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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 15. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Der Fels der Ehrenlegion.
Novelle von Berthold Auerbach.


1. Maskerade auf der Eisenbahn.

Auf dem Bahnhofe einer mitteldeutschen Gebirgslandschaft hielt ein schöner mit zwei Schimmeln bespannter offener Wagen im Schatten einer großen, mit frischem Frühlingsgrün belaubten Buche. In die gelblichen damastenen Kissen zurückgelehnt saß eine jugendliche, in Grau gekleidete Frauengestalt; sie hatte die Arme übereinander gelegt, und ihre großen dunklen Augen waren nach dem Gebirge gerichtet, das in schön geschwungener Wellenlinie sich darstellte.

Jetzt warf sie den Kopf zurück, auf dem eine Art modischen Tirolerhutes mit durcheinander wehenden grünen Hahnenfedern saß; sie erhob sich, nahm eine große in grau Leinen gebundene Mappe aus der Seitentasche des Wagens und begann zu zeichnen, bald rasch in die Landschaft hinausschauend, bald den Blick streng auf das Papier geheftet. Ihre Züge nahmen einen tiefernsten Ausdruck an, das längliche Gesicht, etwas bräunlich angehaucht, von nicht mehr erster Jugendfrische, durchzog sich mit einer leichten Röthe. Sie preßte den schöngeschnittenen Mund, auf dessen Oberlippe sich ein leichter Flaum zeigte, wie in Aerger zusammen; ihre Arbeit schien sie nicht zu befriedigen; sie setzte mehrmals ab, schüttelte den Kopf, ja sie schlug sogar einmal das Buch zu. Vor sich hinnickend, wie sich selber Muth zusprechend, öffnete sie es wieder und arbeitete weiter; allgemach gewannen ihre Mienen einen beruhigten, ja fast zufriedenen Ausdruck.

Durch Anlage der Eisenbahn war ein neuer Standpunkt zur Betrachtung der landschaftlichen Schönheit gewonnen, dessen man vielleicht nie inne geworden wäre; denn das ist nach allen Seiten hin ein auszeichnender Charakter unserer Zeit, daß uns Alles in neue Gesichtswinkel gerückt wird.

Die Zeichnerin wurde immer heftiger in ihrer Arbeit. Trotz des nur mildwarmen Frühlingstages schien es ihr heiß zu werden. Sie nahm rasch den Hut vom Kopfe und legte ihn neben sich. Das dunkle Haar, über der Stirn schlicht angelegt, war in zwei starken Flechten im Nacken aufgesteckt, die Stirn, nicht besonders groß, ließ zumal beim Ernste eine durch die Mitte sich hinziehende Falte wahrnehmen, deren Spur auch bei ruhigem Verhalten noch zu erkennen war. Das ganze Antlitz zeigte deutlich, daß der Ernst des Lebens seine Merkmale darauf zurückgelassen.

Durch den Lerchensang in der Luft und Finkenschlag in dem Baume tönte aus der Ferne ein langgezogener, schriller Ton der Locomotive. Die Zeichnerin machte noch rasch einige Striche, schlug das Buch zu, verbarg es wieder, setzte den Hut auf, und die Arme übereinander schlagend schien sie wieder ruhig warten zu wollen.

Ein Diener in brauner Livree trat zu dem Kutscher, der die Pferde am Lenkriemen hielt, er lüpfte den Hut mit der schwarzen Cocarde und sagte zu der Dame - er nannte sie „Fräulein“ - der Zug sei bereits signalisirt. Er öffnete den Schlag und machte eine Bewegung, als wollte er der Dame aus dem Wagen helfen. Diese aber sagte, ohne den Diener anzusehen, in die Luft hineinstarrend: „Ich steige nicht aus, bringen Sie Fräulein von Korneck hierher.“ Im Ton ihrer Stimme lag ein herrischer, vielleicht auch verdrossener Ausdruck.

Louise Merz, dies ist der Name der Wagenbesitzerin, erwartete eine Jugendfreundin, zu der sie jene Intimität des Pensionats hatte, die sich nur selten fortführt, die aber hier mit ständiger Beflissenheit erhalten wurde: Es war, als ob die Erwartete bereits die Unruhe verursachte, die sie immer mit sich brachte; denn Louise stand auf und setzte sich wieder, sie schien zu überlegen, ob sie nicht doch die Freundin beim Aussteigen begrüßen solle; aber als sie jetzt bemerkte, daß die Beamten des Bahnhofes, die auf den Perron getreten waren, nach ihr schauten, ja sogar Anderen sie zeigten und nach ihr hindeuteten, hielt sie sich wieder ruhig. Die Leute sollten nicht sehen, daß sie eine Freundin von so beweglichem Wesen hatte, die sich gewiß sehr erregt benehmen und Aufsehen erregen wird. Die ganze Umgegend sollte wissen, daß Louise Merz mit dem Leben abgeschlossen und eine matronenhafte Haltung habe.

Die Pferde mußten im Zügel gehalten werden, da jetzt der Zug so nahe heranbrauste. Ein weißes Tuch wehte aus einem Wagen zweiter Classe. Jetzt hielt der Zug an. Eine Frauengestalt reichte dem Diener behutsam ein Wickelkind aus dem Wagen heraus und legte es ihm auf den Arm, dann stieg sie aus; sie war von schlanker Gestalt, hellfarbig gekleidet; sie grüßte nochmals an den Wagen zurück und grüßte nach der wartenden Freundin unter dem Baume. In ihren Bewegungen war eine behende Lebhaftigkeit und sie schaute in die Luft, in die Gesichter der Menschen, als wollte sie ständig fragen, ob es nichts zu lachen gebe. Schachteln und Handtaschen wurden schnell auf den Boden gestellt. Die Angekommene nahm dem Diener das Eingewickelte ab, es schien ein junges Kind zu sein; sie hielt es behutsam und eilte damit zu der Freundin. Die Diener gingen mit dem Gepäck hinterdrein, auch der Bahnhofs-Inspector trug eine Tasche, er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_225.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)