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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

– der Vater hört’s“ – lallte er und verfiel dann wieder in Bewußtlosigkeit.

Der Arzt erklärte nach kurzer Beobachtung das Uebel für nichts anderes als eine heftig auftretende, aber gefahrlose Kinderkrankheit. Da legte Adelheid die Hand auf’s Herz: „Ich danke Dir, mein Gott, diesmal war es nur eine Mahnung, aber ich will sie beherzigen!“




7. Kaufleute.

Der Tag, der für die Familie Salten den Schrecken mit Alfred’s Erkrankung brachte, war auch für die Familie Hösli kein so heller Freudentag, wie sie es gehofft. Heiri, der erwartete Sohn, der Erstgeborene, dem die Herzen der Eltern und Großeltern in heißer Liebe entgegenschlugen, Heiri kam nicht ganz als Der zurück, als welchen man ihn erwartet hatte. Er war ein Mensch wie aus einem Stück Eichenholz geschnitten, so festgefügt, so durch und durch tüchtig, dabei der schönste eleganteste Jüngling, der je ein Mutterauge entzückt, und der talentvollste Kopf, der je den Stolz eines Vaters ausmachte, aber er war nicht mehr das, als was er erzogen worden: ein Schweizer. Wie konnte er es auch sein? Herr Hösli war vor einundzwanzig Jahren, als der alte Bürgermeister das Seidengeschäft noch selbst leitete, als schweizerischer Consul nach Brasilien geschickt worden und hatte sich da mit seiner Frau, der Tochter eines in Rio Janeiro etablirten Nordamerikaners, vermählt. Nach seiner Verheirathung vertauschte Hösli, der sich in Brasilien nicht eingewöhnen konnte, sein dortiges Consulat mit dem in New-York.

Heiri wurde, wie alle seine Geschwister, in New-York geboren, aber er als der Aelteste brachte gerade die entscheidendsten Entwickelungsjahre dort zu, denn Hösli behielt das New-Yorker Consulat, bis sein Vater ihm das Geschäft zu übergeben und sich zur Ruhe zu setzen wünschte. Da erst, vor etwa vier Jahren, legte er es nieder und kehrte in die Heimath zurück.

Heiri hatte von je eine Vorliebe für das Bau- und Maschinenfach gezeigt und mit so außerordentlichem Erfolg seine Studien in New-York begonnen, daß Herr Hösli es nicht für rathsam hielt, ihn wieder herauszureißen und mit in die Heimath zu nehmen. Alle Eltern müssen ja ihre Söhne in die Welt, auf Reisen schicken; was war natürlicher, als daß er seinen Heiri da ließ, wo er war und wo er in einem großen befreundeten Geschäftshaus untergebracht werden konnte, wie in Abrahams Schooß. Von dort sollte er dann nach zwei Jahren über England nach der Schweiz zu den Eltern zurückkehren. So kam es auch. Aber in England gefiel es dem jungen Geschäftsmann und Ingenieur so gut, und er hatte dort Gelegenheit so außerordentliche Dinge zu sehen und zu lernen, daß er immer neuen Urlaub von dem Vater zu erbitten wußte, und so war die beabsichtigte Rückkehr über England zu einem zweijährigen Aufenthalt angewachsen. Endlich hatte aber doch Herr Hösli einen Machtspruch gethan und Heiri gehorchte, aber nicht ohne geheimes Widerstreben. Zuvor jedoch hatte er seinen Vater noch zu dem Entschluß gebracht, einen seit Jahren gehegten Plan der Vergrößerung seiner Fabrik in Ausführung zu bringen. „Vater, gieb mir gleich einen großen Wirkungskreis, eine Beschäftigung, die mich nicht zu Athem kommen läßt, sonst thut’s mit mir kein gut in Euren kleinstädtischen und kleinkrämerischen Verhältnissen!“ hatte er seinem Vater geschrieben, und der Vater hatte ihn auf diese Aeußerung hin scharf zurechtgewiesen, aber doch eingewilligt, ihm nach bestandener Prüfung die Umgestaltung der Fabrik zu übertragen.

Herr Hösli ahnte nicht, daß diese eine Aeußerung der Schlüssel zu Heiri’s ganzem Wesen war. In Amerika geboren und erzogen, in England vollends ausgebildet, ward eine gewisse – nicht Großthuerei, dazu war er zu nobel – aber eine gewisse Großlebigkeit in dem Wesen des jungen Mannes entwickelt. Ihm war Amerika die Heimath, die Schweiz aber fremd, er liebte, wie die Jugend stets thut, das Gewaltige in allen Dimensionen, und die schweizer Verhältnisse mußten ihm, mit seinem amerikanischen Maßstabe gemessen, klein und lächerlich erscheinen. Er war mit einem Wort in seinem Benehmen, in allen seinen Anschauungen und Neigungen ein Amerikaner geworden, der in das einfache Schweizerhaus, das den Großeltern zu Liebe seine alt-ehrwürdigen Bräuche mit frommer Pietät einhielt, nicht mehr paßte. Denn einmal wieder im Vaterland, war Herr Hösli auch wieder ganz Schweizer geworden; sein Sohn aber wurde es schwerlich mehr! Nach wenigen Stunden froh bewegten Beisammenseins wußten das die Herren Hösli Vater und Großvater, und ein Schrecken bemächtigte sich der Beiden, als hätten sie in dem, der sich für ihren Sohn und Enkel ausgab, und den sie mit überströmender Zärtlichkeit im Schooß der Heimath aufnehmen wollten, plötzlich einen Fremden erkannt, der die Rolle des echten Sohnes nur spielte, sehr natürlich zwar, sehr liebenswürdig und warm, aber doch nur spielte. „Bei uns in New-York ist das anders“ – war sein drittes Wort bei Allem, was ihm nicht anstand. Die Großeltern, die er ja noch nicht gesehen hatte, behandelte er mit Liebe und Respect, aber mit einer Art von Mitleid. Daß sein Vater und seine Mutter sich so gründlich „eingeschweizert“ hatten, war ihm unbegreiflich und das „Züridütsch“ war eine scheußliche Sprache, die er nie lernen wollte.

Und die Herren Hösli Vater und Großvater sahen sich einander an schweren, umdüsterten Blicks, und das Auge des Alten schien zu sagen: „Siehst Du, es ist gekommen, wie ich es prophezeit – es thut kein gut, solch junges Blut vier Jahre lang in der Fremde zu lassen.“

Herr Hösli der Vater aber stand auf und ging schweigend hinaus. Der Abend dämmerte über dem See, und Herr Hösli trat mit seiner gepreßten Brust an die Balustrade und athmete die bange Sorge vom Herzen herunter in die weite, in die ätherreine Luft hinaus, die kein noch so schmerzlicher Seufzer aus Menschenbrust je beschweren konnte; denn hätte er’s gekonnt, schon längst wären Alle, die da lebten, Glückliche und Unglückliche, erdrückt worden von der ungeheuren Wucht solch einer schmerzverdichteten Atmosphäre!

Und während er so dastand und hinausschaute in die duftige Ferne und der See – der alte traute See – zu seinen Füßen murmelte, der ihn und seine Ahnen und Urahnen von Kindheit auf geschaukelt und getragen wie ein treuer Wärter, da kam auch neue Zuversicht über ihn. „Er wird sich wiederfinden!“ sprach er zu sich selbst und sandte liebend und hoffend den Blick in die Ferne nach den grau verschwimmenden Gebirgen mit ihren weißen Spitzen. Da haftete sein Auge wie trunken an einer Stelle. Was war das? Dort oben auf den höchsten Gipfeln erglühte plötzlich eine Zacke feurig roth. Dunkler und dunkler ward es, und als glimme in den Gletschern ein verborgener Brand, der nur sichtbar würde, nachdem das Tageslicht erloschen, so erleuchtete sich mit der sinkenden Nacht Firn um Firn, als sollten die alten Hüllen von Eis schmelzen an der inneren Gluth. Wie eine Braut, die von dem Kuß des Geliebten träumt, im Schlummer erröthet, so schimmerte purpurn die Erinnerung durch die kristallenen Stirnen der schlummernden Alpen, die flammende Erinnerung an den heißen Kuß des Tages und der dunkle Spiegel des Sees strahlte den rosigen Schein wieder, ruhig, traumversunken.

Das war das Nachglühen der Alpen, das von Millionen, die da kommen, um die Wunder der Schweiz zu schauen, oft nicht Einer gesehen, das kein Schweizer erblickt, ohne daß es ihn selbst auf die Kniee niederzieht.

Und Herr Hösli, der ernste trockene Geschäftsmann, stand wie in Zauber befangen, aus dem zähen stillen Schweizerherzen stiegen wohlthätig warm die Thränen auf.

„Vater, was ist das?“ tönte jetzt plötzlich die Stimme seines Sohnes hinter ihm, und der Mann wandte sich um, zog den Sohn in seinen Armen an das Ufer und deutete hinaus: „Sieh, mein Sohn, das ist Deine Heimath!“ Die sonst so sichere Stimme zitterte ihm, er konnte nicht mehr sagen – er brauchte auch nicht mehr zu sagen! –

(Fortsetzung folgt.)




Bestätigung. Die Mißhandlung der drei jungen Deutschen in Bologna, von welcher Nr. 1 der diesjährigen Gartenlaube berichtet, wird uns durch eine Zuschrift von Seiten des „Vorstandes des deutschen Hülfsvereins in Basel“ soeben mit dem Zusatze bestätigt, daß die drei Genannten, Koch, Rinau und Schultz, nachdem sie vom deutschen Hülfsverein in Bern mit Freikarten bis Mannheim und dem nöthigen Reisegeld versehen worden, am 26. November v. J. außerdem von dem deutschen Hülfsverein in Basel noch in den Stand gesetzt wurden, ihr Reisegepäck auf der Post auszulösen. Mit Freuden lesen wir auch in dem Augenblick, da unser Blatt in die Presse geht, die Mittheilung der Zeitungen, daß es nunmehr dem Gesandten des Norddeutschen Bundes gelungen ist von der italienischen Regierung eine Geldentschädigung für die drei Reisenden durchzusetzen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_112.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)