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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 10. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

Adelheid beflügelte, je näher sie den Landenden kam, wider Willen ihre Schritte. Sie liebte ihn, liebte ihn mit der ganzen Kraft, mit der sie sich selbst liebte, und mit dem ganzen heimlichen Trotz der Gekränktheit gegen Den, dessen Tugend stärker war als ihre Reize. Es giebt kein gefährlicheres Gift als die Zärtlichkeit, die das Weib dem Manne aus Trotz gegen einen Andern schenkt. Es ist ein Gift, das Beide zugleich vernichtet.

Adelheid hatte ihren Vetter erreicht; sie bot ihm das süße Gift mit der kleinen Hand, die sie ihm zum Kusse reichte, mit dem bräutlichen Blick, den sie ihm unter den Goldwimpern hervor entgegensandte.

Sie war auf die kleine Landungsbrücke hinausgetreten, ihre Locken wehten im Winde, an ihrer Hand sprang Egon aus dem Kahn, und vor ihr stand nun die edle ritterliche Gestalt mit dem eindringlichen aufsaugenden Blick, als wolle er sie in einem Anschauen ausschöpfen, die ganze unendliche Schönheit der Geliebten. Auch Egon war ein schöner Mann, ihr ebenbürtig an körperlichen Vorzügen. Sie war überrascht, als sie ihn wiedersah; sie glaubte ihn noch nie so herrlich gesehen zu haben. Kein Götterbild der Alten besaß bei dieser Reinheit der Linien die sanfte Gluth dieser braunen Sammtaugen, die Geschmeidigkeit und Kraft dieser schlanken Glieder. Er war ohne Gleichen in der zahllosen Gestaltenwelt der Künste und des Lebens. Wie hätte sie diesen Mann nicht lieben sollen? Konnte der Schönste nicht das Schönste fordern? Mußte sie sich ihm nicht liebend nahen, wie eine Welle in die andere fließt?

„Meine gnädigste Cousine!“ sagte er in sichtbarer Bewegung, „wie geht es Ihnen? Doch was brauche ich zu fragen –“ er senkte seine Blicke in die ihren, und unhörbar wie der Südwind, der an ihnen vorüberstrich, hauchte er ihr zu: „Engel meines Lebens, wie schön bist Du!“

Jetzt war auch der Neffe Adelheid’s ausgestiegen und stellte sich der „gnädigen Tante“ vor. Er war ein hübscher strammer Junge zwischen fünf- und sechszehn Jahren in knapper Cadetten-Uniform, der einzige Sohn von Adelheid’s verwittweter Schwester, der Gattin eines Vetters des Grafen Schorn.

Egon hatte sich von der Mutter des Knaben, dessen Vormund er war, um so eher erbitten lassen, ihn nach Zürich zu führen, als ihm dies einen willkommenen Vorwand gab, seine Cousine wieder aufzusuchen. Er mußte ihr doch einmal den Sohn ihrer Schwester bringen, damit sie ihn in seiner Uniform sah, das war klar; er war natürlich nur Victor’s wegen da.

„Nun, was sagst Du?“ lachte der Freiherr und klopfte den Jungen auf die Schulter. „Ist das nicht ein Prachtexemplar? Daran mußt Du Dir ein Beispiel nehmen, mein Alfred!“

„Ja, wenn ich das könnte, mein lieber Vater!“ sagte Alfred und sah traurig an seinem Vetter hinauf.

„Nun, nun, das wird schon werden,“ tröstete der alte Mann, der fühlte, daß er dem Knaben weh gethan.

Man schritt dem Hause zu. Egon gab Adelheid den Arm. „Welch ein Paar wären wir geworden!“ dachten Beide in einem Athemzug.

Der Freiherr ging nebenher und die Knaben folgten.

Vetter Victor maß Vetter Alfred mit einem Ausdrucke der Enttäuschung: „Warum hinkst denn Du?“

„Weil ich ein verkürztes Bein habe.“

„Wovon kommt denn das?“

„Ich hatte als Kind eine Entzündung des Kniegelenks, da ist mir das zurückgeblieben. Wir waren schon, ehe wir hierher zogen, in Kreuznach, aber es hat nichts genützt. Da ist wohl nicht mehr zu helfen.“

„Du sprichst ja wie ein Doctor,“ meinte der Cousin, und Alfred wurde darüber ganz verlegen. „Hm,“ machte Victor, „ich hatte mich so auf Dich gefreut – ich wußte nicht, daß Du hinkst!“

„Wenn Du es gewußt hättest – würdest Du Dich wohl nicht gefreut haben?“ wollte Alfred fragen, aber er besann sich und schwieg.

„Ja, was fängt man nun an?“ begann Victor wieder und betrachtete immer bedenklicher seinen schwerfälligen Begleiter. „Ich hatte geglaubt, ich könne mich hier einmal recht austollen – aber mit Dir ist ja nichts zu machen.“

„Da drüben unsre Nachbarn, denen unser Haus gehört, die haben zwei Söhne in Deinem Alter und ein kleines Mädchen, das aber so wild ist wie seine Brüder, mit denen kannst Du spielen,“ tröstete ihn Alfred schweren Herzens.

„Wer sind denn die Leute?“

„Er ist ein Seidenfabrikant.“

„Also Bürgerliche?“ fragte Victor gedehnt.

„Nun ja – sie heißen Hösli.“

„Hösli! Hösli! Nicht übel,“ lachte Victor. „Mit denen soll ich spielen?“

„Nun freilich! Willst Du nicht?“

Victor zuckte die Achseln. „Doch, doch; hier kommt am Ende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_145.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)