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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

sich bei dem der Hirnarbeit zu Grunde liegenden Stoffumsatze bilden) aus der ermatteten Hirnmasse fortgeschafft werden müssen, und an Stelle des Abgenutzten neue Hirnmasse sich ansetzen muß. – Es dürfen deshalb in der Schule ja nicht mehrere Stunden, in denen Kopfarbeit (besonders Denkübung) getrieben wird, gleich aufeinander folgen, sondern sie müssen, nach gehöriger Pause, mit Stunden abwechseln, in denen das Gehirn nichts oder nur wenig zu thun hat, wie mit Schreibe-, Zeichen- und dergleichen Stunden. – Für kleinere Kinder ist schon eine ganze Stunde Kopfarbeit zu viel, und es würde eine halbe Stunde hinreichen. – Auch ist in der Pause nach solchen das Hirn anstrengenden Stunden der Aufenthalt und das Bewegen in freier Luft (mit Freiübungen) von großem Nutzen, zumal dann, wenn dabei kräftig und tief ein- und ausgeathmet wird. Durch das Tiefathmen wird nämlich der Blutumlauf bethätigt, und so nicht blos die Zufuhr von Sauerstoff (der, wie bei jeder Lebensthätigkeit, ebenso ganz besonders beim Hirnarbeiten eine Hauptrolle spielt), wie von neuem Hirnbildungsmaterial zum ermüdeten Gehirn, sondern auch die Abfuhr der ermüdenden Stoffe aus dem Gehirne befördert.

Unterrichtsstunden bald nach dem Essen sollten durchaus nicht gestattet sein, am wenigsten dürfen sie aber die Hirnthätigkeit in Anspruch nehmen. Denn, abgesehen von der nicht zu vermeidenden Unaufmerksamkeit des Schülers, wirken sie stets auf den Verdauungsproceß störend ein und legen dadurch den Grund zur Blutarmuth und zu Verdauungsbeschwerden. Man bedenke auch, daß durch gespannte Aufmerksamkeit das Athmen unvollständiger vor sich geht, und daß dies um so mehr der Fall ist, wenn der gefüllte Magen das Zwerchfell gegen die Lungen in die Höhe drängt. – Durch Gähnen wird von der Natur dem unvollständigen Athmen entgegengetreten, und der Lehrer thäte deshalb auch gut, wenn er die Kinder öfters zum tiefen Athmen anhielte. – Daß angestrengte Hirnarbeit die Herz- und Gefäßthätigkeit abnorm (zu Congestionen) steigern kann, wurde früher (siehe Gartenlaube 1870 Nr. 1) auseinandergesetzt. – Eine abnorme Beschaffenheit der Luft, welche das Schulkind nicht selten einzuathmen gezwungen ist, hat insofern Einfluß auf das Wohl des Gehirns, als diese Luft nach ihrem Uebergange in das Blut und beim Durchströmen mit diesem durch das Gehirn nachtheilige Einwirkung auf die Hirnsubstanz ausüben kann. Die Schulzimmerluft kann aber besonders durch ihren Gehalt an Kohlenoxyd und an größeren Mengen von Kohlensäure und Ausdünstungsstoffen der Schüler dem Gehirne Nachtheil bringen (siehe später). – Uebrigens versteht es sich wohl von selbst, daß Alles, was dem Gehirne von außen Schaden zufügen könnte, wie Schläge und Stöße an den Kopf, sehr große Hitze und Kälte, vermieden werden muß. Es ist eine nicht zu entschuldigende Rohheit vom Lehrer, wenn er seine Schüler durch Ohrfeigen und Kopfnüsse bestraft. Denn es giebt Fälle, wo durch solche Bestrafung, bei welcher der Lehrer meist in seinem Zorne die Kraft des Schlages nicht bemessen kann, der Tod des Kindes herbeigeführt wurde. Auch die Seh- und Gehörswerkzeuge können durch Schläge an den Kopf Schaden erleiden. – Nicht unerwähnt ist ferner zu lassen, daß das Gehirn auch von den Sinnesorganen aus, weil deren Nerven im Gehirne wurzeln, geschädigt werden kann, und daß sehr heftige Erregungen oder Ueberanstrengungen dieser Organe in den bei diesen abnormen Sinneseindrücken betheiligten Hirnpartien Schaden (Lähmungszustände) anzurichten im Stande sind.

Der Schaden, welcher dem kindlichen Gehirne in den Schuljahren durch falsche Behandlung, besonders durch Ueberanstrengung in seinen Arbeiten, ebenso von Seiten der Lehrer wie der Eltern zugefügt wird, ist sehr oft auch nach der Schulzeit nicht wieder gut zu machen und trägt die Schuld an der so häufigen sogenannten nervösen Reizbarkeit, an den immer mehr um sich greifenden Geisteskrankheiten und Selbstmorden (sogar von Schülern), an dem habituellen Kopf- und Weltschmerz und an so vielen Nervenkrankheiten (Epilepsie). Dem Allen könnte entgegengetreten werden, wenn die Kinder weit später als jetzt und auf zweckmäßigere Weise zum Geistigthätigsein angetrieben würden und dafür länger als jetzt die Schule besuchten, so daß die Geistesbildung nicht übereilt und nicht einem noch unkräftigen Gehirne zu viel zugemuthet zu werden brauchte. Aber leider wollen die Eltern, zumal diejenigen, die selbst in ihrer Jugend nicht viel gelernt haben, ihre Kinder so schnell als möglich recht klug gemacht wissen und sind ganz ungehalten über die Leistungen der Schule und der Lehrer, wenn ihre durch vielen Privatunterricht dämlig gewordenen Sprossen nicht Wunder an Klugheit werden. – Sehr häufig wird von den Eltern gegen das Kindergehirn auch dadurch gesündigt, daß demselben nicht der gehörige Schlaf gestattet wird, obschon während desselben die Restauration des Gehirns, theils durch Abfuhr der ermüdenden Stoffe, theils durch Anbildung neuer Hirnmasse, stattfindet. Auch ist der Schlaf außerdem noch darum von enormer Wichtigkeit, weil in dieser Zeit Sauerstoff, die Quelle aller Lebensvorgänge und gewissermaßen die Dampfkraft, die unsere Lebensmaschine treibt, in solcher Menge durch das Blut in unsere Organe aufgenommen wird, daß wir dann im wachen und thätigen Zustande von demselben zehren können. Denn die Arbeitsfähigkeit unserer Organe, und ganz besonders des Gehirns, ist von der Menge Sauerstoff abhängig, die sie vor der Arbeitsleistung in sich aufgespeichert haben. Weniger als acht bis zehn Stunden darf ein Schulkind nicht schlafen.

DieSinneswerkzeuge des Schulkindes, und vorzugsweise der Gesichtssinn, verlangen, nach dem Gehirne, die größte Aufsichtbig> und Sorge. Denn durch der Sinne Porten zieht der Geist in unsern Körper (in das Gehirn) ein; das heißt: durch die Sinneseindrücke erlernt unser Gehirn sein geistiges Arbeiten. Die Sinne sind die Zubringer der geistigen Speise, deren passende Auswahl und deren richtiges Verdauen der Lehrer zu beschaffen hat. Die Entwickelung der Sinne ist die Grundlage für die Entwickelung des Geistes. Deshalb muß sich ein wirklich vernünftiger und zeitgemäßer Unterricht des Kindes vorzugsweise auf Anschauungen von Gegenständen aus der Natur gründen, und es sind darum auch die Schulbehörden verpflichtet für solche Unterrichtsgegenstände (ganz besonders auch vom menschlichen Körper) gehörig Sorge zu tragen.[1] Die Lehrer aber sind verpflichtet, die Kinder schon von der ersten Schulzeit an in die Natur so einzuführen, daß jeder Mensch die unabänderlichen Naturgesetze, welche bei allem Geschehen im Weltall in Kraft treten, so zeitig als möglich genau kennen lernt, dadurch aber von dem leider jetzt noch so arg herrschenden, dem Menschenverstande Hohn sprechenden Wunder- und Aberglauben befreit bleibt. Daß noch so viel dumme und kranke Menschen existiren, kommt nur daher, daß ebenso die Lehrer in ihren Erziehungsanstalten, wie die Kinder in den Schulen vom menschlichen Körper nichts oder so gut wie nichts lernen, ja sehr viele Lehrer leider davon auch nichts lernen wollen. – Das in den Schuljahren am meisten mißhandelte Sinneswerkzeug ist das Auge, und davon später.

Bock. 




Blätter und Blüthen.


Eine Urkunde des Handwerks. Mit Abbildung. Aus dem alten, streng geregelten Zunftleben haben einzelne Einrichtungen so tiefe Wurzeln in unserem Handwerks- und Kunstgewerkstande getrieben, daß sie selbst dem Nivellirungssturme der Gewerbefreiheit Trotz bieten. Ueberhaupt darf es einmal ausgesprochen werden, daß das Gute, das mit dem Veralteten des Innungswesens zu Grunde ging, durch das Neue der gegenwärtigen Einrichtungen noch nicht wieder ersetzt ist. Es ist wahr, man stieß auf viel Zopf, auf viel durch Beschränktheit Hemmendes, auf viel Lächerliches, das seinen Ursprung dem deutschen Urfehler, dem Hang zur Kleinlichkeit, verdankt, aber doch waren dies nur Auswüchse eines an sich ganz ehrenwerthen Stammes, der einem guten Kern entsprungen war: das war die Selbstregierung und der Selbstschutz jeder Innung, welche den später so üppig aufgeblühten Polizeieingriffen und der schreibseligen Vielregiererei nur selten Gelegenheit boten, sich gegen sie zu kehren.

Um dies nicht als leere Behauptung erscheinen zu lassen, sei uns wenigstens ein Rückblick auf die Bedeutung der sogenannten Quartale der Innungen gestattet. Wie das Wort von selbst erklärt, nennt man so die Vierteljahrsversammlungen sämmtlicher Innungsmeister. Den Vorsitz führte der Obermeister, als Innungsbote hatte der Jungmeister zu dienen. Die Quartale zu den Zeiten des goldenen Bodens des Handwerks beriethen und beaufsichtigten nicht blos die Verwaltung der gemeinsamen Interessen der Innung, sondern sie übten auch innere Polizei aus und erhoben sich

  1. Für den anthropologischen Unterricht sind ganz besonders zu empfehlen: 1) Anatomische Wandtafeln, auf Veranlassung des königlich sächsischen Cultusministeriums herausgegeben, nebst einem Leitfaden von Dr. Fiedler. – 2) Plastische Nachbildungen für den Lehrunterricht, von Fleischmann in Nürnberg; ein ganz vorzügliches und allgemein als äußerst instructiv anerkanntes Lehrmaterial. – 3) Anatomische Photographien, von Dr. Rüdinger; ausgezeichnete Darstellungen, die auch den Medicinern nicht genug zu empfehlen sind.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_191.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2019)