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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

erheben sich aus ihren Gräbern und wirken oder wehklagen wieder vor unseren Augen. Voltaire, Rousseau auf der einen, Kant, Lessing auf der andern Seite werden vor uns wieder lebendig, sie geben Zeugniß von der großen Zeit unserer Wiedergeburt und weisen uns mit bedeutungsvollen Winken auf die Aufgaben unseres Jahrhunderts, denen wir uns theils durch Gewalt, theils aus eigener Verirrung so oft schon jämmerlich entfremden wollten.

H. B.




Aus den Zeiten der schweren Noth.
Der „Löwenstein“ von Braunschweig.

An einem sonnigen Augusttage des Jahres 1806 zog eine Schaar Menschen aus dem Herzogthore von Wolfenbüttel, Jung und Alt einander nacheilend, wie es das stille Städtchen sonst nur an einem Tage im Jahr, wenn die Bürgerschaft zum Freischießen den festlichen Auszug hielt, zu schauen gewohnt war. Das Ziel dieser Wanderung war ein Gasthaus, an der nach Braunschweig führenden Heerstraße gelegen und „zum Forsthause“ genannt. Vor der Einfahrt zu diesem Gehöft, dessen Stallungen und Gärten sich weit an der Straße hinziehen, hielten zwei elegante Reisewagen, welche die in ihre Staatslivrée gekleideten Postillons eben mit frischen Pferden zu bespannen beschäftigt waren, dicht umdrängt von der neugierigen Menge, der sie sich kaum bei ihrer Arbeit zu erwehren vermochten. Eine halbe Stunde wohl hatten die Versammelten auf der schattenlosen, staubigen Heerstraße Stand gehalten, als endlich das Interesse der Zuschauer von den Equipagen ab sich der Thür des Gasthauses zuwandte, aus welcher dann zwei Herren in preußischen Uniformen erschienen, um die Pferde zu besteigen, welche von Reitknechten in braunschweigischer Hoflivrée eben vorgeführt wurden. „Das ist der Herzog,“ lief es flüsternd durch die Menge, und man deutete verstohlen auf den älteren Herrn, einen schönen stattlichen Greis, mit dem in Brillanten funkelnden Stern des schwarzen Adler-Ordens auf der Brust, der jetzt trotz seiner siebenzig Jahre so aufrecht und elegant zu Pferde saß, als wäre er zwanzig Jahre alt und eben erst von der Wiener Reitschule heimgekehrt. Mit dem abgenommenen Tressenhut nach den Fenstern des ersten Stockes salutirend, an welchen sich mehrere Damen zeigten, sprengte dann Herzog Karl Wilhelm Ferdinand, denn dieser war es, vom Hofe mitten durch die ehrerbietig zurückweichende Menge, ihm nach seine Begleiter, und fort ging es in gestrecktem Galopp auf der Straße nach Braunschweig zu.

Nachdem die Zuschauer die Reiter bald aus den Augen verloren hatten, wandte sich ihre Aufmerksamkeit wieder den noch harrenden Equipagen zu. Jetzt erschien ein Diener und öffnete den Schlag des ersten Wagens für eine Dame, welche dicht hinter ihm aus dem Hause trat. Sie trug ein nach damaliger Mode knapp anschließendes weißes Reisekleid, den Kopf bedeckte ein feines Spitzentuch, das unter dem Kinn durch eine Brillantnadel zusammengehalten wurde, während unter demselben hervor eine Fülle blonder Locken auf Schultern und Nacken niederwallte. Die Frau war von so überraschender Schönheit, die ganze Erscheinung so voll Majestät und Engelsmilde zugleich, daß die Menge wie gebannt dastand. – Einige Augenblicke unter der Thür verweilend, erwiderte sie die Grüße der Nahestehenden mit bezaubernder Freundlichkeit, dann bestieg sie ihren Wagen, in welchem eine ältere Dame neben ihr Platz nahm, während drei jüngere von einem Cavalier zu der zweiten Equipage geleitet wurden. Noch einmal, während die Postillons eine schmetternde Fanfare bliesen, die das Echo des nahen Waldes wachrief, grüßte die schöne Frau aus dem geöffneten Wagenfenster, und fort ging es auf demselben Wege, welchen zuvor der Herzog eingeschlagen hatte.

Während die Zuschauer sich gemächlich nach der Stadt zurückbegaben oder in die nahen Gärten zerstreuten, mit einander besprechend, was sie eben gesehen und gehört hatten, langte der Reisezug in Braunschweig an und hielt vor dem „Corps de Logis“ des herzoglichen Residenzschlosses. Unter dem Hauptportale dieses bei dem Schloßbrande von 1830 in Asche gelegten Prachtbaues stand, umgeben von einem glänzenden Hofstaate, Herzog Karl Wilhelm Ferdinand. Der greise Herr hatte während der wenigen Minuten, welche er durch den scharfen Vorausritt von Wolfenbüttel her gewonnen, die Uniform abgelegt und trat jetzt im galonnirten Hofkleide und Escarpins an den Schlag des ersten Wagens, half der schönen Frau beim Aussteigen und führte sie, während die am Schloßplatze aufgestellte Ehrenwache salutirte und die Trommeln wirbelten, die breite Marmortreppe hinauf, wo sie von seiner Gemahlin empfangen wurde.

Die mit so großen Ehren aufgenommene Frau, welcher Herzog Karl Wilhelm Ferdinand mit der Galanterie eines jungen Cavaliers entgegengeritten war, und die in der folgenden Nacht im Braunschweiger Schlosse schlief, war die Königin Louise von Preußen. Es war eine Mission ernster Art, welche sie zu dieser Reise veranlaßte. Sie hatte Berlin verlassen, um Sachen von hoher Wichtigkeit mit dem Herzoge zu bereden – und die guten Braunschweiger, welche bis zum späten Abend den Schloßplatz und den Garten füllten, in der Hoffnung, die allbewunderte Königin werde sich noch einmal zeigen, ahnten nicht, wie folgenschwer dieser Besuch auf sie selbst zurückfallen würde.

Der Krieg, welchen Preußen mit dem Welteroberer um seine Existenz zu führen sich gezwungen sah, war vor der Thür. Zuversichtlich blickte die Monarchie auf die Armee, welche noch aus der Schule des großen Friedrich stammte, und auf die Führer derselben, welche zum Theil noch im Schmuck der Lorbeeren einherwandelten, welche die Siege Friedrich’s auf ihre Häupter gesammelt hatten. An der Spitze des Heeres stand als Generalissimus der Herzog von Braunschweig. Auf ihn, den Helden des siebenjährigen Krieges, den einst von Friedrich selbst besungenen Sieger von Hastenbeck, waren auch die Blicke Friedrich Wilhelm des Dritten gerichtet, als es sich um den Führer für das Heer handelte. Karl Wilhelm Ferdinand aber war einundsiebenzig Jahre alt; das von ihm in den Krater der französischen Revolution geschleuderte unglückliche Manifest vom 25. Juli 1792, das die französische Nation mit Schimpf und Spott und mit der Hinrichtung Ludwig’s des Sechszehnten beantwortet hatte, dann der schmachvolle Rückzug der Verbündeten aus der Champagne – dieses Alles hatte niederschlagend auf den Greis gewirkt, und der Kummer über den entblätterten Lorbeer wurde nur durch die ungeheuchelte Liebe und Verehrung gemildert, welche ihm seine Unterthanen entgegen brachten. Der Herzog erkannte mit klarem Blick, daß es sich jetzt um die Bekämpfung eines andern Feindes handle, als der war, welchen der unter seinen Trophäen in der Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam ruhende Heldenkönig einst mit der „Berliner Wachtparade“ geschlagen hatte; die Zeit war über seinem Haupte hinweggeschritten, er fühlte das, und hatte das Commando abgelehnt. – Da kam die Königin Louise. – Und siehe, was weder das Wort des Königs noch die Zurede der höchsten Generale vermocht hatte, das gelang den Bitten Louisens; der Herzog sagte zu, und die Königin kehrte voll neuer Zuversicht nach Berlin zurück, ihrem Gemahl diese Nachricht selbst zu überbringen.

Dieser verhängnißvolle Besuch der Königin von Preußen war der letzte Glanzpunkt für den Braunschweiger Hof gewesen. Schwärzer und immer schwärzer stiegen die Wetterwolken am Horizont empor, noch wenige Wochen, und ein Fürstenhaus, um das sich die Bewohner eines gesegneten Ländchens in Liebe geschaart hatten, das den Musen eine sichere Zufluchtsstätte gewesen, war in alle Welt zerstreuet. – Am 10. September, Morgens fünf Uhr, verließ der Herzog Braunschweig und begab sich zu der in Sachsen zusammengezogenen Armee, die Sorge für sein Land hatte er dem Geheimenrath Grafen Wolffradt, späteren Minister König Jerôme’s, übergeben. „Der Herzog,“ schreibt dieser einige Tage vor der Schlacht bei Jena, „ist voller Zuversicht, heute ist noch Alles sicher, eine einzige verlorene Bataille, und wir sind hin!“ – Nach dem am 10. October erfolgten ersten Zusammenstoße mit dem Feinde, bei Saalfeld, wo in Louis Ferdinand von Preußen dem Vaterlande das erste blutige Heroenopfer gebracht war, wurde das Hauptquartier von Weißenfels nach Auerstädt verlegt. Vier Tage später erfolgte auf den Feldern von Jena jene furchtbare Niederlage des preußischen Heeres, welche Deutschland die Freiheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_231.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)