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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

das Ausland ziehende Karawanen und gaben ihr oft auf weite Strecken hin das Geleite. Sie schickten den Abziehenden ihre besten Grüße zu, freuten sich aber doch, zu den Glücklichen zu gehören, welche in den schönen Fluren und Wäldern der Heimath verbleiben durften. Allein die Heiterkeit der Abziehenden wurde dadurch nicht herabgestimmt. Fröhlich sangen sie zurück: ,Wohl entbehren wir die goldene Freiheit; aber dafür ziehen auch die Stürme des Herbstes, die bitterkalten Tage, des Winters machtlos an uns vorüber. Für unsere Nahrung und Bequemlichkeit wird gesorgt, und die zartesten Hände widmen sich unserer Pflege.‘ So wenigstens glaubte ich den gegenseitigen Vogelgesang deuten zu dürfen, als ich im Frühlinge des Jahres 1841 mit tausend nach St. Petersburg bestimmten Vögeln unterwegs war; und wenn auch diese Deutung wohl nicht ganz richtig war: sie gewährte mir Freude, erleichterte die Bürde und kürzte den Weg.

Im Jahre 1842 wagte ich den ersten Versuch, Canarien- und andere in Deutschland geborene Vögel in Nordamerika einzuführen. Es war das erste derartige Unternehmen überhaupt. Ich mußte mich eines Segelschiffes bedienen und gebrauchte Monate, bevor ich in Amerika ankam. Noch war nicht die Liebhaberei für ausländische, am wenigsten für deutsche Singvögel drüben erweckt worden, und es bedurfte der größten Anstrengungen, um im Laufe des Herbstes und Winters für meine tausend Vögel Abnehmer zu finden. Es fehlte an Allem: an Liebhabern, an Käfigen, an Futter, wie es die Vögel von der Heimath her gewohnt, an Kenntniß, sie zu behandeln, an Verständniß für ihre Leistungen. Doch schon nach wenigen Jahren war allen diesen Mängeln abgeholfen worden, und die Liebhaberei vermehrte und verbreitete sich von Jahr zu Jahr.

Bereits 1846 nahm ich meinen jüngeren Bruder in das überseeische Geschäft, und wir betrieben nunmehr unseren Handel regelrecht und in immer steigender Ausdehnung. Im Jahre 1853 hatten wir es zu einem Absatze von zehntausend, im Jahre 1860 von fünfzehntausend Canarienvögeln gebracht. Seit dieser Zeit versieht mein Bruder das Geschäft allein, während ich den Einkauf diesseits des Weltmeeres und die Versendung übernommen habe; denn nur durch diese Theilung der Arbeit sind wir im Stande, den Anforderungen unseres Handels zu genügen.

Im verflossenen Jahre habe ich sechsundzwanzigtausend männliche Canarien- und etwa fünfzehnhundert verschiedene andere Singvögel nach New-York abgesandt. Andere Händler haben denselben Markt ebenfalls ausgesucht und zusammen in dem genannten Jahre etwa sechszehntausend Vögel dorthin gebracht, weshalb man mit Bestimmtheit annehmen kann, daß in dem einen Jahre mindestens zweiundvierzigtausend, wahrscheinlich aber nicht unter fünfundvierzigtausend Stück Canarienvögel nach Nordamerika ausgeführt worden sind.

Wir verkaufen jetzt größtentheils dutzend- und hundertweise an Wiederverkäufer und stehen mit allen Städten der Vereinigten Staaten in Verbindung. Von New-York an bis Californien, von Canada bis Missisippi – allüberall hat sich in den wenigen Jahren der deutsche Canarienvögel Eingang, Liebhaber und Freunde verschafft; sein frischer, klangvoller und tonreicher Schlag füllt das Prachtzimmer der vornehmsten Frau und klingt wieder im einsamen Walde, welcher das neuerrichtete Blockhaus noch umgiebt. Vor Jahren waren wir in Verlegenheit, zu den Vögeln die Gebauer zu liefern: gegenwärtig beschäftigt Günther, ein Deutscher, in seiner mit Dampfmaschinen verschiedener Art ausgestatteten Fabrik gegen hundert Arbeiter einzig und allein mit Anfertigung von Vogelbauern, welche er aus Blech und Draht ebenso gut als zierlich herstellen läßt.

Aber nicht allein nach Nordamerika wendet sich unser Handel. Abgesehen von den Tausenden, welche im Vaterlande selbst vertrieben werden, finden sich immer ungefähr fünftausend Stück ihren Weg nach England und Rußland, und werden alljährlich mindestens ebensoviele nach Südamerika (Rio de Janeiro, Buenos Ayres, Valparaiso), nach Indien und Australien versandt. Es ist nicht zu viel, eher zu wenig gesagt, wenn man angiebt, daß jährlich sechszig- bis siebenzigtausend Canarienvögel von Deutschland ausgeführt und nach überseeischen Plätzen gebracht werden.

Die Ausfuhr beginnt im Monat August, wenn die Abkömmlinge der ersten Frühlingsbrut schlagtüchtig und somit versendungsfähig geworden sind; sie währt ziemlich ununterbrochen fort bis zum April: dann ist aller Vorrath vergriffen. Wir versenden in Massen von tausend Stück und darüber gegenwärtig an jedem Sonnabend eine Anzahl von mindestens tausend Stück allein von Bremen aus. Leute, welche jahrelang Vögel gepflegt haben und vollständig seefest geworden sind, besorgen unterwegs die Wartung. Die Verschiffung geschieht mit den ausgezeichneten Dampfern des norddeutschen Lloyd, auch wohl mit denen der Hamburger Gesellschaft. Da die Sendungen in New-York von unserem Hause sofort nach Ankunft des Schiffes in Empfang genommen werden, fahren die Ueberbringer schon mit dem nächsten Dampfer zurück und sind so zweiunddreißig Tage nach ihrer Abfahrt von Bremen wieder in Deutschland.

Durch diese Massenversendung und den regelmäßigen Verkehr haben wir es ermöglicht, daß der Liebhaber in Amerika für zwei bis drei Thaler sich einen Vogel verschaffen kann, welcher über tausend Meilen von seiner Heimath gezüchtet und von den besten Meistern seiner Art zu einem vorzüglichen Schläger ausgebildet worden ist. –

Regelmäßig gezüchtet wurde der Canarienvogel früher nur am Harz; seitdem aber der Bedarf in so hohem Maße gestiegen, hat sich dieser Erwerbszweig – denn einen solchen bildet die Zucht des Canarienvogels – viel weiter ausgebreitet. In Nordhausen und Umgegend, auf dem ganzen Eichsfelde, in Hannover und Braunschweig, Hessen etc. bestehen Züchtereien; in mehreren Städten, in Hannover, Hildesheim, Wolfenbüttel, Clausthal etc. haben sich Vereine gebildet, deren Zweck es ist, den Gesang zu veredeln und zu verbreiten.

Die Zucht beginnt, je nachdem man heizbare oder nicht heizbare Räume zur Verfügung hat, zwischen Februar und April. Man bildet fliegende Hecken in Zimmern und Fluggebauern, ausnahmsweise nur in kleineren Käfigen. Je nach der Größe des Raumes setzt man drei bis sechs Männchen mit ungefähr dreimal, mindestens doppelt sovielen Weibchen zusammen. Der Raum ist ausgerüstet mit hoch oder niedrig angebrachten Sprunghölzern und etwa doppelt so vielen Nistkästchen und Körbchen, als Weibchen vorhanden sind; letztere hat man an den Wänden und im den Winkeln befestigt. In der Mitte des Brutzimmers steht der Futtertisch; auf dem besandeten Boden liegen Moos, Grashalme, Hirsch- oder Kuhhaare, Leinenfasern und andere Baustoffe, aus denen die Vögel nach Belieben sich wählen können. Täglich wird frisches, gesundes und reines Futter verabreicht, zumeist Sommerrübsen und nur zuweilen Glanz und Canariensamen, später, wenn es schon Junge giebt, zwei- bis viermal im Laufe des Tages hartgesottenes und kleingeriebenes Ei, vermischt mit derselben Menge gestoßenen und angefeuchteten Zwiebackes oder altbackener Semmel – etwa ein Ei täglich auf zwanzig Vögel. An frischem reinem Wasser darf natürlich niemals Mangel sein.

In den ersten Tagen des Zusammenseins entstehen in der Regel heftige, nebenbuhlerische Kämpfe unter den Vögeln, welche nicht selten einem und dem anderen das Leben kosten. Dagegen läßt sich nichts machen. Ist erst die Paarung vorüber und hat sich jedes Männchen – nicht wie das freilebende eine Gattin – seine Weiber errungen, das stärkere mehrere, das schwächere wenigere, so kehren Friede und Eintracht wieder, und es beginnt nunmehr ein sehr reges Familienleben. Die Weibchen wählen sich nach längerem Suchen und Bedenken endlich die ihnen am meisten zusagende Niststelle und machen sich sodann eifrigst mit dem Auf- und Ausbau des Nestes zu schaffen, werden dabei auch unterstützt, so weit es angeht, von dem Männchen, welches außerdem für Unterhaltung der Weiber sorgen zu wollen scheint und fleißig singt.

An fortwährender Aufsicht darf es der Züchter nicht fehlen lassen. Jedes Nest erhält seine Nummer, und jedes gelegte Ei, namentlich aber der Beginn des Brütens, wird gebucht, damit man wisse, wann die dreizehn Tage, welche die Zeitigung der Eier erfordert, abgelaufen sind und eine andere Art der Beaufsichtigung sich nöthig macht. Gegen das Ende der Brutzeit wird jedes Nest tagtäglich untersucht, nicht minder nach dem Ausschlüpfen der Brut, damit man faule Eier oder abgestorbene Junge rechtzeitig entferne und der oft launenhaften Mutter die Brut nicht entfremde. Auch der Sicherheitsdienst muß geübt werden: es gilt zu erforschen, ob sich nicht etwa ein unverbesserlicher Streithahn oder sonstiger Taugenichts in der Hecke befinde. Es giebt solche, welche sich nicht paaren wollen, oder solche, welche fortdauernd Unheil anrichten, indem sie anderer Nester zerstören, die brütenden Weibchen belästigen und ärgern, ja selbst Eier vernichten und wehrlose Junge tödten. Solche Störenfriede müssen unter allen Umständen entfernt werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_250.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)