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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Ein ganz neues Leben that sich ihr auf, als sie mit Marie in die Malerschule eintrat, die ein namhafter Künstler ausschließlich für Mädchen errichtet hatte. Marie verstand gut, menschliche Figuren zu zeichnen, aber sie liebte es noch weit mehr, Carricaturen zu fertigen; Louise hatte Neigung und Talent für die Landschafterei. Im Atelier führte Marie das große Wort, sie wußte von Allem, was in der Residenz vorging, besonders aber in militärischen Kreisen. Wie von selbst aber bildete es sich heraus, daß Louise als die Urtheilsvollste angesehen wurde, und wenn sie um eine Meinung gefragt wurde, gab sie solche mit einer Begründung und einem Eingehen auf etwaige Einwendungen, daß sie, wie von selbst, den Namen erhielt: „Tochter des Parlaments“.

Marie war überaus lustig und heiter und besonders neckisch gegen den Vater Merz. Dieser hatte sich gelobt, nach dem Tode seiner Frau ausschließlich seinem Kinde und den allgemeinen Anliegen des Vaterlandes zu leben, aber schon im ersten Winter, als Marie täglich im Hause verkehrte, fand er eine solche Anmuthung im Umgange mit ihr, die jede Stunde erheiterte, daß er in seinem Vorsatze schwankend wurde. Marie, der diese Neigung nicht entging, hatte nichts Ablehnendes; ja, sie war besonders zutraulich gegen ihn, und selbst der Major hatte ein Benehmen gegen Herrn Merz, als wollte er beständig sagen: Warum bist Du denn so zaghaft, alter Knabe? Die Sache wäre ja mit zwei Worten abgemacht. ...

Wochenlang hörte Herr Merz nichts von den Debatten, die um ihn her im Abgeordnetenhause gehalten wurden, denn er hörte nur die Debatten in seinem Innern, und diese waren so stürmisch, die Parteien kämpften so unparlamentarisch, daß der Vorsitzende, als ruhiger Verstand, sie oft zur Ordnung rufen mußte.

Herr Merz verschloß jede Kundgebung seiner Herzensbewegung, aber diese entging doch seiner Schwiegermutter nicht. Wenn Alles von dem muntern Wesen Mariens entzückt war, Vater und Tochter in ihrem Lobe mit einander wetteiferten, und man sich nach ihrem Weggange so öde und leer vorkam – da schüttelte die alte Dame oft verweisend ihr graues Haupt und löste die feine Hand von dem Strickzeuge, indem sie sagte: „Schade, schade! Fräulein von Korneck wäre die beste Schauspielerin!“

Herr Merz bezwang sich und wiederholte mit Geflissentlichkeit, sowohl vor Marie, wie vor ihrem Vater, daß er auf jede eigne Lebenserneuerung unbedingt verzichtet habe und Alles nur noch von Louise erwarte. Er hoffte immer, daß sein Kind doch bald den Mann finden würde, der diese Fülle von Herz und Geist und diese tiefe Begabung zu würdigen wisse. Auch Louise war frei genug, zu gestehen, daß sie sich zu verheirathen wünsche; aber Jahr um Jahr verstrich, Louise stand mit den besten Männern des Landes in freundlicher Beziehung, anfangs scherzend, dann immer ernster sagte sie, es scheine, daß nur verheirathete Männer sich ihr als tüchtig und geradezu darstellten; die Ledigen wollte sie immer geckenhaft oder sentimental finden, und bald auch glaubte sie, daß dieser und jener nur ihres zu erwartenden bedeutenden Reichthums wegen sich ihr nähere.

Im Sommer kam ein Brief von Marie, worin sie anzeigte, daß ihr Vater gestorben sei und sie nun allein und verlassen dastehe. Louise wünschte, daß der Vater Marie zu sich in’s Haus nehme; aber dieser, der sonst seinem Kinde keinen Wunsch versagte, lehnte es auf das Entschiedenste ab. Er behauptete, daß Louise durch den Anschluß an die Freundin dann ganz sicher kein eignes Leben gewinnen werde; sie sollte eine gewisse Sehnsucht nicht loswerden, um doch noch zu einem eigenen Hausstande zu kommen; in’s Geheim aber hatte er einen Widerwillen gegen Marie, der seltsamer Weise aus der bezwungenen Neigung stammte. Marie schrieb bald darauf, daß sie sich entschlossen habe, mit einer alten Dame auf Reisen zu gehen.

Herr Merz, der sich immer mehr nur dem politischen Leben widmen wollte und es für Pflicht hielt, daß Männer von unabhängiger Stellung sich solchem ausschließlich hingäben, verkaufte seine Fabrik. Er wollte ganz in der Residenz bleiben, aber auf Andringen Louisens zog er nach dem Landgute, das er im Gebirge besaß. Aber eben das Jahr darauf, als er sich völlig frei gemacht hatte, um sich nur dem staatlichen Leben zu widmen, wurde er nicht wiedergewählt. Nach dem ersten Schmerze der Zurücksetzung getröstete er sich aufrichtig – es war nicht bloße Redensart – daß es so viele tüchtige Menschen gebe, welche die Angelegenheiten des Vaterlandes vertreten können. Er sagte oft: man muß dem Rufe folgen, aber man muß auch still abwarten können, wenn man nicht gerufen wird, bis wieder die Zeit kommt.

Daneben war ein Umschwung in den Verhältnissen eingetreten, der es ihm seiner Gemüthsart nach erwünscht machte, nun nicht zur strengen Opposition gehören zu müssen. Er war keine kämpfende Natur, die sich in schroffem Widerstreit wohl fühlt; er liebte die Verträglichkeit, natürlich nur so weit sie mit seinen Grundsätzen vereinbar.

Jetzt konnte er die Sündfluth, die das Chaos zu bringen schien, in seiner behaglichen Arche abwarten. Die Tauben, die ihm die Nachrichten vom Wasserstande draußen brachten, waren die Zeitungen. Er las mit großem Eifer die Kammerverhandlungen; er hatte treffende und auch rednerisch wohlgeordnete Entgegnungen im Kopfe, die er nun leider nicht mehr anbringen konnte. Er widmete sich mit Eifer den Angelegenheiten der Gemeinde und der Landschaft, aber er empfand doch immer noch eine Leere und hoffte eine Erfrischung seines Lebens nur noch von der Verheirathung Louisens. Aber diese hatte das Vierteljahrhundert überschritten und bekannte nun offen, sie habe endgültig mit dem Leben abgeschlossen und wolle sich ganz ihrem kleinen Talente widmen.

Marie war von ihrer mehrjährigen Reise zurückgekehrt und wohnte mit der alten Dame in der Garnisonstadt. Als sie zum Besuche auf das Landhaus des Herrn Merz kam und mit ihm allein war, erkannte sie schnell dessen Befangenheit und sagte im heitersten Tone: „Ach, Herr Merz, warum haben Sie mich nicht vor Jahren geheirathet? Jetzt ist es zu spät, ich bin verlobt.“

„Darf man wissen, mit wem?“ fragte Herr Merz.

„Nein, das darf man nicht wissen.“

Seit jenem ersten Besuche hatte man sich nicht wiedergesehen. Jetzt war Marie eingeladen worden, da man noch einige Tage zusammen sein wollte, bevor Herr Merz und seine Tochter nach Italien reisten.




3. Auf eigenem Boden.

In raschem Trabe fuhr der Wagen mit den beiden Mädchen die Landstraße entlang.

„Ach, wie glücklich bist Du, solchen Wagen Dein eigen zu nennen!“ rief Marie. „Man sollte gar nicht glauben, daß man so finster drein schauen kann, wenn man im eigenen Wagen dahinfährt.“

Louise kannte das beständige Hadern der Freundin mit ihren ökonomischen Verhältnissen und sie nickte dazu, daß Marie durch allerlei Scherz sich die eigentlich traurige und abhängige Lage erheiterte und befreite. Marie mochte den Gedankengang der Freundin ahnen; sie erklärte, daß das Leben eitel Possenspiel sei, und das Beste wäre, man spiele frischweg mit. Sie erzählte mit großer Lustigkeit, welche Abenteuer sie unterwegs gehabt.

Louise lenkte sie hiervon ab und fragte, wie es ihr bei der Dame gehe, bei der sie jetzt als Gesellschafterin lebte.

„Ach!“ rief Marie, „sie klagt immer über ihre früheren Gesellschafterinnen und klagt zu Anderen gewiß auch über mich. Die edle Dame will immer sehr geliebt sein und dabei sehr wenig Honorar geben! Kehrbesen und Staubwedel sollten sich auf ihrem Wappen kreuzen, denn Auskehren und Abstäuben sind ihre beiden Lebensziele. Jeden Abend muß ihr das Dienstmädchen eine alte Zeitung in kleine Schnitzel zerreißen, diese zerstreut sie dann in die Stuben in alle Ecken, um anderen Tages sicher zu sein, daß überall gekehrt worden ist.“

„Du mußt doch aber froh sein, einen Beruf zu haben,“ suchte Louise abzulenken.

„Beruf? Ich sage wie Rückert – oder ist es nicht von Rückert? – ‚Hätt’ ich auch hunderttausend Thaler Renten, ich hätte mich Euch niemals aufgetischt.‘ Beruf? Sag’ mir doch das Wort nicht mehr. Wenn ich reich wäre, ich heirathete einen Mann, der mir gefällt, und ließe Anderen den Beruf.“

Ein ernster Ton wurde nun von Marie angeschlagen, da sie die Freundin ermahnte, doch nicht fort und fort die Spröde zu bleiben und alle Bewerber abzulehnen.

Louise entgegnete, daß sie mit dem Leben abgeschlossen habe.

„Abgeschlossen?“ lachte Marie. „Warum sagst Du nicht auch: ‚Ich habe ausgerungen, überwunden‘? Du bist ja ein Jahr jünger als ich. Ach, wenn nur Jemand käme, der Dich einmal bändigte!“

„Bändigte? Bin ich denn wild?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_227.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)