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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


bis zum Friedensgerichtshof. Viele Klagen, die jetzt bei den Landesgerichten um schweres Geld geschlichtet werden, fanden damals ihre mündliche Erledigung vor dem Quartal, und Niemand, der zur Innung gehörte, würde es je gewagt haben, der Vorladung und den Aussprüchen desselben nicht Folge zu leisten. Dieser Respect vor der eigenen Versammlung, an sich schon soviel als Selbstachtung, wurde den Innungsgenossen gleich von Anfang an tief eingeprägt, schon bei der Lehrlingsaufnahme.

Wo nicht besondere Innungslocale vorhanden waren, versammelte sich das Quartal gewöhnlich beim Obermeister. Die Meister saßen im Kreise, in ihrer Mitte stand die Lade, welche die Urkunden und Kleinodien der Innung umschließt: der silberne „Willkomm“, oft mit reichem Münzengehänge geschmückt, stand auf dem Tische. Der Deckel der Lade ward aufgethan, denn jede feierliche Handlung geschah vor offener Lade. In diesen für ihn geheimnißvollen Kreis trat der Lehrling, vom Jungmeister gerufen, ein; der Obermeister nannte ihn bei seinem ganzen Namen und stellte ihm die Pflichten und Ehren des Handwerks vor, und wenn der Lehrling durch sein „Ja!“ verheißen hatte, nach dem Besten zu streben, mußte er jedem Meister in der Runde die Hand darauf reichen. Ein solcher Act war sicher geeignet, mit dem Respect vor dem Quartal auch das Ehrgefühl für sein Handwerk im jungen Lehrlingsherzen zu befestigen.

Mit derselben Feierlichkeit wurde dem „ausgelernten“ Lehrjungen der Lehrbrief ausgestellt und in der Lade niedergelegt; der neue Geselle bekam eine beglaubigte Abschrift davon. Ein tüchtiger Arbeiter wurde damals durch den Ruf, welchen die Wanderburschen seines Zeichens von ihm oft durch ganz Deutschland trugen, so bekannt, wie dies heute nur durch die Zeitungen geschehen kann. Auch das hob den Stolz auf die eigene Innung.

Und nun noch eine Wahrnehmung, die allerdings mit dem schlimmsten Zunftzwange zusammenhängt, dennoch aber das Humane des ursprünglichen Zwecks nicht verkennen läßt. Zu jener Zeit konnte beim redlichen und fleißigen Handwerker nie ein Beispiel so tiefen Sinkens in Armuth und Elend vorkommen wie heute; es war gleichsam ein Gemeingefühl, daß die Innungsehre nicht durch einen verarmten Genossen gekränkt werden dürfe, welches jedem Ueberreich- und Uebermächtigwerden Einzelner auf Kosten Vieler durch strenge Regeln einen Riegel vorschob. Dazu gehörte die genaue Bestimmung der Zahl der Meister, die an einem Orte die Innung bilden, und der Gesellen und Lehrlinge, die je ein Meister halten durfte. So durften um Leipzig herum in den Städten auf drei Stunden Entfernung die sogenannten Landmeister gar keine Gesellen halten. In Hamburg waren den Korbflechtern zum Beispiel nur zwei Gesellen gestattet; wer dennoch mehr Arbeit hatte, mußte von einem wenig oder gar nicht beschäftigten Meister sich Gesellen leihen und deshalb auch jenem einen Verdienst gönnen. So stellte sich neben den Schaden für kühnere Unternehmungen und die Großindustrie das versöhnende Wohlbefinden der durch Glück und Geschick weniger begünstigten Genossen und ihrer Familien.

Noch im Jahre 1847 unternahm es ein Verein von Innungsmeistern in Leipzig, auf reformatorischem Wege das Gute der Zunft zu retten durch gründliche Entfernung des Verfaulten; in friedlichen Zeiten würde dieser Versuch vielleicht gelungen sein, allein das Sturmjahr von Achtundvierzig fuhr dazwischen und machte auch hier sein unerbittliches „Zu spät!“ geltend.

Seit der Einführung der Gewerbefreiheit hat das alte Lehrlings- und Gesellenwesen einen gewaltigen Stoß erlitten: der Zwang ist gefallen, den ehedem der Meister gegen Beide ausüben durfte. Vollkommen frei ist es Lehrlingen und Gesellen gestellt, durch eine Prüfung sich die Gesellenwürde, und damit den Lehrbrief, und die Meisterwürde zu erwerben. Nur bei den Baugewerken, also den Maurern und Zimmerleuten, zu denen in Sachsen noch die Steinhauer kommen, ist von Staatswegen eine Prüfung angeordnet, und eben darum hat bei diesen auch die Ausstellung eines förmlichen Lehrbriefs noch Bedeutung. Einen solchen Zimmermanns-Lehrbrief jüngsten Datums theilen wir in Abbildung mit als eine Urkunde des Handwerks, die vor dem unwiderstehlichen Drange der Freiheit jeder Arbeit sicherlich auch bald von der deutschen Erde verschwinden wird.




Dichter- und Künstlerdenkmäler. Bei der Restaurirung der alten St. Peterskirche zu Heidelberg hat man kürzlich einen Grabstein aufgefunden, welchen man für den des einstmals berühmten Dichters und Gelehrten Petrus Lotichius (gestorben 1560) hält, desselben, den Otto Müller zum Helden seines neuesten biographischen Romans „Der Professor von Heidelberg“ gemacht hat. Wer kennt heute noch Lotichius und seine Werke, welche nach der damaligen, unserer Generation freilich unbegreiflich dünkenden Sitte in lateinischer Sprache geschrieben waren! Und doch war Lotichius nicht nur als einer der bedeutendsten Dichter und Gelehrten, als ein edler deutscher Charakter von seinen Zeitgenossen hoch verehrt und geschätzt, sondern auch durch sein merkwürdig tragisches Lebensschicksal ein Gegenstand ganz besonderen Interesses. In Bologna, der berühmten mittelalterlichen Hochschule, war es nämlich, wo das reiche blühende Leben des jungen deutschen Gelehrten durch die Rachsucht einer eifersüchtigen Italienerin gebrochen wurde. Er erhielt Gift von ihr; und obwohl er durch die Kunst und Sorgfalt seiner Freunde vom Tode errettet wurde, obwohl seine Uebersiedelung nach Heidelberg, wohin ihn der kunstsinnige Pfalzgraf Otto Heinrich als Professor der Medicin und Botanik berief, ihm anscheinend seine Gesundheit wieder zurückgab, verfiel er doch bald in unheilbaren Wahnsinn und starb in dem Augenblick, wo ihm, dem vom Pfalzgrafen bei Einweihung des berühmten Ottheinrichbaus gekrönten Dichter, die Jugendgeliebte den goldenen Kranz Ariost’s auf die Stirn drückte. –

Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß die Auffindung des Grabsteins des alten unglücklichen Dichters unmittelbar nach seiner dichterischen Verherrlichung und Neubelebung durch Otto Müller’s Roman stattfindet. Dies wiederholt sich nun zum dritten Mal bei Romanen des genannten Autors. Unmittelbar nach dem Erscheinen seines Jugendromans „ Bürger“ entdeckten die Göttinger Studenten auf dem Kirchhof vor dem Weender Thor den versunkenen Grabhügel des 1794 verstorbenen Sängers der Lenore. Auch bei dem Roman „Charlotte Ackermann“ machte man kurz nach dessen Erscheinen einen interessanten Fund. In einem der schönen Gärten an der Elbe zu Hamburg entdeckte man, ganz unter dichtem Strauchwerk versteckt, ein altes Steindenkmal mit dem noch lesbaren Namen der jungen berühmten Künstlerin, deren frühzeitiger Tod (1775) von ganz Hamburg betrauert wurde. Wahrscheinlich hatte einer ihrer enthusiastischen Verehrer dieses Denkmal zu ihrem Gedächtniß errichtet, das später in Vergessenheit gerieth, oder dessen Bedeutung doch wenigstens von den späteren Besitzern des Gartens nicht mehr gekannt wurde.




Ist Das wirklich möglich? – Einer unserer Leser macht uns folgende Mittheilung:

„Ich wohne mit einem Bahnwärter einer schlesischen Eisenbahn in einem Hause. Der Mann hat mit seiner Frau und vier Kindern nur ein kleines Stübchen inne, aber die Leutchen leben still und friedlich zusammen, Mutter und Kinder kommen uns den ganzen Tag nicht in den Weg, während der Vater von früh halb fünf bis Nachts halb zwölf Uhr in seinem Dienst vom Hause entfernt ist.

Da begegnete mir, es war am ersten Sonntag im Februar mit seiner damaligen grimmigen Kälte und ich wollte eben zur Kirche gehen, die Frau des Bahnwärters mit verweinten Augen. Ich stutzte, als ich ihr in das leidende Antlitz sah, und konnte nicht umhin, sie nach der Ursache ihrer Traurigkeit zu fragen. Mit ausbrechenden Thränen sagte sie mir: ‚Ich komme von meinem Manne, habe ihm Frühstück hingetragen und mußte sehen, wie er in seiner elenden, durchsichtigen Bretterbude von Bahnhäuschen auf der harten Bank liegt und sich vor Frost kaum rühren kann. Ach, er hat sich in der kalten Hütte schon alle Glieder erfroren!‘

‚Aber bekommt denn Ihr Mann nicht so viel Feuerung, wie er in seinem Bahnhäuschen braucht?‘ fragte ich.

Ihre Erklärung machte mich staunen. Sie lautete: Mein Mann bekommt nur auf vier Wintermonate für den Tag einen Silbergroschen zu Holz und Kohlen. Wie soll er damit und in solcher Kälte eine Bude heizen, zu welcher der Wind von allen Seiten eindringt? Wir haben von unserem monatlichen Gehalt von zehn Thalern schon vergangenen Monat einen Thaler für Feuerung draußen zugesetzt und werden nun noch einen uns von unserer kargen Haushaltung abdarben müssen. Das hohe Directorium würde gewiß diesem Uebelstande abhelfen, wenn es davon Kenntniß erhielte. Mein Mann erzählte mir, daß schon Bittschreiben in dieser Angelegenheit an die vorgesetzten Betriebsbeamten abgegangen, aber bis jetzt ohne Erfolg geblieben seien; letztere zu übergehen und sich direct an das Directorium zu wenden, verbiete den Bahnwärtern ihre Instruction.‘

So erzählte mir die Frau, die sich über die Leiden, die ihr braver Mann in seinem Dienst auszustehen habe, nicht trösten konnte.

Wenn aber diese eine Leidensgeschichte wahr ist, so ist sie es für Hunderte ebenso behandelter Bahnwärter, und der Jammer betrifft Tausende von armen Menschen im Dienste der einträglichsten Speculation.“

Wir verschweigen heute noch die nähere Bezeichnung der betreffenden Bahnverwaltung, in der Hoffnung, daß der Glaube der Bahnwärtersfrau an „das hohe Directorium“ in Erfüllung gehe, nachdem ihm dieses Blatt vor Augen gekommen sein wird. – Verhält sich aber Alles so und erfährt trotz alledem unsere Bitte dieselbe Nichtbeachtung wie die der frierenden Bahnwärter an ihre Vorgesetzten, dann werden wir uns allerdings genöthigt sehen, die betreffende Verwaltung so laut und so lange beim Namen zu rufen, bis sie ihrer Pflicht der Menschlichkeit gerecht geworden ist.




Die Priester als Kunst-Mäcene. Wo die Päpste und hohen Würdenträger der römischen Kirche angegriffen werden, da pflegt man doch von den Verdiensten zu sprechen, die sie sich um die Förderung der schönen Künste erworben haben. General Garibaldi theilt auch diese letztere Anerkennung der Priesterherrschaft nicht. In seinem soeben frisch aus der Presse gekommenen (auch gleichzeitig deutsch in Hartleben’s Verlag erschienenen) Roman „Die Herrschaft des Mönchs“ sagt er über den betreffenden Punkt:

„Wie kann ein Künstler in Rom existiren und seine Familie gut ernähren, wenn er sich nicht der Gönnerschaft der Geistlichkeit erfreut und von ihr beschäftigt wird? Eine der wirksamsten Waffen der römischen Kirche ist von jeher die Gunst gewesen, welche sie den schönen Künsten angedeihen läßt. Von jeher hat sie sich der Zeit und des Talents der ersten italienischen Meister bemächtigt, um Statuen und Gemälde anfertigen zu lassen, welche darauf berechnet sind, die von ihr gepredigten Lehren dem Volke einzuprägen, indem sie zugleich demüthig das Lob hinnimmt, welches ihr für diese dem Genie erwiesene Aufmerksamkeit gespendet wird, so daß Künstler aller Nationen sich durch diese Ermuthigung zur Niederlassung in Rom veranlaßt sehen.“

Und in einer Anmerkung, welche sich auf diese Stelle bezieht, fügt der Kenner der römischen Zustände und Persönlichkeiten weiter hinzu: „Eine der treffendsten Illustrationen der Art und Weise, wie die römische Kirche ihren Schutz der schönen Künste zur Einschärfung ihrer Lehre und zur Vergrößerung ihrer Macht anwendet, sind die Frescomalereien des Campo Santo in Pisa. Hier sehen wir die Bilder des Todes, Fegefeuer und Hölle, Engel und Teufel, die um die Seelen der Hingeschiedenen kämpfen, Schlangen, die ihr Fleisch verschlingen, Teufel, die es braten oder mit glühenden Haken zerreißen. Aus dieser schrecklichen Lage, so lehren die Priester, können die auf der Erde Lebenden ihre unglücklichen Verwandten retten, wenn sie den geistlichen Vätern Schenkungen machen, die dann für die Erlösung der Gepeinigten beten. Wir lesen im Neuen Testament, daß die Reichen schwer in den Himmel kommen. Nach der römischen Lehre aber sind es gerade die Reichen, welche leicht Eingang finden, während die Armen, die nichts geben können, ganz ausgeschlossen bleiben!“


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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