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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Patient, der Dichter selbst, so chloroformirt ist, daß aller Zusammenhang des Denkens bei ihm aufgehört hat.

Wenn Sie nun von „Varianten“ hören, Madame, so werden Sie alsbald wissen, was Sie sich unter diesem an die Varietäten der Blumenflora erinnernden Ausdruck zu denken haben. Eine Shakespeare-Ausgabe mit Varianten stellt eine Blüthenlese der verschiedenen Lesarten unter den Text und baut an den erhabenen Park des dichterischen Genius einen kleinen Blumengarten menschlichen Scharfsinns an, in welchem zugleich dafür der Beweis geliefert wird, daß der letzte kritische Kunstgärtner die beste „Varietät“ entweder ausgewählt oder selbst erzeugt hat.

Sollten Sie noch der kindlichen Naivetät huldigen, Madame, von einem Stück zu glauben, daß es von Shakespeare gedichtet sei, weil es in Shakespeare’s Werken steht, so vergessen Sie, daß Shakespeare nicht blos dramatischer Dichter, daß er auch Schauspieldirector war. Wie aber ein moderner Finanzminister das Geld nimmt, wo er es findet, so nimmt ein Theaterdirector die Stoffe, wo er sie findet, und in einer um das geistige Eigenthum nicht so besorgten Zeit, wie die unsrige, konnte er sich allerlei aneignen, was schon selbst eine Kunstform, oft sogar schon eine dramatische trug; er machte solche Stücke zurecht, überarbeitete sie und brachte sie dann auf die Bühne. Auch eigene Jugendwerke goß er im reiferen Alter um. Im Uebrigen nahm er aus Novellen, Gedichten, Stücken nicht blos Motive und Situationen, sondern auch Verse, Bilder, Gedanken, so daß sein Zeitgenosse Robert Greene ihn eine Krähe nennen durfte, die sich mit fremden Federn putzt.

Ihr Scharfblick, Madame, hat bereits erkannt, welche Arena sich damit für die staubaufwühlende Weisheit wetteifernder Kritiker aufthut! Welche Fragen sind da zu beantworten! Ist dies Stück von Shakespeare? Ist es nicht von ihm? Ist es eine Jugendarbeit von ihm, die er später überarbeitet hat? Ist es das Werk eines andern Dichters, das er der Bühne anzupassen suchte?

So lange ein leidliches Einvernehmen unter den Shakespeare-Kritikern herrscht, können auch wir, Madame, uns bei den Resultaten ihrer Untersuchungen beruhigen; aber ach! Madame, wenn der eine Jahrgang des „Shakespeare-Jahrbuchs“ mit dem andern in Streit geräth, was sollen wir da beginnen, nachdem uns einmal die Milch der frommen Denkart durch kritische Zweifel getrübt worden ist? Und solche Zweifel zu erregen, sind die begeisterten Shakespearomanen unermüdlich.

Wir alle lebten lange Zeit in dem süßen Wahne, „Timon von Athen“ sei ein unbestreitbares Eigenthum des Shakespeare’schen Genius. Da tritt zuerst ein englischer Text-Kritiker auf und beweist, daß „Timon von Athen“ nicht von Shakespeare gedichtet, sondern das Werk eines Anonymus sei, welches Shakespeare nur in einzelnen Scenen umgearbeitet habe, namentlich da, wo der Charakter des Timon ihm Gelegenheit gegeben, seine psychologische Meisterschaft zu bewähren.

Delius, der Shakespeare anfangs gegen den Engländer vertheidigt, schließt sich später der Ansicht desselben an, die nun so lange die Parole des Tages ist, bis ein Hallenser Kritiker glücklich wieder das Gegentheil beweist. Nach dieser neuesten Ansicht ist der „Timon“ von Shakespeare, aber durch einen späteren Bearbeiter entstellt und verunstaltet.

Nicht wahr, Madame, Sie fühlen wie der Schüler des Faust ein Mühlrad im Kopfe herumgehen? Ich wasche meine Hände in Unschuld! Ich wollte Ihnen nur an einem recht schlagenden Beispiele zeigen, was es mit der sogenannten Shakespeare-Gelehrsamkeit für eine eigenthümliche Bewandtniß hat. Ich selbst halte nach wie vor den „Timon“ für ein Werk Shakespeare’s; die Ungleichheit des Styls hängt von der Ungleichheit der dichterischen Stimmung ab. Die Schauspieldirectoren haben zu allen Zeiten viel Aergerniß gehabt, und auch der Meister wird zum Stümper, wenn ihm die reine schöpferische Laune getrübt ist. Auch halte ich das Stück nicht für eine Jugendarbeit, sondern für ein Werk der reiferen Jahre und zwar gerade wegen einzelner Schwächen. In der Jugend schafft man mehr aus einem Gusse; später wird man empfindlicher für jede Störung. Ueberhaupt, Madame, welch thörichtes Vorurtheil, dem Alter des Dichters vor seiner Jugend Vorzug zu geben! Für Dichter und Frauen ist die Jugend ein unersetzlicher Schatz, und wer im Vollgenusse desselben schwelgt wie Sie, Madame, der weiß nicht einmal, wie viel solche Jugend voraus hat vor dem sogenannten reiferen Alter, in welchem Alles reifer geworden ist, auch unsere Fehler.

Doch nicht blos diese kritischen Untersuchungen, auch die Charakteristiken der einzelnen Dramen und ihrer Helden sind zu Bibliotheken herangeschwollen. Gervinus, Kreyßig, Rötscher, Ulrici und hundert Andere haben in den einzelnen Stellen die verschiedensten Grundgedanken, in den einzelnen Charakteren die verschiedensten Eigenschaften entdeckt.

Doch das „Shakespeare-Jahrbuch“ enthält neben den überflüssigen Turnieren des kritischen Scharfsinns und den müßigen Spielen des Witzes auch manchen trefflichen Aufsatz, der für das Verständniß des Dichters in der That neue und wichtige Punkte giebt. Da ist namentlich ein Vertreter deutscher Industrie, Director einer großen Gascompagnie, Heinrich Oechelhäuser[WS 1], der durch gesunde und verständige Darlegungen viele Fachgelehrte beschämt und außerdem ein schönes Beispiel giebt, wie in Deutschland praktische Tüchtigkeit mit warmer Begeisterung für die großen Meister der Poesie vereinigt. Wie ich jüngst erfahren, ist man auch des „trockenen Tones“ satt und will in den nächsten Jahrgängen des Jahrbuchs mehr auf Shakespeare’s Bedeutung für die Gegenwart, auf das Verhältniß der Bühnen zu ihm, auf die Darstellung und auf die Darsteller seiner Hauptrollen in Deutschland Rücksicht nehmen.

Sie aber, Madame, können aus diesen Abhandlungen wohl manche Belehrung schöpfen, doch das wahre Verständniß des Dichters ruht in Ihrer eigenen Brust. Wer der Begeisterung des Poeten mit gleicher Begeisterung folgt, der findet von selbst das Rechte und bedarf des Commentars nicht. Ein Strahl erleuchtet ihm das Ganze und alles Einzelne, während die Camera obscura der Kritik nur von einem hier und dort aufleuchtenden Phosphorschimmer erhellt wird.




Die Damen auf dem Congreß zu Erfurt.
Josephine und Hortensie. – Die Frau Jerome’s. – Stephanie von Baden. – Louise von Weimar. – Frau von der Recke. – Eine preußische Antwort.

Man sollte glauben, daß an einem diplomatischen Congreß nur Männer theilnehmen, daß nur sie das Wort führen, wenn es gilt, einen verworrenen Weltlauf zu ordnen, kampfdrohenden Hader zu schlichten, oder schon begonnene Kriege durch Unterhandlungen zu enden. Und doch ist das weibliche Geschlecht oft lebhaft mitthätig, zuweilen öffentlich, häufiger aber im dunkeln Hintergrunde waltend als gute oder böse Fee. Damen aus der höheren Gesellschaft, Fürstinnen erfüllen gern ihre Mußestunden mit politischen Träumereien und Intriguen, finden Mittel und Wege, ihre Ansichten und Wünsche zur Geltung zu bringen. Wie oft sind schon diplomatische Missionen an Frauen übertragen worden; manche Gemahlin eines Gesandten hat größeren Einfluß geübt als der Gesandte selbst; nicht selten wurde dem öffentlichen Vertreter einer Macht ein geheimer beigesellt, bisweilen eine schöne interessante Frau, von deren Talent zur Intrigue ein günstiger Erfolg zu erwarten war oder deren persönlicher Liebreiz einen unwiderstehlichen Zauber ausübte, wodurch sie Alles, was sie wollte, erreichen konnte.

Die beiden größten Regenten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts indeß, Friedrich der Große und Napoleon, wußten dem weiblichen Ehrgeiz gewisse Schranken zu setzen; in ihrem hohen Rathe durfte keine Frauenstimme sich vernehmen lassen.

Den Traditionen des preußischen Hofes entsprach die Ausschließung der Frauen von der Politik; sie hatten in Preußen in jener für ehrgeizige Schöne so verlockenden Sphäre nie eine Rolle gespielt. Für Napoleon hingegen war es viel schwieriger, die für politische Intriguen sehr enthusiasmirten Französinnen von diesem Gebiete, auf dem ihre Vorfahrinnen Jahrhunderte hindurch geglänzt, zu verdrängen. Waren doch unter den Valois wie unter den Bourbons bei großen Weltbegebenheiten Frauen sehr oft die leitenden Persönlichkeiten gewesen; ja mehr als einmal hat in Frankreich eine Frau fast allein das Staatsruder gelenkt. Unter Napoleon sollte das zarte Geschlecht nur die Gesellschaft verherrlichen, die jungen und schönen Gemahlinnen der Marschälle und Herzöge sollten durch ihren Liebreiz und ihre Anmuth den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist: Wilhelm Oechelhäuser.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_184.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)