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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

bis ihrem Gehirne durch Auge und Ohr die geistige Thätigkeit angefacht wurde. Menschen, die von Jugend auf taub und auch blind sind, können trotz eines gesunden Gehirns nimmermehr einen ordentlichen Menschengeist bekommen. Und wollte man Menschen von ihrer Geburt an nur mit Thieren umgehen lassen, so würden sie, natürlich nur so weit es ihre körperliche Einrichtung gestattet, sich nur thierische Manieren und thierischen Geist (von den Laien „Instinct“ genannt) aneignen. – Daß das Gehirn schon von Geburt an seine Arbeit beginnt – anfangs allerdings ohne alles Bewußtsein nur wie automatisch und mit Hülfe der sogenannten Ueberstrahlung (des Reflexes) der Nerven – ist deshalb eine Nothwendigkeit, weil bei gesunden Sinnen fortwährend und ganz unwillkürlich Eindrücke auf das Gehirn durch die Sinnes- und Empfindungsnerven geschehen. Jedoch richtet sich die Hirnarbeit ganz und gar nach der Art der Eindrücke und steigert und vervollkommnet sich ganz allmählich durch die Gewöhnung. Was und wie das Gehirn später arbeitet, ist immer nur das Product der früheren Eindrücke und der Angewöhnung. Durch das verschiedene Einwirken verschiedener Eindrücke kann die Hirnthätigkeit (ebenso beim Thiere wie beim Menschen) ganz verschieden ausgebildet werden. Man kann den Menschen in Folge dieser Bildungsfähigkeit seines Gehirns durch Gewöhnung (das ist die öftere Wiederholung derselben Eindrücke) ebenso leicht zum Guten, wie zum Bösen erziehen und ihm von Jugend auf solche Ideen in das Gehirn einpflanzen, daß er dieselben mit auf die Welt gebracht zu haben fest behauptet. Die Hauptregel bei der Erziehung eines Menschen ist deshalb auch: von seiner Geburt an Alles von ihm abzuhalten, an was er sich nicht gewöhnen soll, dagegen das, was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich zu wiederholen.

Werden denn nun aber von den Erziehern diese aus der Beschaffenheit und Thätigkeit des Gehirns sich ergebenden Erziehungsregeln gekannt und bei der Erziehung ihrer Kinder befolgt? Durchaus nicht. Bis zu den Schuljahren, zu welcher Zeit erst die meisten Eltern nun den Verstand des Kindes gekommen meinen, wird das Kind in seiner Erziehung ganz und gar dem Zufalle, der Wärterin, Großmutter, Tante und dergleichen Personen überlassen, die von Erziehung keine Idee haben und gewöhnlich Alles thun, um das Kind zu verziehen. Diesen und den verschiedensten Erziehungseinflüssen ist es auch zuzuschreiben, daß Kinder derselben Eltern oft ganz verschiedentlich geartet sind, wie auch, daß manche Kinder gebildeter und streng rechtlicher Eltern in moralischer Beziehung den Eltern auch gar nicht ähneln. Gerade die ersten vier bis sechs Lebensjahre sind für das ganze zukünftige Leben die allerwichtigsten, weil schon jetzt die Grundlage der Moral für’s ganze Leben gelegt werden muß. In der Schule, welche in der Regel schon moralisch verkrüppelte Kinder übernehmen muß und das wieder gut machen soll, was im elterlichen Hause verdorben wurde, kann wohl der Geist gebildet und vervollkommnet werden, die moralische Erziehung muß aber schon früher im Hause ihre feste Grundlage erhalten haben. Unterrichten und belehren läßt sich ein mündig gewordener Mensch wohl noch, erziehen aber nicht mehr. Würde man das Leben eines Verbrechers nicht erst von seiner Schulzeit an, sondern schon von seinen ersten Lebensjahren an genau erforschen, so würde man sicherlich den Grund seiner bösen Thaten in einer schlechten Erziehung während seiner ersten Lebenszeit finden. Man bedenke doch, daß aus einem neugebornen Menschen, ebenso wie aus einer weichen Modellirmasse, je nachdem diese in die Hände eines Geschickten oder eines Stümpers geräth, ebensowohl etwas Gutes wie Schlechtes hervorgehen kann, und daß, wenn so viele böse Beispiele auf kleine Kinder von Seiten ihrer Umgebung verschlechternd einwirken und wenn eine Menge von possirlichen schlechten Streichen, die nach und nach zu abscheulichen Lastern heranwachsen, dem lieben Kinde von seinen kurzsichtigen Eltern nachgesehen werden, hierdurch der Mensch schon in seiner ersten Lebenszeit moralisch vergiftet wird. Kurz, nur aus den Erziehungsfehlern, welche in der ersten Lebenszeit des Kindes von den Eltern, zumal von den Müttern, gemacht werden, geht die Charakterverderbniß hervor, die später den Erwachsenen zum Verbrecher macht, und deshalb sollte dieser auch weit weniger für sein Verbrechen verantwortlich gemacht werden, als seine ersten Erzieher.

Um nun der Erziehung von Verbrechern entgegenzutreten und so Verbrechen immer seltner und seltner zu machen, dazu müssen zuvörderst die Schulen das Meiste beitragen. Sie müssen durchaus dahin streben, daß die Schüler vom menschlichen Körper und Geiste richtigere Ansichten als jetzt bekommen, und daß sie erfahren, daß der Verstand, sammt menschlicher Tugend, nicht zu einer bestimmten Zeit in die Menschen so ohne Weiteres hineinfährt, sondern vom ersten Tage des Lebens an im Gehirne nach bestimmten Regeln ganz allmählich durch Gewöhnung (Erziehung) entwickelt werden muß. Werden so aus den Eltern durch eine richtige Kenntniß von der Entwickelung des menschlichen Verstandes und moralischen Charakters verständige Erzieher erzogen, dann können auch die Schulen, weil sie nun nicht mehr solche moralische Krüppel wie jetzt aufzunehmen gezwungen sind, in moralischer Hinsicht weit mehr leisten, als dies jetzt der Fall ist. – Wie die Arbeit, zumal in freier Natur, in Feld und Wiese, im Garten und Wald, bessernd auf die allermeisten in der Erziehung verwahrlosten Menschen, besonders Kinder, einwirkt, davon liefert das Pestalozzistift in Leipzig (unter Director Dießner) die schlagendsten Beweise. – Doch es soll hier nicht ausführlicher in die Art und Weise eingegangen werden, wie man Verbrecher für die menschliche Gesellschaft nicht nur unschädlich, sondern auch nützlich zu machen im Stande ist; es sollte nur das Humanitätsprincip angedeutet werden, nach welchem ein Verbrecher zu beurtheilen ist.

Bock.




Vor zwanzig Jahren.[1]
Beim ersten Begräbniß im Urwalde.
Von Caspar Butz.

Ich führ’ Euch in des Urwalds dichtes Grün,
Dort, wo er aufwärts strebt, frei, ohne Schranken;
Wo ihn die Bildnerin Natur läßt blüh’n,
Als schönsten ihrer schaffenden Gedanken,
Als Bild des Lebens auch, des Kampfes Bild,
Wo stolz das Licht der Riese nimmt dem Zwerge,
Bis, nach des Riesen Sturz, vom Boden quillt
Das Pflanzengrün, das ihn für immer berge.

Die erste Lichtung! eng noch ist der Raum;
Sieh’ dort die blitzgespalt’ne hohe Eiche!
Der Aexte Spur an manchem knorr’gen Baum
Verkündet Untergang dem Waldesreiche.
In dieser Blätterstille soll fortan
Sich frisch entfalten neues junges Leben;
Und doch! die erste Arbeit, die gethan,
Es ist ein Grab und dort der Sarg daneben.

Auch hier der Tod! – er fordert stets sein Recht,
Und greift am liebsten in das reichste Leben,
Wo, neuer Hoffnung voll, ein kühn Geschlecht
Nach neuen Zielen muthig pflegt zu streben.
Die alte Frau zog mit den Kindern fort,
Um hier zuerst im Sarge Ruh’ zu haben,
Von ihr auch gilt des düstern Dichters Wort:
„Die Heimath hätte leichter sie begraben.“

Ein ernstes Häuflein, doch ein Häuflein nur,
Versprengt von Deutschlands letzten Kampfesstätten;
Im dunklen Walde suchen sie die Spur
Der Freiheit, die sie nicht mehr konnten retten.
Des Waldes rothe Söhne sitzen mit
In diesem Kreise, ohne Scheu und Zage,
Zu lauschen, eh’ nach Westen geht ihr Schritt,
Des Weißen erster, ernster Todtenklage.

Dort auf dem Riesenstumpf der Tanne steht
Ein bärt’ger Mann; der Rede wartet Jeder;
Wie ihm der Wind durch volle Locken weht,
Sonst sprach er wohl von anderem Katheder!
Ich kenn’ ihn längst: einst stand sein Haus am Rhein,
Ein gastliches Asyl den Kampfgenossen;
Jetzt trägt sein Haar, mit Ehren, Silberschein,
Denn zwanzig Jahre sind seitdem verflossen.

Ja zwanzig Jahr! – doch damals sprach sein Mund,
Am off’nen Grabe dieser ersten Todten:
„Auch diese sank hinab zum Erdengrund,
Wie stets noch die Nothwendigkeit geboten.
Ob wir vergeh’n auch, ewig ohne Spur,
Was wir geschaffen, bleibet unverloren,
Nichts ist der Name, strebt und wirket nur,
Bis einst die freie Menschheit wird geboren.“


  1. Der Verfasser dieser schönen, gedankenreichen Strophen gehört zu der großen Schaar derjenigen, welche im Jahre 1848 infolge der politischen Verhältnisse der deutschen Erde den Rücken kehren und sich jenseits des Oceans eine neue Heimath gründen mußten. Er lebt gegenwärtig in Chicago und gilt, wie man uns von befreundeter Seite, der wir auch das Gedicht verdanken, schreibt, als der bedeutendste deutsch-amerikanische Dichter.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_263.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)