Seite:Die Gartenlaube (1870) 241.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 16. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


18. Der Freiherr.

„Adelheid! Wo ist sie nur? Adelheid, komm schnell, Alfred ist krank!“ So tönte wieder der entsetzliche Ruf in einem verhängnißvollen Augenblick an Adelheid’s Ohr und schreckte sie, wie damals von dem Spiegel, von dem Geliebten auf – aber diesmal um vieles schuldiger, denn der lebendige Spiegel – und im Grunde war Egon ihrem Herzen nichts anderes mehr – war nicht kalt und theilnahmlos geblieben. Wie ein Brennspiegel die Lichtstrahlen, so hatte er die Strahlen ihrer Schönheit in sich gesammelt und so glühend zurückgeworfen, daß sie selbst davon versengt ward. Wieder wand sie wie damals die Haare auf und band den Strohhut darüber tief in’s Gesicht. Die Thür des Pavillons knarrte und ächzte, als sie öffnete, ein Nachtfalter schlug ihr aufgescheucht in’s Gesicht. Es fröstelte sie, als sie unter dem dunkeln Himmel dahinhuschte der Richtung nach, von wo ihr die Stimme zurief – es war auf einmal so kalt geworden. Sie stieß, ehe sie sich’s versah, auf Bella, die ihrer langen Beine wegen von Wika immer als Läufer benutzt wurde, wenn Jemand im Garten zu suchen war.

„Was ist denn schon wieder?“ fragte Adelheid ungeduldig, fast heftig.

„Er hat sich den ganzen Nachmittag herumgetrieben, kein Mensch weiß, wo. Und jetzt hängt er halb bewußtlos an seines Vaters Halse und gebehrdet sich, wie wenn der Böse in ihm wäre.“

Adelheid eilte schweigend neben Bella her. Der Frost schüttelte sie, sie war mehr verdrossen und unwillig über die Störung als erschrocken. Sie hatte in der letzten Zeit weniger Sorge um Alfred gehabt, sie dachte nicht, daß es etwas Besonderes sei.

„Wie leicht Du angezogen bist in dieser Abendluft!“ tadelte Bella, „das dünne Kleid!“ Und sie warf ihrer Schwägerin den gestrickten Reserveschaal, den sie stets außer dem umgebundenen für vorkommende Fälle bei sich trug, über die Schultern. Wenn Bella’s Angehörige bedacht hätten, wie unzählige Male sie ihnen schon das Leben gerettet, sie hätten sie ganz anders auf den Händen getragen! So aber mußte sie sich begnügen mit dem Bewußtsein, daß längst Alle unter dem Boden lägen, wenn sie nicht wäre.

Adelheid wäre gern noch auf ihr Zimmer gegangen, um sich die Haare zu ordnen, aber da – sie brach fast in die Kniee – trat ihr im Corridor Feldheim entgegen.

„Soeben wollte auch ich Sie suchen, gnädige Frau!“ sagte er und öffnete weit die Thür von Alfred’s Zimmer.

Sie mußte eintreten.

Der Freiherr saß auf dem Sopha, Alfred hing in convulsivischem Schluchzen an seinem Halse. Er hatte auf Niemanden gehört, hatte sich nicht zu Bette bringen lassen, und doch schlugen ihm die Zähne an einander und alle Glieder bebten wie in Krämpfen.

„Aber Alfred, was hast Du nur?“ rief Adelheid und bog sich über die Beiden.

Da fuhr Alfred auf wie ein angeschossenes Wild. „Du?!“ schrie er, daß es Allen durch Mark und Bein drang. „Du?!“ Und er floh von ihr zurück, wie vor etwas Gräßlichem. „Weg von mir – rühr’ mich nicht an! Du sollst mich nie wieder anrühren, mich nie wieder –“ er hielt inne, denn nochmals ward die Thür aufgerissen und Egon trat ein, hinter ihm Victor. Wie ein Rasender bäumte sich Alfred auf bei Egon’s Annäherung – „der auch, der auch! Vater, laß ihn mir nicht zu nahe kommen! Vater, schick’ ihn fort!“

„Großer Gott!“ schrie Adelheid auf „mein Sohn ist wahnsinnig!“

Die Dienstboten drängten sich, von dem Auftritt herbeigezogen, unter die Thür. Niemand beachtete sie. Aber der Candidat trieb sie fort, auch Victor und die Tanten gelang ihm zu entfernen, er ahnte etwas von furchtbaren Enthüllungen.

„Alfred,“ jammerte Adelheid, „Alfred – kennst Du uns denn nicht mehr?“

„Ja doch, ich kenne Euch – aber ich verabscheue Dich, Mutter, und Dich, Onkel Egon, und wenn ich erwachsen wäre, dann wollte ich Dir schon zeigen, wie sehr!“

Der Knabe hatte sich wieder an seinen Vater festgeklammert und es war, wie Bella sagte, als sei ein Dämon über ihn gekommen, oder als sei er selbst zum Dämon umgewandelt.

Adelheid fing plötzlich an zu begreifen, wie um Gnade flehend stürzte sie vor dem Sohne auf die Kniee und wollte ihn umschlingen und an sich ziehen, da stieß er mit dem Fuß nach ihr.

„Bube,“ schrie Egon, Alles vergessend, „das Deiner Mutter? – und Du Salten, leidest das?“

„Willst Du rechten mit einem Irrsinnigen?“ jammerte der Freiherr.

„Ich bin nicht irrsinnig, Vater, ich weiß, was ich thue!“ schrie Alfred und die Wuth riß alle Dämme in dem sonst so stillen Geschöpf nieder und das Gift, womit seine Kindlichkeit gemordet

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_241.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2019)