, hochgeehrter Mann. Am 13. April kam er in Leipzig an, stieg im Gasthofe zum Helm, dem jetzigen Hôtel de Prusse, ab und eröffnete daselbst schon am nächstfolgenden Tage sein Institut, das erste seiner Art in Deutschland.

Nur zwölf Jahre waren ihm noch vergönnt, am 30. April 1790 starb er, aber in dieser Zeit hat er unendlich viel für das Wohl der Taubstummen gethan. Leider fand er nicht die Anerkennung[WS 2], die er verdiente. Er mußte sogar erleben, daß auch in Deutschland die Lehrweise des Abbé de l’Epée der seinigen vorgezogen wurde, daß Kaiser Joseph in Wien eine Anstalt nach französischem Muster einrichten ließ. Freilich war Heinicke hierbei nicht ohne Schuld; er war verbittert worden und schrieb eine so scharfe Feder; daß die Zahl seiner Gegner fortwährend wuchs. Literarische Fehden ohne Ende waren die Folge hiervon, und diese schadeten seiner Person und seinem Werke. Erst die Neuzeit ist

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Melchior Goeze
  2. Vorlage: Anerkennnung
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_087.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)