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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

sang mit der talentvollen Nichte des Privatconcertmeisters das bekannte Spohr’sche Duett zwischen Faust und Röschen, als während der Musik eine Unruhe im Nebenzimmer entstand, wie ich sie bei der sonst andächtigen Stille dieser Zuhörerschaft noch nicht kennen gelernt hatte. Eben war ich im schmelzenden „fort von hier auf schön’re Auen“ begriffen, als Röschen ihrem Dorn zuflüsterte: „Felix ist gekommen.“

Nach beendetem Zwiegesange wurde ich mit dem zwölfjährigen Knaben bekannt gemacht, dessen väterliche Wohnung (damals an der neuen Promenade) nur einige Schritte von Friedländer’s Haus entfernt lag. Er entschuldigte sich, durch seinen Eintritt vielleicht den Gesang gestört zu haben, und erbot sich dagegen, das Accompagnement für mich zu übernehmen; „oder wollen wir es abwechselnd thun?“ eine echt Mendelssohn’sche Wendung, die er zwanzig Jahre später einem Fremden gegenüber in gleicher Situation gerade ebenso gemacht haben wird. Obwohl ihn alle Welt damals noch „Du“ nannte, war es doch unverkennbar, welchen Werth selbst die näheren Bekannten auf sein Erscheinen legten. Man kann sich aber auch keine liebenswürdigere Persönlichkeit vorstellen, als Felix Mendelssohn-Bartholdy zu jener Zeit war. Er durfte dergleichen größere Gesellschaften nur selten besuchen; aber wenn er kam, so machte ihm das eifrige Musiciren wahre Freude, und er selbst gab immer mit vollen Händen. Johanna Zimmermann, Friedländer’s Nichte, die früh verwittwete Gattin eines jungen Malers, der beim Baden in Tirol sein Leben eingebüßt hatte, schwärmte förmlich um ihn herum, und der Aermste wußte sich vor ihren zärtlichen Fragen kaum zu retten. Schon damals begleitete er den Gesang in einer Weise, wie sie selbst bei älteren tüchtigen Musikern nur dann gefunden wird, wenn ein ganz specielles Talent für diese besondere Branche unserer Kunst vorhanden ist. Bis dahin hatte ich dergleichen nie gehört; denn die orchestrale Behandlung des Pianoforte schien eine für Königsberg unbekannte Sache, und in Berlin war mir auch noch keine Gelegenheit geworden, diese Fertigkeit an Jemandem zu bewundern. Wenn Einer das Gedruckte so recht con amore nötlich herunterspielte und dabei dem Sänger hin und wieder einhalf, dann war er schon ein respectabler Mann; etwas höher stand natürlich Derjenige, welcher die im Clavierauszug meist sehr dünne Begleitung ad libitum durch Octavenbässe und Vollgriffigkeit zu verdicken wußte.

Aber Leute, die bei allseitiger Bewältigung der technischen Schwierigkeiten ihre Partitur so im Kopfe haben, daß sie darnach die Veränderungen auf dem Pianoforte einzurichten wissen, sind von jeher und sind noch heutigen Tages sehr selten. Ein solcher Phönix war damals schon Felix; und in dem Duett zwischen Florestan und Leonore, welches an jenem Abend Frau Dr. Förster (†) mit dem nachmaligen Münzdirector Klipfel (†) sang, überraschte mich der geniale Orchesterspieler bei der Stelle „Du wieder nun in meinen Armen, o Gott! wie groß ist dein Erbarmen“ durch die in zwei Octaven auseinander gehaltene Baßfigur. Beim Umschlagen der Blätter verfolgte ich jedwede Note, und weil ich damals noch keine Idee davon haben konnte, weshalb er diese vom Clavierauszug abweichende und auffallende Lage gewählt hätte, so bat ich mir hinterher eine Erklärung aus, die denn auch freundlichst gegeben wurde.[1] Es war die erste Belehrung, die ich von Mendelssohn empfing. Wie viel tausendmal mag seit jener Zeit in Berlin das himmlische Duett am Pianoforte gesungen – aber wie selten von einem Clavierspieler in solcher Weise begleitet worden sein!

Durch wen ich eigentlich in das Mendelssohn’sche Haus eingeführt wurde, weiß ich jetzt nicht mehr zu sagen; aber im Winter 1824 bis 25 war ich dort bereits ganz heimisch, d. h. ich stellte mich sonntäglich Vormittags zu den musikalischen Unterhaltungen ein, und wurde außerdem für die Gesellschaftsabende als fester Sänger oder als fixer Tänzer eingeladen. Bei den Matinéen lernte ich nach und nach fast alle Berliner Musiker von Bedeutung persönlich kennen. Die Namen von Männern, wie Lauska (der frühere Clavierlehrer des talentvollen Geschwisterpaares, dessen schönere Hälfte, Schwester Fanni, damals brillanter spielte als ihr jüngerer Bruder Felix), Wollank (Justizrath und Componist vieler weitverbreiteter Lieder, von denen mitunter auch eines gelegentlich an den Sonntagen zu Gehör gebracht wurde) und Karl-Friedrich Zelter – diese drei Namen kennzeichnen beinahe vollständig jene matte Epoche in der Musikgeschichte Berlin’s, während welcher auch nicht ein bedeutendes schaffendes Talent hervortrat, bis fast gleichzeitig (neben dem von Paris herberufenen Spontini) durch drei in ganz verschiedenem Lebensalter stehende Künstler: Ludwig Berger, Bernhard Klein und Felix Mendelssohn, die Aufmerksamkeit der gesammten tonkünstlerischen Welt wieder auf die an der Spree heimischen Größen gerichtet wurde. Nur selten versäumte ich eine jener interessanten Zusammenkünfte an der neuen Promenade, in welchen, außer größeren Pianoforte- Compositionen, die nunmehr unter Berger’s Leitung einstudirt waren, regelmäßig die neuesten Arbeiten des Wunderknaben, zumeist Sinfoniesätze für Streichquintett mit Klavierbegleitung, von einem auserlesenen Häuflein königlicher Kammermusiker executirt wurden.

Professor Zelter, bei welchem Felix die contrapunktischen Studien durchmachte, war natürlich sein eifrigster Zuhörer, aber auch sein strengster Censor; denn ich habe es mehr als einmal erlebt, daß er nach solcher Aufführung irgend eine Variante für nöthig befand, die er ganz laut seinem Schüler andeutete, der dann muckstill die Partitur zusammenpackte, zum nächsten Sonntag umarbeitete und sie in verbesserter Ausgabe nochmals vorführte. – In diesen Räumen war es auch, wo (vor dem Umzug der Familie nach der Leipziger Straße) eine dreiactige komische Oper von Felix bei vertheilten Rollen mit vorgelesenem Dialog am Pianoforte aufgeführt wurde.

Den Text zu diesem „Onkel aus Boston“ hatte ein junger Arzt gedichtet, der später ein berühmter Mann wurde; denn der vor einigen Jahren verstorbene Geheimrath Caspar war bekanntlich eine Autorität in der gerichtlichen Medicin. Von seinem Witz wußte Jeder zu erzählen, der mit ihm in nähere Berührung kam, und ich entsinne mich noch, wie mir Holtei in Riga berichtete, mit welcher geistesfunken-sprühenden Abschiedsrede dieser Caspar den von Berlin nach Tilsit als Oberpostdirector versetzten Rath Nernst aus der literarischen Mittwochsgesellschaft entlassen habe; der Schluß des Sermons aber lautete: „zieh’ hin, und der Tilsiter Friede sei mit dir.“ Nichtsdestoweniger war der amerikanische Onkel ein sehr schwächliches Subject, obwohl die musikalische Composition allen Mitwirkenden ungemein behagte; unter ihnen: Eduard Devrient und seine Braut Therese Schlesinger, ferner Hannchen Zimmermann, die Doctoren Andriessen, Dittmar u. a. m. Aber dennoch wird mir dieser Abend, an welchem ich als Chorsänger Theil genommen, unvergeßlich bleiben.

Nach beendigter Oper gab es das reglementsmäßige Butterbrödchen mit den gebräuchlichen Zuthaten von Sardellen, kaltem Fleisch, Käse und dergleichen. Eben kaute ich in Gemeinschaft mit Eduard Rietz seelenvergnügt unser Deputat herunter, als Felix, der im Saale die Runde machte, um sich noch bei allen Sängern persönlich zu bedanken, an uns herantrat und Erkundigungen einzog, ob wir auch mit Speis’ und Trank versorgt wären; ich zeigte ihm meine Errungenschaft und er fragte mich: „Welches ist Ihr dux (der Führer, das Hauptthema) und welches der comes? (der Begleiter, das Nebenthema).“

„Nun, natürlich behandle ich das Butterbrod als dux.“

„Nein,“ sagte er, „der Gast muß das Bemmchen als comes benutzen.“

Es war die zweite Belehrung, die ich von Mendelssohn empfing.

Während wir noch über seinen artigen Scherz lachten, erschallte Zelter’s Stimme durch den Saal: „Felix, komm’ mal her.“ Und da stand der alte Herr mit dem gefüllten Glase in der Hand und sagte, während Alle hoch aufhorchten: „Felix, bis jetzt warst Du ein Lehrbursche, von heute ab bist Du Geselle, und nun arbeite auf den Meister los.“ Dabei gab er ihm ein Kläpschen auf die Wange, als habe er ihn zum Ritter geschlagen, und nun stürzte die ganze Gesellschaft gratulirend zu den überraschten und gerührten Eltern und zu dem jungen Gesellen, der seinem Lehrer Zelter ein Mal über das andere die Hände drückte. Das war so eine von den Scenen, die man sein Lebtag nicht vergißt. Auf mich aber machte sie solchen Eindruck, daß ich Tag’s darauf an meinen Vormund schrieb und seine Bewilligung erbat, Zelter’s Lehrjunge zu werden, um demnächst auch das Weitere, die höheren Grade, durch ihn zu erlangen. Diese Erlaubniß erhielt ich wirklich;

  1. Für Musikverständige füge ich die Notiz hinzu, daß Beethoven an dieser Stelle die Contrabässe ausnahmsweise acht Töne tiefer als das Violoncell hingeschrieben hat, daß sie also um zwei Octaven tiefer erklingen müssen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_138.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)