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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

eines unerfahrenen und von Natur zu Träumereien und religiösen Hallucinationen neigenden Mädchens machen muß! Nimmt man dazu noch die klösterliche Ausmalung künftiger Strafen gegenüber den unsäglichen Wonnen, welche die Gottheit ihren Auserwählten vorbehält, die reinen Freuden des Klosters im Vergleich mit den Abscheulichkeiten einer bösen Welt – und man wird zugeben, das ist mehr als genug, um einen unentschlossenen und schwankenden Willen schließlich zu bestimmen.

Eines Tags erhält Schwester X. die Nachricht vom Tode ihres Vaters; es traf sie wie ein Donnerschlag, um so mehr als aus dem Briefe deutlich hervorging, daß ihr Verhalten dem alten Manne das Herz gebrochen: der Gram um sie hatte ihn getödtet. Sie schrieb sofort an ihre Mutter; betheuerte ihre tiefe Reue und erbot sich, zu ihr zurückzukehren. Madame Soubeyran antwortete kurz und bitter; sie weigerte sich entschieden, die Tochter wieder bei sich aufzunehmen. Eine weitere Entfremdung zwischen Mutter und Kind führten die Advocaten herbei, die im Auftrage des Klosters darauf bestanden, daß Alles, was der Hauptmann an beweglicher Habe hinterlassen, verkauft würde, damit das Mädchen alsbald sein volles Erbtheil bekäme. Erst mehrere Jahre später erfuhr Schwester X. selbst von diesen gehässigen Proceduren. Ihre Mutter hat sie niemals wiedergesehen.

Schwester X. war eine von fünf Novizen, die sämmtlich am nämlichen Tage Profeß ablegten. Während der strengen Absonderung, welche dieser Handlung voranzugehen pflegt, werden sie dringend und unablässig ermahnt, ihre Angehörigen fortan ganz aus ihren Gedanken zu verbannen und jedes Gefühl menschlicher Neigung sich aus dem Herzen zu reißen. Dies Verbot der irdischen Liebe erleidet indeß gelegentlich Modificationen, sobald nämlich das Kloster von den betreffenden Familien Schenkungen und Stiftungen zu erwarten hat; je nach dem Maßstabe derselben wird von der Observanz der Regel entbunden.

Die Nonnengelübde begreifen zwei Perioden. Während der erstern binden sie nur auf fünf Jahre, nachher werden sie lebenslänglich. So lange die erste dieser Perioden dauert, schenkt man den Nonnen, welche Vermögen besitzen, alle mögliche Nachsicht und Berücksichtigung und beugt sich tief vor ihnen, vom Augenblicke an aber, wo das lebenslängliche Gelübde ausgesprochen wird, streicht das Haus Geld und sonstige Habe ein, welche den Nonnen gehört, und alle persönlichen Rücksichten haben ein Ende. Jetzt gilt nur noch der unbedingte Gehorsam ohne Ansehung der Person.

Nach ihrem Profeß ward Schwester X. nach einem Kloster der Auvergne geschickt, dem Mutter Ludivine als Oberin vorstand, welcher es vor Allem darum zu thun war, die äußeren Güter des Klosters zu vermehren. Auf die Art der Mittel und Wege dazu kam es ihr nicht an. So hatte sie unter Anderem neben dem Kloster ein Zufluchtshaus für ältliche Damen etablirt, das heißt für Damen, welche Geld und Gut besaßen, das sie dereinst dem Kloster vermachen konnten. Diese Damen wurden in jeder Weise gehegt und gepflegt, natürlich um so besser und sorgsamer, je größer ihr Vermögen war. Man nahm ihnen jegliche Noth und Beschwerde des Lebens ab, selbst die Mühe ihre Renten in Empfang zu nehmen und ihre Güter zu verwalten. Ueberdies wurde ihnen das Privilegium eines gottseligen Todes verbürgt. Wer möchte gegen ein solches Arrangement etwas einwenden? Kann man denn von seinem Gelde einen weiseren Gebrauch machen, als wenn man sich dadurch ein ruhiges Leben hienieden und jenseits die Freuden des Paradieses sichert?

Durch allerhand kluge Manöver hatte Mutter Ludivine es dahin zu bringen gewußt, daß sich eine der reichsten alten Damen der Gegend, ein Fräulein St. Chéron, unter diese Pensionärinnen aufnehmen ließ. Sie hatte nicht den Schatten von Religion, rauchte wie ein Dragoner und behandelte die Nonnen, als wären sie ihre Sclavinnen. Aber was that dies? Sie gebot über viele, viele Tausende von Franken, über herrliche Felder und Wiesen und war bereits in die Achtzig. Ließ sich eine bessere Acquisition für das Kloster denken, zumal ja auch noch das verdienstliche Werk der Bekehrung einer verstockten Sünderin in Aussicht stand?

In der Regel hatte eine der Laienschwestern die Bedienung der sehr cholerischen Dame zu besorgen, die bei der geringsten Kleinigkeit in Zorn gerieth und sich oft genug zu thätlichen Mißhandlungen der Dienerin hinreißen ließ. Eines Mittags aber wurde Schwester X. zu diesem Posten commandirt. Zwar fühlte sie sich gekränkt, daß ihr eine derartige niedrige Arbeit zugemuthet wurde, welche eigentlich den Nonnen nicht angesonnen zu werden pflegte, allein sie mußte gehorchen. Fräulein St. Chéron empfing sie äußerst ungnädig, da sie ihrer Meinung nach schon zu lange auf ihr Diner hatte warten müssen, und schickte sich an, die Suppenschüssel nach der Schwester zu werfen. Bald aber schien sie an dem sanften Wesen und dem ruhigen Gesicht ihrer neuen Aufwärterin Gefallen zu finden und begann diese nach ihrer Familie und nach den Gründen zu fragen, welche sie veranlaßt, sich hinter Klostermauern zu begraben. Wahrnehmend, daß Schwester X.’s Stimme bebte und ihre Augen feucht waren, rief sie aus:

„Ach, Sie haben noch etwas wie ein Herz; die Erinnerung an Vater und Mutter macht Sie weinen. Morbleu, das ist das erste Mal, daß ich so etwas sehe, seitdem ich in dieser alten Baracke eingesperrt bin!“

In diesem Stile ging es eine Zeit lang fort, und da Schwester X. sie weder unterbrach noch ihr widersprach, so faßte die Alte eine immer größere Zuneigung zu ihr. Dann erzählte sie dieser alle ihre Abenteuer ausführlich und schloß mit der Klage, daß man ihr hier im Kloster ihr Geld gestohlen habe und sie wider ihren eigenen Willen festhalte.

„Hören Sie mich an,“ setzte sie jählings hinzu. „Ich lese schon in Ihrem Herzen, in dem mir nichts mehr verborgen ist; Sie sind Ihres Lebens hier müde und möchten gern wieder jenseits der Klostermauern in der Welt draußen sein. Helfen Sie mir; wir wollen zusammen die Flucht ergreifen. Ich habe noch Vermögen, von welchem die Nonnen nichts wissen; ich habe auch einen Neffen, einen hübschen jungen Mann von dreißig Jahren. Er soll Sie heirathen. Sie werden mir eine Familie lieber Kinder schenken, denn wahrhaftig, Sie sind noch hübsch und jung trotz aller Ihrer Leiden. Was meinen Sie dazu? Ist’s unmöglich, herauszukommen? Sie sollen nicht länger von Kohl und Wassernuß[WS 1] leben …“

Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihre Eröffnungen. Es war eine Laienschwester, welche meldete, daß die Oberin Schwester X. zu sprechen wünsche. Ohne Verzug verabschiedete sich die Nonne von Fräulein St. Chéron.

„Madame Ludivine,“ schließt Schwester X. ihre Aufzeichnungen, „begrüßte mich sehr liebenswürdig. Sie drückte ihr Bedauern aus, daß durch ein Mißverständniß mir eine Aufgabe zugetheilt worden sei, welche so große Selbstverleugnung erheische; allein sie hoffe, ich werde die Gelegenheit benützen, mich in der Meinung der Schwestern zu rehabilitiren, welchen meine Gleichgültigkeit für das Interesse des Hauses zum schweren Aergerniß gereicht habe. Sie bat und, falls nöthig, befahl mir, gewisse Illusionen nicht zu zerstören, die man unter allen Umständen in Fräulein St. Chéron erhalten möchte; sie von dem wirklichen Sachverhalte nichts wissen zu lassen; ihr in nichts zu widersprechen; viel von der Bedrängniß zu reden, in der sich das Kloster bei ihrer Ankunft befunden habe, und ihrer Eitelkeit zu schmeicheln, indem man sie als unsere Stütze, unsere Gönnerin, unsere Vorsehung bezeichnete. Gelegentlich sollte ich auch religiöse Gegenstände auf das Tapet bringen und der alten Dame Angst einflößen vor ihrer letzten Stunde.

Da ich nichts erwiderte, so frug mich die Oberin, die, trotz ihrer Anstrengungen, sich liebenswürdig zu zeigen, ihren Aerger nicht verhehlen konnte: ‚Meine Schwester, soll ich mir Ihr Schweigen als Zustimmung zu meinen Ansichten oder als den Entschluß deuten, mir nicht gehorchen zu wollen?‘

‚Meine Mutter, ich will Alles thun, was ich kann,‘ antwortete ich, ‚und versuchen, mein Gewissen mit Ihren Befehlen in Einklang zu bringen.‘

‚Sie wollen’s versuchen! Bitte, keinen Vorbehalt und keine Einschränkung, meine Schwester. Ich habe die Linie vorgezeichnet, der Sie zu folgen haben, und nehme alle Verantwortlichkeit auf mich. Sie werden von Fräulein St. Chéron ein weiteres Darlehen erzwingen. Offenbar findet sie Wohlgefallen an Ihnen, und Sie werden Alles von ihr erlangen, wenn Sie sagen, daß Sie sonst sie wieder verlassen müßten. Desselben Mittels wollen Sie sich bedienen, um sie zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten zu veranlassen.‘

‚Meine Mutter!‘

‚Ich habe Ihnen gesagt, ich dulde keinen Widerspruch: ich fordere einfachen und stricten Gehorsam.‘

‚Nun denn wohl, Madame; ich will nicht gehorchen,‘ rief ich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wassermuß
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_094.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)