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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

noch den Dienst. Sie hielt den Gatten lange still umfangen. Die Großmutter war die Erste, die sprechen konnte und dem Sohn erzählte, wie viel unglücklicher sie noch hätten werden können, wenn der Mohr nicht gewesen wäre, und wie man Gott für das danken müsse, was er einem noch gelassen und so wunderbar gerettet habe! Die kleine alte Frau, eine Zwinglianerin von echtem Schrot und Korn, war aufrecht und stark in ihrem festen Glauben, daß „Alles wohlgethan, was der Herr thut,“ und ihre einfachen Worte waren wie eine beruhigende Arzenei. Was hat auch solch’ alte Mutter schon Alles verloren, wie hat sie sich geübt im Leiden, wie viel Schmerzen sind über ihr Herz hingegangen, bis sie ihr Kind groß gezogen! Und wie sie’s vom ersten Lallen an belehrt und in allem Guten unterwiesen, bis es über sie hinauswuchs und nichts mehr brauchte, als ihre Liebe, die der echte Mensch nie missen lernt, so bleibt auch noch für die spätesten Jahre übrig, was die Mutter und nur sie dem Kinde zu lehren vermag – die Geduld im Leiden! Es ist ein heiliger Augenblick, wo solch’ eine Mutter den eigenen Jammer um den des Kindes hinunterkämpft und ihm den letzten, den schwersten Unterricht giebt, den das Unglück zu tragen. Und Herr Hösli bückte sich zu der kleinen Mutter nieder und drückte sie an seine Brust. „Ja, Müetti,“ sagte er, „wir wollen’s aushalten.“ und die Beiden verbargen in liebender Schonung Eines vor dem Andern ihre Thränen.

Dann wandte er sich nach Aennchens Zimmer, aber Frau Hösli stand hülflos da und streckte ängstlich die Arme aus. „Ich bitte Euch, helft mir, ich kann ja nicht gehen!“

Herr Hösli sah sie erschrocken an. „Was ist das, Frau?“

„O, es ist eben von dem Schreck, es wird schon besser werden,“ sagte sie und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln.

Die Männer stützten sie und sie schleppte sich mühsam bis zu Aennchen. Als sie eintraten, fanden sie Frank wieder bei dem Bette des Kindes. Er stand auf. „Komm’ her, Frank,“ rief Herr Hösli, noch bevor er das Bett erreicht. Frank ging ihm entgegen und Herr Hösli schloß den Neger in seine Arme. „O, das ist zu viel für mich!“ sagte Frank verwirrt und erschüttert. Fräulein Körner, die von ferne stand, sah mit leuchtenden Blicken zu. Frau Hösli überzeugte sich sorgenvoll, daß Aenny noch immer nicht bei Besinnung war. Der Arzt hatte erklärt, sie sei bei dem Herabstürzen an dem Seil mit dem Kopf gegen die Mauer angeprallt und habe eine leichte Gehirnerschütterung erlitten.

„Man muß Geduld haben,“ tröstete der Großvater. Frau Hösli nahm Frank’s Hände in die ihren. „Mein Frank, hat man denn auch für Dich gesorgt und Dich gepflegt nach Deiner schweren That? Ich konnte mich ja um nichts kümmern!“

Frank deutete auf Fräulein Körner und es war, als ob er unter seiner dunkeln Haut erröthete. „O, sie war so gut zu mir – „o, she is an angel!“

Bei Fräulein Körner sah man es besser, daß sie erröthete, als bei dem Mohren.

„Ich dachte, ich handelte im Sinne meiner Herrschaft.“

„Sie hatten Recht, liebe Ida.“ Frau Hösli küßte sie auf die Stirne. „Ich danke Ihnen dafür!“

„Habt Ihr den Lasso nicht aufgehoben, der unser Kind retten half?“ fragte Herr Hösli.

„O, mein Gott, daran dachte wohl Niemand,“ rief Frau Hösli, „wie schade!“

„Doch, hier ist er!“ Fräulein Körner holte ihn aus einem Kasten hervor. „Ich habe ihn Aenny abgenommen und aufbewahrt.“

„Frank,“ sagte Herr Hösli „dies ist ein Band, das Dich untrennbar mit uns verbindet. So fest diese Schlinge, die Deine Eisenfinger knüpften, den Stein hielt, den nur eine Faust wie die Deine schwingen konnte, so fest wollen wir Dich halten in Liebe und Dankbarkeit, Du seltener, treuer Mensch. Wenn wir Dich bisher nur als Diener behandelten, so vergieb uns, wir wußten nicht, wer Du bist. Jetzt wissen wir’s und wollen das Versäumte nachholen.“

Die Herrschaft hatte das Zimmer verlassen. Frank stand noch immer wie verzaubert an derselben Stelle. „A dream, it is a dream!“ murmelte er vor sich hin. Da legte sich etwas weich und warm auf seine gefalteten Hände. „Kein Traum, Herr Frank!“ sprach Ida Körner. „Nicht mehr als Sie verdienen! So hat mich in meinem Leben nichts gefreut, als die Worte, die Herr Hösli an Sie richtete. O, die glücklichen Leute, sie sind reich und können Ihnen danken, wie sie nur wollen, können Ihnen Alles geben, was Sie sich nur wünschen mögen! Ich würde Ihnen so gerne auch etwas geben, aber ich habe nichts – ich bin so arm.“

Frank hätte ihr gern allerlei erwidert, aber er wußte nicht, wie er es auf Deutsch sagen solle. Er streichelte ihr nur sanft die kleine weiße Hand, die immer noch in der seinen ruhte, und sie wunderte sich, wie weich und zart die schwarze Faust des Negers war, fast so weich wie eine Frauenhand. Und sie empfand die kindlich liebkosende Berührung des gewaltigen Mannes mit einem süßen Behagen; aber dann erschrak sie über dies Gefühl, ward befangen und entzog sich ihm rasch. Da schaute er sie so verschüchtert und so traurig an mit seinen großen Augen, daß es sie in tiefster Seele rührte. Noch eben hatte sie Alles für ihn thun wollen in dem überströmenden Gefühle ihrer Bewunderung, und jetzt konnte sie ihn kränken durch die geringste Unfreundlichkeit? Nein, das war zu kleinlich!

Und sie reichte ihm schon wieder die Hände und sah ihm in die Augen, in diese „unergründlich tiefe Nacht“, wie der Dichter singt. Und es war ihr, als ob das träumerische, geheimnißvolle Dunkel all ihr Denken einschläfere, daß sie nur noch ruhen möchte in seinem Schatten. – –

So verlebten die Beiden wehmüthig glückliche Tage an dem Bette des Kindes und wurden kaum jemals gestört, denn Fräulein Duchèsne, welche nur als eigentliche Institutrice im Hause war, betheiligte sich wenig an der Krankenpflege, und Eltern und Großeltern wurden durch die Sorgen und schmerzlichen Geschäfte des Begräbnisses fern gehalten.

Der schwere Augenblick war da, wo der irdische Rest eines stolzen jungen Daseins in dem elenden hölzernen Kasten der Erde übergeben werden sollte. Und die Theilnahme der ganzen Bevölkerung Zürichs suchte und fand ihren Ausdruck in einer Feier, wie keine schönere dort erlebt war.

Es war, als sei das Grab des jungen Mannes das Maß geworden, worin die Höslis die Liebe und Achtung messen konnten, die sie genossen.

Nicht zu zählen waren die Blumen die den Sarg bedeckten, und die ganze „Enge“ war schwarz von Menschen, die Kopf an Kopf gedrängt standen, den jungen Wanderer auf dem letzten Wege zu geleiten. Zunächst dem Hause warteten die achthundert Arbeiter der Hösli’schen Fabrik, die Hüte in der Hand, gesenkten Hauptes, und wem von ihnen sich je das Herz in Bitterkeit gegen sein Schicksal und in Neid gegen den reichen Herrn gewendet haben mochte, der war versöhnt, denn der reiche Herr hatte es ja auch nicht besser gehabt und gewollt als der ärmste Tagelöhner, er hatte sein Leben eingebüßt bei seiner Arbeit. Mehr konnte Keiner thun, und sie betrauerten ihn so aufrichtig wie Einen Ihresgleichen. Lautlos harrte die Menge im Garten und auf der Straße. Die sämmtlichen Gesangsvereine Zürichs hatten sich um die Thür im Halbkreise aufgestellt. Es war ein herrlicher Tag, die ganze Natur sandte dem Todten einen freundlichen Scheidegruß.

Endlich erschien der Sarg unter der Thür und aus fünfhundert Kehlen erscholl der Chor. „Rasch tritt der Tod den Menschen an!“ Und die gewaltige Todtenklage zog über den See hin, daß die Schiffer anhielten, zu lauschen, und schwang sich in den lichten Aether hinauf, daß die Sonne zu erbleichen schien, und ein herbstlicher Luftzug strich frostig über die entblößten Häupter hin.

Und Herr Hösli der Vater – fast brach er zusammen, als er so seinen eigenen stummen Schmerz in Tönen laut werden hörte. Aber er war so schön, dieser Schmerz, wie er so in mächtigen Klanggebilden himmelan stieg, er erschien ihm plötzlich wie eine Gottheit, die ihn, den einfachen Mann, gewürdigt hatte, in seiner Brust einzukehren, und wenn sein Herz gebrochen wäre unter der göttlichen Berührung, er hätte es in diesem Augenblick als eine Wohlthat empfunden. Eine Tröstung war über ihn gekommen, die wunderbare Tröstung, die in allem Schönen liegt!

Langsam und hoch schwankte der Sarg, von zwölf Jünglingen auf den Schultern getragen, wie ein schwarzer Schwan auf der dunkeln Fluth von Menschen daher. Zunächst folgten die Geistlichen, der Vater und Großvater, die beiden Söhne an der Hand, und zwischen ihnen Frank. Dann kamen die übrigen Verwandten und alle Züricher Behörden und Freunde, darunter auch der Freiherr und Egon mit den Knaben Alfred und Victor. Endlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_195.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)