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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Trotz des unerbittlichen Winters, den ich in den Bergen noch strenger und stärker anzutreffen fürchten mußte, machte ich mich daher auf den Weg und dampfte dahin zwischen schwarzen, unter der Schneelast ächzenden Tannen und kahlen Buchen, denen der rasche Eintritt des Winters nicht einmal Zeit gelassen hatte, die dürren rothbraunen Blätter völlig abzuschütteln, dann den festgefrorenen Starnberger See entlang, der sich ansah wie ein riesiges mattgewordenes Spiegelglas, hinein in den undurchdringlichen Nebel, hinter welchem die Berge in feierlicher Unsichtbarkeit thronten, bis an den Fuß des Peißenberges. Spät Abends erst, durch Finsterniß und Schneegestöber, brachte mich ein sogenannter Post-Omnibus und dann ein flüchtiges Carriolwägelchen an das Ziel der winterlichen Fahrt, vor die gastliche Thür des vielbelobten „Schwabenwirths“; – trotz des Schneewehens schimmerte gegenüber eine lange Reihe hellbeleuchteter Fenster, und ein Festmarsch, von einem starken „türkischen“ Musikchor kräftig und sicher ausgeführt, schmetterte mir wie zum Gruße entgegen. Ich schien es gut getroffen zu haben, denn wie der gesprächige Postillon mir während des Aussteigens vertraute, wurden von der dreißig Mann starken Truppe der Ammergauer Musiker soeben die Märsche probirt, womit nach altem Brauche am Vorabend der Spieltage die Gäste begrüßt und am Morgen derselben geweckt zu werden pflegen. Bald saß ich in einer Ecke der schlichten Gaststube, unbekümmert darum, daß man den ungewohnten Gast mit einiger Verwunderung begrüßt hatte und wohl für einen „Musterreiter“ halten mochte, wie man auf dem Lande die Geschäftsreisenden aller Art zu bezeichnen liebt; ich hatte Muße, mir die Stube und die Gesellschaft darin zu betrachten, bei einem Glase Murnauer Biers, das, wenn es zur Passionszeit in gleicher Güte verabreicht wird, wohl geeignet ist, den verblaßten Ruhm des „baierischen Nationalgetränks“ wieder etwas aufzufärben. Die Decke der getäfelten Stube ist alt und an den Balken derselben sind reihenweise geschnitzte Wappenschilder angebracht – eine Erinnerung an die Zeiten, als noch der Welthandel aus dem Süden den Weg über Partenkirchen und Ammergau nahm und die Ammergauer das kaiserliche Privilegium hatten, daß alle Waare bei ihnen eingelagert werden mußte und nur von ihnen weiter geführt werden durfte. Die hohe Fluth des damaligen Ansehens und Reichthums ist längst verflossen und hat als Zeugen ihres Daseins nichts zurückgelassen als die Wappen der Kaufherren und Rollfuhrmänner. Die Gesellschaft hatte ebenfalls ein eigenthümliches Gepräge, völlig von dem verschieden, wie man es sonst in Dörfern anzutreffen pflegt; sie bestand aus einer Anzahl meist junger Leute, die sich in munterer, aber sehr ruhiger Weise mit Kartenspiel unterhielten – die typisch gewordene graue Joppe mit stehendem Kragen war das einzige Ländliche an ihnen; der Schnitt der Köpfe, die meist langen wallenden Haare, die wohlgepflegten Bärte erinnerten an eine Gesellschaft angehender Maler oder Kunstschüler. Das trog auch nicht; sie gehörten dem Geschäfte an, welches seit dem Versiechen der obigen Quellen der Haupterwerbszweig von Ammergau geworden ist und welches gegenwärtig von mehr als drei Viertheilen seiner Bewohner betrieben wird – sie waren Bildschnitzer. Offenbar hatte auch Mancher davon „im Passion“ eine Rolle zu spielen und bei Zeiten daran gedacht, seine äußere Erscheinung derselben anzuformen.

Ich erfuhr auf oberflächliche Anfrage, daß vom Beginn der Fastenzeit jeden Sonntag Spielprobe, jeden Donnerstag Musikprobe gehalten und dabei immer der halbe Passion durchgenommen werde; der andere Tag war ein Sonntag, ich mußte daher eilen, wenn ich meine Zeit nicht umsonst aufgewendet haben wollte, und wanderte Tags darauf eilig dem Pfarrhofe zu, einem klosterartigen, etwas öden Gebäude, das sich nicht rühmen kann, einen anheimelnden Eindruck zu machen; desto angenehmer wirkte die Freundlichkeit des Herrn Pfarrers Müller, der meinen Wunsch in wohlwollendster Weise aufnahm, zu meiner nicht geringen Enttäuschung aber zugleich die Unmöglichkeit seiner Erfüllung erklärte, weil, so viel ihm seit seiner noch nicht langen Amtsführung bekannt geworden, es feststehender Grundsatz sei, keinen Fremden bei den Proben zuzulassen. Es war ein leidiger Trost, als er hinzufügte, daß heute seines Wissens überhaupt eine Probe nicht stattfinde; man habe in Hoffnung milderen Wetters vorgehabt, heute auf dem bereits erbauten Passionstheater zu probiren, habe deshalb den Schnee wegkehren lassen, da sich aber neuer noch stärkerer darauf gelagert, habe man vorgezogen, diesmal ganz auszusetzen.

Der Anblick meiner Enttäuschung, meine geringe Beredsamkeit, wohl mehr aber der zur Vorsicht mitgenommene Empfehlungsbrief eines einflußreichen Freundes veranlaßten indessen den freundlichen Pfarrherrn zu der weitern Erklärung, er wolle sehen, ob eine Probe zu Stande komme, und wolle, wenn dies der Fall sei, bei den versammelten Spielern – denn von ihnen allein hänge die Entscheidung ab – einen Versuch machen, meine Zulassung zu erwirken; ich solle in meinem Gasthause in Geduld der Dinge harren; er werde mich rufen lassen, wenn, woran er übrigens zweifle, der Bescheid ein günstiger sei.

Daß eine Probe im Werke war, entnahm ich, über meinen Mittagsbraten hinweglugend, gar bald aus der Zahl der hin und wider Eilenden; aber meiner schien man nicht zu bedürfen. – Viertelstunde um Viertelstunde verging, und schon wollte ich, eingedenk der Inschrift über Dante’s „Hölle“, alle Hoffnung lassen, als der Gemeindediener, hier Wächter genannt, erschien, um mich an’s ersehnte Ziel zu geleiten.

Ich trat in einen übermäßig langen, durch das Ausbrechen mehrerer Mittelwände gewonnenen, etwas niedrigen, trotzdem mit Menschen vollgepfropften Saal und befand mich mitten unter den bereits in voller Probe begriffenen Darstellern. An einem Tische saß mit dem jetzigen der frühere Pfarrer, der geistliche Rath Daisenberger, welchem der Text des Passionsspieles seine jetzige Form und Einrichtung verdankt und der, nachdem er über ein Vierteljahrhundert thätig gewesen, sich mit einem mehr als bescheidenen Beneficium begnügt, um das zur Heimath gewordene Dorf nicht verlassen zu dürfen. Einer der Ortsbewohner saß nebenan, hatte das Spielbuch vor sich und las den Text mit. Um nicht zu stören, trat ich mit kurzem Gruße in ein Fenster und war bald vollständig von dem Schauspiele gefesselt, wie ich ein solches noch niemals vor Augen gehabt.

Ich hatte schon manche Bühnenprobe gesehen und mitgemacht, aber mit dem ersten Blicke war mir klar, daß es sich hier wirklich um etwas ganz Anderes als um ein Schauspiel im gewöhnlichen Sinne handle und woher zugleich die außerordentliche Wirkung stammt, welche dem Spiele dieser einfachen Dorfbewohner zugestanden werden muß. Zunächst drängte sich die Wahrnehmung auf, daß der Ernst des Gegenstandes, die Wucht der in ihm liegenden welterschütternden Tragik auch über allen Vorbereitungen liegt und Alles von ihnen abstreift, was mit anderen ähnlichen Uebungen an Hast, Unruhe und Zerstreuung verbunden ist. Die Darsteller denken hier nicht entfernt daran, daß sie spielen, daß sie etwas außer ihnen Liegendes machen wollen oder sollen; sie sprechen und geberden vielmehr in der Rolle ganz sich selbst, sie geben ihre eigene einfache Empfindung ohne alle Kunst, ohne jedes Studium; aber gerade in dieser vollständigen Unbefangenheit, in dem gänzlichen Fehlen aller verstimmenden Absicht liegt das Geheimniß einer künstlich nicht zu erreichenden Naturwahrheit und damit auch der Wirkung. Kein Regisseur leitete den Gang der Scenen, kein Inspicient wachte über deren Reihenfolge; es bedurfte deren nicht, denn Alle hörten und sahen ununterbrochen in schweigender Theilnahme zu und Jeder griff oder sprach im richtigen Augenblick ein – kaum daß ein paar Mal der Mann mit dem Spielbuche nöthig hatte, eine kleine Auslassung zu rügen. Jede Rede wurde ohne Stocken und vollkommen rechtzeitig gebracht, jede Bewegung wurde angedeutet und trotz des ungünstigen, die volle Entfaltung verhindernden Raumes wurden sogar die Massenscenen mit einer Ruhe und Sicherheit ausgeführt, welche geradezu Staunen erregt, so z. B. die Gefangennehmung Jesu am Oelberg und das Uebereinanderstürzen der vor seinem Entgegentreten erschreckenden Soldaten, welche wirklich wie vom Blitze getroffen mit Einem Schlage und doch in wohlgeordneter, in sich aufsteigender Gruppe da lagen, ohne daß außer den Worten des Dialogs auch nur eine Sylbe gesprochen oder ein Zeichen gegeben worden wäre. Was muß der Director einer weltlichen Bühne reden, vormachen, bitten und – fluchen, um etwas Derartiges in Scene zu setzen, und wie weit wird das Erreichte noch immer hinter dem hier Geleisteten zurückbleiben! –

Die Erklärung liegt aber nahe.

Die Spielenden führt nicht Eitelkeit oder Gewinnsucht zusammen, sie üben eine Art moralischer Verpflichtung aus und sind daher mit Leib und Seele bei der Sache – noch mehr aber, das Passionsspiel im großen Ganzen sowohl, als in jeder einzelnen Scene, Gestalt und in der Auffassung derselben ist etwas durch Ueberlieferung Feststehendes; ein Gesammteigenthum, das gleichsam

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_234.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)