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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


10. Die Vettern.

Jetzt begann auch endlich einmal im Hause der Salten neues Leben.

Alles war wie verwandelt, Menschen und Gegenstände. Es war ein Putzen und Fegen und Ausbessern bis auf den Grund, denn Graf Schorn sollte den alten Glanz der Salten nicht vermissen, wenn er kam. Wika commandirte den ganzen Tag im Hause herum hinter den Mädchen d’rein, die von Seifenschaum trieften und Alles, was Farbe hielt, unter Wasser setzen mußten. Sogar der leichtsinnigen Lilly, die sonst nie abstäuben durfte, weil sie Alles zerbrach, wurden einige ungefährliche Gegenstände zur Reinigung anvertraut.

Der Freiherr dressirte den ganzen Tag einen neuen Bedienten, der nichts begriff, als daß er bei seinen Uebungen für jedes Glas Wasser, welches er credenzte, ohne es zu verschütten, einen Centime und für jede Platte, die er um den Tisch servirte, ohne Löffel oder Gabel herunter zu werfen, zwei Centimes bekommen sollte.

Bella endlich hatte sich die schwerste Aufgabe gestellt. Sie wollte noch bis zur Ankunft des Vetters einen ganzen Vorrath wollener Leibchen und Binden für das große Johanniterspital, zu dessen Vorstand Schorn gehörte, fertig machen, welchen dann der liebenswürdige Vetter in seinem Koffer oder auch in einem besonderen Koffer portofrei mitnehmen durfte. Wie würde sich der edle Mitbruder in Christo über diese holde Fürsorge und Theilnahme für die Bestrebungen seines hohen Ordens erbauen! Diese Freude mußte ihm um jeden Preis verschafft werden, und die gute Seele nahm sogar sechs arme Tagelöhnerskinder, welche den Vater oder die Mutter verloren hatten, auf ihr Zimmer; die mußten ihr den ganzen Tag stricken helfen, wofür sie ihnen in ihrer christlichen Güte und Barmherzigkeit das Essen gab und sie schöne Bibelsprüche auswendig lernen ließ. So sorgte sie doch auch zugleich für das Seelenheil ihrer kleinen Mitarbeiterinnen an dem wollenen Werke Christi – und wenn eines der Mädchen recht fleißig gewesen – o Freude! dann bekam es – sie kannte keine Grenzen, wenn sie einmal im Wohlthun war – dann bekam es gar eines der hübschen frommen Büchelchen, auf Fließpapier gedruckt, „zur Belehrung und Veredelung der christlichen Jugend“, mit deren Verbreitung ein religiöser Frauenverein die eifrige Bella betraut hatte.

Die kleinen Mädchen dachten wohl manchmal, solch ein warmes Kittelchen für den Winter wäre ihnen lieber! Sie wußten eben nicht, was für ein Unterschied zwischen den Armen eines Vereins, wo Gaben und Geber einregistrirt werden, und den Armen besteht, die ihre Almosen genießen, ohne daß Jemand etwas davon erfährt.

So hatte Jeder im Hause seinen Wirkungskreis, innerhalb dessen er den Empfang des geehrten Gastes vorbereitete, selbst der Candidat und Alfred trieben ihm zu Ehren eifrig die Geschichte der Johanniter, nur Adelheid kümmerte sich um nichts und ging herum wie in einen Traum verloren. In dem allgemeinen Trubel bemerkte es zum Glücke Niemand, nur die wachsamen Augen des Candidaten verfolgten sie unablässig, und gerade ihn vermied sie am ängstlichsten!

Endlich war der Tag der Ankunft Egon’s da. Der Freiherr freute sich auf den großen Vetter und Alfred auf den kleinen. Adelheid ließ sich den ganzen Morgen nicht sehen, „die gnädige Frau machten Toilette“, so oft nach ihr gefragt wurde. Der alte Herr fuhr mit Alfred und dem neuen Bedienten nach Zürich hinein, um die Gäste abzuholen. Die Tanten versammelten sich schon in großer Aufregung im Besuchzimmer, Bella strickte krampfhaft die letzte Binde von einem Dutzend fertig. Wika las noch schnell die Zeitung und Lilly flickte sich am Leibe einen langen Riß in ihrem einzigen Staatskleide zu, der wieder – sie begriff nicht wie – hineingekommen war. Adelheid zeigte sich noch immer nicht.

„Thue mir den Gefallen, Lilly,“ sagte Wika streng, „und wackle nicht immer mit den Zähnen, wenn der Graf da ist. Es ist eine unanständige Gewohnheit.“

„Ja, das ist wahr,“ bemerkte Bella, „besonders bei Tische! Man meint immer, sie fallen Dir einmal auf den Teller.“

Es war die Art der Schwestern, ungewohnte Ereignisse dadurch einzuweihen, daß sie Lilly im Voraus für jede von ihr zu erwartende Ungehörigkeit auszankten.

„Lieber Himmel, wie soll ich’s denn machen,“ warf Lilly schüchtern ein, „wenn mir das Gebiß locker ist und nicht mehr hält?“

„Nein“ schrie Wika, „es hält Dir schon, lüge nicht, aber Du spielst immer mit der Zunge daran herum, wenn Du Langeweile hast, und schiebst es hin und her.“

„Und dabei hast Du beständig den Mund offen wie ein kleines Kind. Man muß sich ja für Dich schämen!“ sagte Bella.

„Laßt mir neue Zähne machen, dann braucht Ihr Euch nicht zu schämen,“ sagte Lilly und verzog weinerlich das Gesicht.

„Trag Dein Geld zu Christus und nicht zum Zahnarzt!“ mahnte Bella streng.

„Zu Christus? Wo soll ich’s denn da hintragen?“ fragte das arme Kind mit einem Anflug sehr gewagten Trotzes.

„Weißt Du ’s nicht, dummes Ding? Gieb’s nur Bella, die hat seine directe Adresse!“ höhnte nun Wika ihrerseits die ältere Schwester. „Ueberdies findest Du in jedem Wohlthätigkeitsverein einen Briefkasten für unseren Herrn Jesus – aber es werden nur Geldbriefe und Werthsachen angenommen.“

„Ich will nur sehen, welche Strafe Gott noch für Dich aufgespart hat, Du giftgeschwollene Lästerin!“ flüsterte Bella und ihre Lippen wurden so fein und dünn wie zwei Messerschneiden, während Wika aus vollem Halse lachte und Lilly ganz heimlich einer kleinen harmlosen Schadenfreude genoß.

„Jetzt kommen sie,“ schrie Wika und deutete nach einem Kahn, der sich dem Ufer näherte. Man hatte von diesem Fenster aus den Blick auf den See frei.

„Schnell die Handschuhe an!“ befahl Bella, steckte ihr Strickzeug in die Tasche, daß es einen dicken Auswuchs an ihrer hagern Gestalt bildete, und zwängte ihre krummen dürren Finger in ein Paar großer Glacés, die sie unter dem Preise gekauft, weil sie Sporflecken hatten. „Lilly, Du ziehst Handschuhe an,“ befahl sie, „ohne Widerrede!“

Lilly fuhr ohne Widerrede in ihre schmutzigen Glacés und bemerkte leider zu spät, daß es ein brauner und ein grauer war.

„Jetzt bemühen sich die Gnädige endlich herunter,“ sagte Wika, die am Fenster Alles beobachtete. „Schön ist das Weib, schön wie die Sünde – das muß ihr der Neid lassen!“

„Ja wohl, schön wie die Sünde,“ betonte Bella mit bekümmerter Miene, „mögen die Engel des Herrn jeden schuldlosen Mann vor ihr bewahren.“

Adelheid schwebte mehr, als sie ging, den Weg über die Kastanienterrasse dem See zu. Sie war wirklich blendend anzusehen. Sie trug ein durchsichtiges weißes Kleid mit kleinen eingewirkten Margueritenblumen und grünen Blättern übersäet. Durch die wild aufgebauschten Locken hatte sie ein flatterndes hellgrünes Band geschlungen, das an der Seite nachlässig von einem Büschel wirklicher Marguerites zusammengehalten war. Was Natur und Kunst thun können, um ein Weib unwiderstehlich zu machen, das war bei Adelheid geschehen und selbst die Mumie Bella durchschauerte eine entsetzensvolle Ahnung von dem Eindruck, den dieser Reiz auf einen Mann mit jungen Sinnen machen müsse.

Den breiten weißen Strohhut trug Adelheid in der Hand; es wäre ja schade gewesen, wegen der paar Schritte die wundervolle Frisur zu verdecken. Ihre wallenden Haare leuchteten weit hin unter dem grünen Kastaniendach. „Helione,“ flüsterten ihr unhörbar zwei Lippen am einsamen Giebelfenster nach. „Helione,“ wiederholten es tausendfach die Lüfte, wo sie ging. „Helione,“ klang das Echo in ihr selbst.

Dort kam ihr Der entgegen, welchem sie Sonne war, und sie ging ihm auf in ihrer ganzen Strahlenpracht, daß er versengt war bei dem ersten Blick, versengt bis in’s Herz hinein. Sie war so prunkhaft und sieghaft in diesem Augenblicke – jede Kraft will sich ja bethätigen, und ihre Kraft war ihre Schönheit und heute machte sie sich wieder einmal geltend. Das Wunder ihrer Erscheinung wirkte auf sie selbst zurück. Sie fühlte den Druck der Luft als eine huldigende Liebkosung. Es war ihr, als umwogten sie die Wellenlinien der eigenen wundervollen Formen wie eine warme wonnige Fluth, in der sie sich schaukelte. So mußte Aphrodite empfunden haben, als sie sich aus dem Schaume des Meeres werden fühlte und ihr göttlicher Leib sie halb noch als Woge umfloß, ehe er sich verdichtete zu dem Urbild aller Körperschöne!

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_132.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)