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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

guter Leute Kind damals lange Röcke, während sie bei deutschen Studenten gar nicht kurz genug sein konnten, obgleich damals die Schützenfeste und die Schützenbrüder-Joppen noch nicht erfunden waren. Mein holländischer Freund studirte Naturwissenschaften, und zwar mit solchem Fleiße, daß er in der That eine, wenngleich etwas bestrittene, Autorität in seinem Fache geworden ist. Mit nicht minderem Eifer befleißigte er sich der deutschen Sprache. Dabei stellte sich aber die seltsame Erscheinung heraus, daß das Deutsche auf der einen und seine Muttersprache von der andern Seite bei ihrer großen Verwandtschaft so in einander überliefen, daß daraus ein Drittes entstand, das weder Deutsch noch Holländisch war. Als er zwei Jahre in Deutschland studirt hatte, kehrte in den Briefen seiner Eltern immer häufiger die Klage wieder, des Sohnes Schreiben nach Hause wimmelten von abscheulichen Germanismen und seien kaum noch zu verstehen. Wir Studenten dagegen wollten uns todt lachen über seine Hollandismen. Er seinerseits aber lachte über unsere Studentenstreiche, über unsere Senioren- und Corps-Convente, unsere Paukereien und Pro-patria-Skandäler, unseren Pauk- und unseren Bier-Comment – Dinge, die wir Alle als echte „Corps-Simpel“ mit der größten Ernsthaftigkeit betrieben, als hinge das Wohl der Welt davon ab. Er hatte im Vergleich zu uns etwas Gereiftes und Altkluges und, wie wir meinten, sogar etwas Altmodisch-Verzopftes. Er hieß deshalb später nicht mehr „der fliegende Holländer“ (denn dieser Cerevis-Name bezog sich doch nur auf eine Aeußerlichkeit, welche sich durch die Scheere beseitigen ließ), sondern, entsprechend seinem seriösen Charakter, „der Onkel aus Holland“ oder schlechtweg der „Onkel“. Dabei hatte aber dieser ernsthafte Onkel manchmal ganz pudelnärrische Einfälle und äußerte die kindischste Freude an studentischem Schabernack. Unter seiner Führung verstopften wir eines Nachts die Abflüsse des Stadtbrunnens, so daß Morgens der Markt unter Wasser stand; wir zogen ein ander Mal durch die nächtlichen Straßen, bewaffnet mit einem Topfe Kienruß und zwei Stangen, an deren einer ein Pinsel befestigt war; den Leuten, welchen wir nicht wohl wollten, klopften wir mit der einen Stange an einem Schlafzimmerfenster, und wenn der Geweckte den Kopf heraussteckte, wurde ihm das Gesicht schwarz angepinselt. Dabei war der Holländer rein des Teufels vor Tollheit; den andern Morgen aber ging der kaum erst so närrische „Onkel“, die Mappe unter dem Arm, in’s Colleg, mit der ganzen ernsthaften Gravität eines Mijnheer. Alle diese Streiche kamen ausschließlich auf unser Kerbholz; er war stets außer dem Bereich eines jeden Verdachts. Sein Betragen beruhte aber durchaus nicht auf Heuchelei, sondern in seinem Charakter lagen unvereinbar diese Gegensätze dicht neben einander, wie wir sie ja auch in dem Mittelalter finden, z. B. in einer und derselben Kirche heute fleischtödtende strenge Ascese, morgen die verrücktesten trunkensten und sinnlichsten Eselfeste. …

Ich befestigte mich immer mehr in der Meinung, daß der „Onkel“ ein Typus seines Volkes überhaupt und namentlich seines Verhaltens zu uns war. Ich glaube ihn hier in Holland stets um mich zu haben. Es geht mir darin, wie meinem Freunde Prince-Smith in Berlin. Er kam 1861 zum ersten Male in den Süden, nach Stuttgart. Er hatte bis dahin nie einen anderen Schwaben gesehen und gesprochen, als den württembergischen Handelsminister von Steinbeis. Nachdem wir einen Tag in Stuttgart miteinander verlebt, fragte ich ihn: „Wie gefällt’s Ihnen denn in dem schönen Schwabenlande?“

„Gut,“ sagte er, „nur kommt mir’s immer vor, als wär’ ich von lauter Herren von Steinbeis umgeben.“

So ging mir’s mit dem „Onkel“ aus Holland. Wirklich betrachteten wir einander so; der Deutsche den Holländer als einen sehr wohlhabenden und recht respectabeln, aber doch etwas wunderlichen und altmodischen Onkel in der Seestadt; der Holländer den Deutschen als seinen in den Flegeljahren befindlichen, etwas abenteuerlichen und leider auch nicht sehr vermögenden, aber hoffnungsvollen Neffen vom Lande, aus dem wohl noch etwas werden kann, der aber zur Zeit noch mehr unangenehme, als angenehme Eigenschaften hat.

Nun ist auf einmal über Nacht etwas aus dem Neffen geworden. Er ist baumlang dem Onkel über den Kopf geschossen und hat in der Welt einen merkwürdigen Credit gewonnen, fast mehr als der Onkel. Der gute Onkel weiß nicht recht, was er dazu sagen soll. Eigentlich freut’s ihn; aber der gottlose Neffe hätte doch, bevor er sich auf so gewagte Geschäfte einließ, zuvor den nächsten Verwandten väterlicher Seits zu Rathe ziehen sollen, es hätte ja doch auch schlecht gehen können; – kurz, der Neffe ist ein frecher Schlingel.

Nun, hoffen wir, daß die verwandtschaftlichen Gefühle obsiegen trotz der bösen Einflüsterungen der holländischen Kreuz-Zeitungs-Partei, an deren Spitze Mijnheer Groen van Prinsterer steht. Diese Partei ist ein Verhängniß für Holland. Sie hat es in wahrhaft unerträgliche Ausgaben gestürzt und kämpft im Namen der Freiheit wider die Cultur, wie die Moskowiter in Rußland. Sie nennt sich die conservative oder „antirevolutionäre“ und kämpft in Gemeinschaft mit den Ultramontanen, an deren Spitze Dr. Nuyens steht (gleich Groen van Prinsterer ein angesehener Historiker), wider die neutrale (confessionslose) Volksschule, welche jedoch glücklicher Weise hier auf einer so sicheren Grundlage ruht, wie irgendwo, nämlich nicht nur auf der eines unzweifelhaft klaren Gesetzes, sondern auch auf der einer localen Selbstverwaltung, die wir in Deutschland und namentlich auch in Preußen, anstatt ewig unsicher experimentirend hin und her zu tappen, einfach zum Muster und Vorbilde nehmen sollten.

Die an sich guten Schulen in Holland tragen doch nicht ganz die erwünschten Früchte. Denn auch auf diesem Gebiete kämpft man im Namen der Freiheit gegen die Cultur, nämlich gegen den Schulzwang. In Ermangelung des letzteren entbehren hier die unteren Volksclassen aller Kenntnisse und jeder Bildung. Dem Fremden, und namentlich dem Deutschen, der in dieser Beziehung verwöhnt ist, fällt die bestialische Rohheit und Zuchtlosigkeit der armen Bevölkerung in einzelnen holländischen Städten schmerzlich auf. Natürlich beeinträchtigt die Unwissenheit auch die Erwerbsfähigkeit. Ich habe in den verschiedenen europäischen Großstädten, namentlich auch in London, viel „Bassermannische Gestalten“ gesehen; auch in Berlin fehlt es ja nicht gänzlich daran; aber solche Proletarier, die mit viehischer Gier über weggeworfene Gemüse-Abfälle herstürzen, habe ich nur in Holland gesehen. –

Die Holländerinnen vermögen bei nur halbwegs kaltem und nassem Wetter – und dies ist in den Niederlanden das vorherrschende – eine uns Deutschen nur vom Markte und von den Verkaufsbuden her in ziemlich primitiver Form bekannte Vorrichtung nicht zu entbehren, welche sie das „Stoofje“ nennen. Es besteht in einem Topfe mit brennenden Kohlen zum Wärmen der Füße. Auch setzt man den Theekessel darauf. Der Topf, das heißt das irdene Gefäß, worin die Kohlen glühen, wird in ein zierliches hölzernes Fußbänkchen (dieses ist eigentlich das „Stoof“) gestellt. Letzteres bildet einen Kasten, welcher, sobald der Wärmestoff darin ist, von allen Seiten geschlossen wird und nur oben, wo man die Füße aufstellt, fünf Löcher hat, durch welche die Wärme ausströmt. Die Kohlen müssen natürlich öfter erneuert werden. Vornehme Damen treiben einen besonderen Luxus mit dem „Stoofje“; es zeichnet sich bei ihnen durch kostbare Holzarten und feine Tischlerarbeit aus. Aber auch die ärmsten Gemüse- und Waschweiber, sowie die Dienstmägde haben ihr „Stoofje“, wenn es auch nur aus glatt gehobeltem Tannenholze gebaut ist. Gesund soll übrigens diese Einrichtung nicht sein. Man schreibt ihr die hier herrschende Schwerfälligkeit im Gehen zu.

Wie unentbehrlich das „Stoofje“ für die Holländerin ist, beweist die Geschichte von zwei Damen aus dem Haag, die sich durch romantische Lectüre (namentlich durch E. L. Bulwer’s Pilger am Rhein) hatten verleiten lassen einen „Zug durch Deutschland“ zu machen. Sie kamen aber nur bis Rolandseck: denn als sie dort, von dem Ritt zur Ruine bei abscheulichem, naßkaltem Wetter in ihr Hôtel zurückgekehrt, von dem Kellner „Stoofjes“ wünschten, um dafür einen verhängnißvollen Stuhl zu erhalten; dessen nähere Beschreibung ich mir zu erlassen bitte, da reisten beide Damen am andern Tage schon in aller Frühe entrüstet wieder nach Hause und schworen, niemals wieder einen Fuß zu setzen in das Land der Barbaren, wo es zwar todte Ritterburgen und lebendige Esel, aber keine „Stoofjes“ gebe.

Während die Damen ihre Füße am Stoofje wärmen, thun es die Herren am Kamin, auch wenn es sonst noch so warm ist, daß man eigentlich kein Feuer nöthig hätte.

Es ist recht behaglich in so einem holländischen Gesellschaftszimmer. In der Mitte des geräumigen und hohen, mit Teppichen belegten Zimmers steht ein großer viereckiger Tisch. Die noch größere, ebenfalls viereckige grüne Decke, die ihn sonst bedeckt, ist dieses Mal abgenommen und ersetzt durch ein viereckiges silbernes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_136.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)