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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Dann ließen wir Einen nach dem Andern hervorkommen, banden ihnen die Hände, stärkten sie mit einem tüchtigen Schluck Rum und schickten sie unter der Begleitung einiger unserer Leute nach einem dichten, auf preußischer Seite liegenden Gehölz. So war also hier die Grenze frei; wir marschirten eilig auf einem viel befahrenen Holzwege nach Rußland hinein und erreichten bald einen dichten Wald. Hier warteten wir auf das Dunkel der Nacht und auf die von der zweiten Zolllinie zurückkehrenden Spione. Nachdem die letzteren mit der Botschaft, es sei dort Alles sicher, zurückgekehrt waren, brachen wir wieder auf, zogen etwa eine halbe Stunde lang vorwärts und gelangten in einen Hohlweg, der zu einem Flüßchen hinabführte. Hier sollte uns unser Unglück ereilen. Kaum war unser Zug (wir schritten, wie das bei solchen Zügen immer der Fall zu sein pflegt, Einer hinter dem Andern im Gänsemarsch her) etwa in der Mitte des Hohlwegs, als plötzlich mehrere Schüsse fielen und aus dem Walde zu unserer Linken ein Reiterpiket von zehn oder zwölf Mann hervorsprengte, dessen Führer uns ein lautes ‚Halt!‘ entgegendonnerte.

Das war allerdings uns, der gut bewaffneten Uebermacht, gegenüber eine sehr sonderbare Zumuthung, die wir mit lautem Gelächter und einigen Schüssen beantworteten, deren einer den Lieutenant tödtlich verwundet vom Pferde warf, während drei andere ebenso viele Reiter kampfunfähig machten. Schon glaubten wir, uns durchschlagen zu können, als plötzlich ein zweites Reiterpiket von dem vor uns liegenden Cordon heranjagte und uns von vorn angriff. Ein wüthendes Gefecht entspann sich und bald gab es Todte und Verwundete auf beiden Seiten. Jetzt kam auch noch eine starke Abtheilung Fußsoldaten an, und wir waren überzeugt, daß einer von den schurkischen Szamaiten, der sich vielleicht für die Zukunft bei den Russen einen Stein in’s Brett setzen wollte, unser Unternehmen an der Zolllinie verrathen habe. Es blieb nichts Anderes übrig, als den Rückzug anzutreten, und ich gab daher das verabredete Signal. Heftig feuernd schlugen wir uns seitwärts in den Wald hinein, um so wenigstes vor den Reitern mehr gesichert zu sein. Da sah ich in der Nähe meinen Bruderssohn, einen braven, tüchtigen Jungen, in großer Gefahr, von den Russen gefangen genommen zu werden; ich wollte ihm mit dem Kolben Luft machen, denn laden konnte ich in der Eile nicht, erhielt aber in demselben Augenblick einen schweren Säbelhieb über den Kopf, der mich bewußtlos zu Boden streckte. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Schlitten zwischen sechs anderen verwundeten Gefangenen, von denen die meisten zu meiner Freude Szamaiten waren. Noch in derselben Nacht wurden wir weiter landeinwärts geschafft und nach einigen Tagen vor ein ‚Gericht‘ gestellt; die Szamaiten hatten, wie sie meinten, zu ihrem Vortheil, mich als Denjenigen bezeichnet, der den Officier erschossen, und all’ mein Leugnen (Gott weiß, daß ich es nicht gethan habe!) half mir nichts.

Umsonst forderte ich, nach Preußen ausgeliefert zu werden; man that, als verstehe man mich nicht, und so befand ich mich denn schon nach einigen Wochen ‚aus Versehen‘, wie es vor mir schon manchem ehrlichen Litthauer gegangen war, in der Gesellschaft jener mit mir gefangenen Szamaiten, von Dieben, Falschmünzern und Spitzbuben auf dem Wege nach Sibirien. – Wollte ich aber die schrecklichen Leiden der monatelangen Reise, meiner vierjährigen Gefangenschaft in jenem entsetzlichen Lande oder gar die Erlebnisse auf meiner Flucht aus demselben erzählen, so würde ich in einem Tage kaum fertig werden.“

So lautete die schlichte Erzählung des alten Jurgis; als ich aber meine Verwunderung darüber aussprach, daß er nach so furchtbaren Erfahrungen dem Schmuggel nicht entsagt habe, sprach er lächelnd: „Es geht den Schmugglern wie den Wildschützen: sie können von ihrem gefährlichen Handwerk nicht lassen. – Was sollte ich übrigens, nachdem ich glücklich nach Hause gekommen, beginnen? Mein kleines Besitzthum war verkauft, meine Frau gestorben; als daher mein Bruderssohn, welcher an jenem Unglückstage glücklich entkommen war, mir sagte, daß er noch in der nächsten Nacht über die Grenze ginge, war ich natürlich sofort bereit, mit ihm zu gehen, und habe seitdem noch an so manchem glücklichen und unglücklichen Zuge Theil genommen.“ –

Dergleichen Fälle sind übrigens früher mehrfach vorgekommen, ja noch vor etwa zwei Jahren erschien vor dem Gericht in Memel ein Litthauer, welcher zu Protokoll gab, daß er mit russischen Schmugglern den Grenzsoldaten in die Hände gefallen und fünf Jahre in Sibirien gefangen gehalten worden sei.

Zuweilen endigen solche Kämpfe auch in höchst komischer Weise. Seit einigen Jahren werden ungeheure Quantitäten Spiritus durch den Schleichhandel über die Grenze geschafft, ein Geschäft, das den Unternehmern einen bedeutenden Gewinn abwirft, weil dieser Artikel drüben sehr theuer und mit einem enormen Zoll belegt ist. Gelingt es nun den Straszniks (Grenzwächtern), den Spiritusschmugglern ihre Waare abzujagen, so lassen sie meistens die Leute unangefochten entschlüpfen, um sich sofort mit wahrer Gier über die Beute zu werfen und so lange zu zechen, bis sie sinnlos betrunken sind. Diesen Zustand benutzen dann die Schmuggler, um oft vor den Augen der armen Zollwächter lachend und spottend die Grenze zu passiren.

Der Schmuggel ist übriges stark in der Abnahme begriffen, seit Rußland seine Zölle für viele Importartikel so bedeutend ermäßigt und durch eine allgemeine Purification des Standes der Grenzbeamten, sowie durch eine bedeutende Gehaltserhöhung diese der Bestechung schwerer zugänglich gemacht hat.

Früher wurde die Bestechung in der großartigsten und offenkundigsten Weise getrieben, und so mancher große „Macher“ zahlte alljährlich Tausende an die Zöllner und Sünder der Grenze als Aequivalent für gewisse Gefälligkeiten. Die Beamten waren theilweise zu entschuldigen durch ihr äußerst geringes Gehalt, das zu dem theuern Leben an der Grenze in keinem Verhältnisse stand. Die Regierung mußte ferner wissen, daß der Aufwand, den viele trieben, ihre Einnahme um das Doppelte oder Dreifache überstieg, daß sie also gezwungen seien, durch Zudrücken eines oder gar beider Augen das Fehlende zu ergänzen. Es lag demnach eine gewisse stillschweigende Billigung von officieller Seite in der Duldung und dem Fortbestehen dieser corrupten Verhältnisse, und das ganze ungeheure Heer der Grenzwächter und Zollbeamten vom gemeinen Strasznik bis zum Zolldirector und Inspector wußte dieselbe in umfassendster Weise zu benutzen. Trieb es endlich Dieser oder Jener zu arg, so wurde zuweilen ein Beispiel statuirt, indem man solch einem armen Schelm Zeit und Gelegenheit gab, in dem unwirthbaren Sibirien „fern von Madrid“ über den Unbestand aller Menschengunst nachzudenken.

Jetzt ist in dieser Beziehung, wie schon erwähnt, Manches besser geworden, indeß gilt auch heute noch das Wort eines alten schlauen Juden, mit dem ich lange über diese Verhältnisse sprach, daß nämlich ein goldener Schlüssel auch das festeste Schloß erschließt. Es werden daher, wie jeder in der Nähe der Grenze Wohnende oft aus eigenster Erfahrung weiß, immer noch enorme Massen von Waare aller Art nach unserm Nachbarreich durch Schmuggeln eingeführt, und die hermetische Grenzsperre erreicht ihren Hauptzweck, die Hebung der inländischen Industrie, nur unvollkommen, weil die ausländische Waare als Contrebande den oft sehr hohen Zoll umgehend mit jener auf dem allgemeinen Markt sehr wohl concurriren kann. Außer Spiritus, welcher in enormen Quantitäten, zum Theil sogar seewärts durch kurische und finnische Fischer aus den Ostseehäfen eingeführt wird, obgleich die Regierung in Riga eigens einen Dampfer zur Verhinderung dieser Art des Schleichhandels stationirt hat, sind seidene, wollene und baumwollene Zeuge, besonders feine Tuche, Spitzen, Tücher, ferner allerlei feine Eisen- und Stahl-, Holz-, Leder- und Perlmutterwaaren, Cigarren, Zucker etc. die wichtigsten Artikel des Schmuggels.

Schließlich mögen hier noch einige Bemerkungen über das Grenzwächtercorps Platz finden, eine Institution, die unter der Zahl der Culturstaaten als ein Unicum dasteht. Dasselbe ist vollständig militärisch organisirt, ressortirt aber nicht vom Kriegsministerium, sondern von dem der Finanzen. Aus Cavalleristen (Obiersziks) und Infanteristen (Straszniks) bestehend, bildet es neben seinem Hauptzweck eine Art von Versorgungsanstalt für altgediente Mannschaften aus allen Theilen dieses Riesenreiches. Man trifft darunter Veteranen aus dem Tscherkessen- und Krimkriege, die es hier übrigens mit durchaus nicht zu verachtenden Gegnern zu thun haben, weil die Litthauer, durchweg gut geschulte preußische Soldaten, sich in ihren Rencontres mit vorzüglicher Bravour schlagen und durch ihre Gewandtheit und Verwegenheit den Russen so sehr überlegen sind, daß dieselben in unserer Gegend es nie wagen, das national-preußische Hausrecht zu verletzen, während das zum Beispiel an der westpreußisch-russischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_312.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)