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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

verbarg, bot die Teufelsinsel, von der Barke aus gesehen, die mich hinüberführte, ein ergreifendes Bild der Oede und des Elends. Kein Baum, um ihre Bewohner vor den Sonnenstrahlen zu schützen; nur hier und da verkrüppeltes Gesträuch; von Weg und Steg durch dies verkrüppelte Gesträuch nichts zu erblicken; nichts als kahle Felsen und einige Gebäude, welche Ställen und Casernen glichen. In dieser Oede sollte ich zehn Jahre meines Lebens zubringen, und in einem Alter, wo der Mann sonst gewohnt ist, das einzuernten, was er gesäet hat …“

„Nun, und als Sie landeten?“

„Die oberste Autorität auf der Insel war seit einigen Monaten ein einfacher Brigadier der Gensd’armerie. Zu diesem führte mich der Ruderknecht der Barke. Sein Empfang war passabel. Der Brigadier war ein noch junger Mann, der mir besser schien als sein trauriger Beruf. Er sagte mir, daß ich mich drei Mal täglich bei ihm einzufinden hätte, einmal Morgens um fünf Uhr, das zweite Mal um sechs Uhr, zum dritten Male zehn Uhr Abends. Abgesehen von diesem dreimaligen täglichen Appell und von der Verpflichtung, die Nächte in dem gemeinschaftlichen Schlafsaale zuzubringen, könne ich auf der Insel frei umhergehen und thun und lassen, was ich wolle. Als meine Vorstellung bei dem Brigadier beendigt war, ging ich gerade aus, mitten hinein in das Gestrüpp und in die Felsen, um zu untersuchen, wo ich mich eigentlich befand. In der Ferne hatte ich einige mit Stroh gedeckte Lehmhütten und in ihrer Umgebung Menschen bemerkt. In der Nähe derselben angekommen, konnte ich die Einzelnheiten des Bildes unterscheiden. Die Hütten bestanden aus Steinen und Lehm; die Bedachungen aus Maisstroh. Die Menschen gingen in Lumpen; ihre Gesichtszüge waren von der Sonne verbrannt; keine Schuhe an den Füßen; sie gingen barfuß. Es waren meine zukünftigen Leidensgefährten, die politischen Verbannten. Sie begrüßten mich in freundschaftlicher und herzlicher Weise; ich sagte ihnen, wer ich sei, und einer von ihnen bot mir seine Hütte als Wohnung an. Unter seiner Führung begab ich mich nach dem Innern der Insel, um mir mein zukünftiges Quartier anzusehen. Das ärmlichste und schlechteste Bauernhaus in Frankreich konnte, mit dieser Hütte verglichen, als Palast gelten. Einige größere und kleinere Löcher bildeten Fenster und Thüren. Das ganze Mobiliar bestand aus einem roh gearbeiteten hölzernen Tisch und aus einem ähnlichen Stuhl. Ich ließ mich auf den Stuhl nieder und war froh, den brennenden Sonnenstrahlen entflohen zu sein. Das war mein Empfang auf der Teufelsinsel.“

„Und wie viel Deportirte fanden Sie auf dieser abscheulichen Insel vor?“

„Fünfunddreißig. Sie stammten aus drei Kategorien. Die erste Kategorie gehörte in die Zahl der Bürger, welche nach dem Staatsstreich deportirt waren; die zweite bestand aus Juni-Insurgenten, welche im Jahre 1848 nach Afrika und später unter allerlei Vorwänden nach Guyana gebracht waren; die dritte aus einigen Schwarzen von den Ufern des Senegal, aus den Verurtheilten der Schieferbrüche von Angers, aus solchen, die wegen Theilnahme an geheimen Gesellschaften verurtheilt waren, und aus dem unglücklichen Tibaldi.“

„Tibaldi,“ unterbrach ich den ehemaligen Präfecten des Norddepartements, „schildern Sie mir Tibaldi. Er wurde wegen angeblichen Complots zugleich mit Ledru Rollin und Mazzini von bonapartistischen Richtern verurtheilt. Ledru Rollin und Mazzini haben dies Complot für Erfindung der bonapartistischen Polizei erklärt. Beide schützte ihr Aufenthalt in England; aber der unglückliche Tibaldi fiel als Opfer dieses Polizeicomplots und wurde nach Guyana deportirt. Keine Nachricht über ihn ist seitdem aus Guyana nach Europa gedrungen.“

„Von meinen Leidensgefährten auf der Teufelsinsel,“ sagte Delescluge, „habe ich die meiste Sympathie für Tibaldi empfunden und am meisten mit ihm verkehrt. Die Sanftmuth seines Charakters, sein feines Benehmen und die Würde, mit der er sein Unglück trug, erwarben ihm meine Hochachtung und meine volle Sympathie; aber nicht allein meine, sondern die Sympathie aller andern Bewohner der schrecklichen Insel. Er hatte unter ihnen keinen Feind; alle liebten ihn. Seine Gesichtszüge waren schön und edel; sein Auge blickte so kühn und doch so sanft; niemals habe ich eine Klage aus seinem Munde gehört. Seit seiner Ankunft auf der Teufelsinsel war er ohne jede Nachricht von seiner Familie und von seinen Freunden in Frankreich. Meine Trennung von Tibaldi war mein einziger Schmerz, als ich von der Teufelsinsel schied und nach Cayenne gebracht wurde.“

Die kleine Colonie der Deportirten der Teufelsinsel lebte ein rein vegetatives Leben, für dessen Erhaltung und Einrichtung tägliche Frohndienste zu sorgen hatten. Die Speisen, welche sie brauchten, hatten sie sich selbst zuzubereiten; das Wasser, welches sie tranken, hatten sie selbst herbeizuschaffen und in eine eiserne Cisterne zu schleppen; das Holz, um Kochfeuer anzuzünden, hatten sie selbst klein zu machen; ihre Wohnungen selbst auszubessern, ihre Kleider selbst zu flicken. Waren die Schuhe zerrissen, so konnten sie ohne Schuhe auf dem steinigen Boden umhergehen.

„Nach einiger Zeit,“ sagte Delescluge, „sah ich ganz aus wie die Andern; meine Kleider fingen an zu zerreißen, und wenn ich noch länger auf der Insel geblieben wäre, würde ich ebenfalls in bloßen Füßen umhergegangen sein; dem überflüssigen Luxus, Strümpfe zu tragen, mußte ich sehr bald entsagen. Ich bekam meinen Platz in der Schlafbaracke; ich erschien zur regelmäßigen Zeit beim Appell; ich stand auf und legte mich schlafen, wenn ich die Kanonenschüsse hörte, welche die Zeit des Aufstehens und des Schlafengehens anzeigten; mit einem Worte: ich lebte und existirte bald mit der Regelmäßigkeit eines Veterans der Inseln des Heils.“

Täglich landete eine von der Königsinsel kommende Barke an der Teufelsinsel und brachte für die Deportirten das tägliche Futter, natürlich in rohem Zustande. Dies Futter bestand für jeden Deportirten aus anderthalb Pfund Brod von mehr oder minder genießbarem Zustande, welches zuweilen durch verschimmelten Zwieback ersetzt wurde, aus Mehl von Brodfruchtstauden, aus Rindfleisch oder Schweinefleisch, aus Bohnen oder Reis und aus etwas Oel und Schmalz. Aber das frische Fleisch war selten genießbar, das gesalzene Fleisch fast niemals; die Bohnen trotzten dem stärksten Appetit durch ihre Härte, und im Reis krochen die Würmer umher. Diese Vorräthe konnten die Deportirten unter sich vertheilen und sie in rohem Zustande verzehren oder sie am Feuer zubereiten, wie sie Lust und Geschick hatten.

„Als ich am ersten Tage meiner Ankunft auf der Teufelsinsel meinen Antheil an Victualien empfing,“ sagte Delescluge, „wußte ich gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich besaß keine Küche, keinen Feuerheerd, keinen Topf und keinen Teller, nicht Gabel noch Messer; von Kochkunst verstand ich nichts. In einem Bananblatte schleppte ich meine Vorräthe heim und konnte wie Hamlet sagen: ‚Sein oder Nichtsein, das ist die Frage!‘ Mein Gastfreund, der mich eingeladen hatte, seine Hütte zu theilen, und etwas von der edlen Kochkunst verstand, erbot sich glücklicherweise auch, mir meine Vorräthe zuzubereiten; sonst hätte ich sie roh verzehren oder verhungern müssen.“

Am Sonntag war es den Deportirten gestattet, sich für ihr eigenes Geld ein wenig Wein zu kaufen; mehr als fünfundzwanzig Centilitres wurden aber nicht verabreicht. Wer kein eigenes Geld hatte, mußte auf den Wein verzichten. Daß das heiße und zugleich feuchte Klima von Guyana die Kräfte erschöpft, indem es den menschlichen Körper in einem fortwährenden Zustande der Transpiration erhält, ging die mörderische bonapartistische Regierung natürlich nichts an. Um die Gesundheit der politischen Deportirten kümmerte sie sich nicht. Die Republikaner wurden ja gerade deshalb nach Guyana deportirt, um zu sterben. Die Deportation der Galeerensträflinge aus den Bagnos nach Guyana, welche Louis Bonaparte nicht lange nach dem Staatsstreich eingeführt hat, hatte denselben Zweck. Ein Seeofficier, der mich vor einigen Jahren im Bagno von Toulon umherführte, sagte mir, als ich mit ihm von den Deportationen nach Cayenne sprach: „Die Deportation nach Cayenne ist einem Todesurtheil ganz gleich zu achten. Cayenne ist der Tod.“ Als Delescluge von der Teufelsinsel nach Cayenne gebracht wurde, brachte er einige Stunden auf der Insel des heiligen Joseph zu. Er fand dort Deportirte, welche wegen Bruches des Stadtarrestes oder wegen Internirung an einem bestimmten Orte nach der Insel des heiligen Joseph gebracht waren. Sie waren zu derselben Zeit wie er in Toulon eingeschifft worden, und seit ihrer Ankunft auf der entsetzlichen Insel waren bereits von sechsunddreißig nicht weniger als elf dem mörderischen Klima erlegen. Diese Menschenhekatomben, welch’ ein schreckliches Blatt aus dem Schuldbuche Louis Bonaparte’s!

In dieser Weise vergingen den Deportirten der Teufelsinsel die Tage in fortlaufenden Frohndiensten und in ewigem Einerlei, während ihr Verkehr mit der Welt einer sorgfältigen Ueberwachung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_219.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)