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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 22. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
22. Uebergänge.

Sechs Jahre waren verstrichen seit den schwülen Tagen, in denen die giftige Frucht unnatürlicher Verhältnisse zur Reife gediehen. Die Luft war wieder rein, die giftige Frucht abgefallen, um der Blüthe einer natürlichen Entwicklung Platz zu machen. Der Candidat hatte Zürich verlassen. Er war zu wenigen Wochen Gefängniß verurtheilt worden und als er aus seiner Haft in das Salten’sche Haus zurückgekehrt war, da zeigte es sich erst, daß sein Verhältniß zu Adelheid entweder eine Trennung oder eine Verbindung nothwendig machte. Der Bann, der sie bisher in ihren Grenzen gehalten, war ja mit dem Tode des Freiherrn gebrochen. Adelheid war frei, Beide liebten sich mit ungeschwächter Gluth und doch wiesen sie den Gedanken an eine Verbindung in richtiger sittlicher Erkenntniß von sich; sie waren sich verloren, ohne für einander erkalten zu können, jeder Tag, jede Stunde des Beisammenseins nährte in den Beiden eine Qual, die sie aufreiben mußte. Alfred hatte sehr bald mit feinem Instinct herausgefunden, daß Feldheim litt und daß er nur um seinetwillen in Zürich aushielt. Er erklärte es sich aus dem Kummer um all’ das Unwürdige, das er erduldet, und fühlte, daß der edle Mensch unter diesen Verhältnissen zu Grunde gehen mußte. Da machte er der Pein selbst ein Ende. „Herr Feldheim,“ sagte er eines Tages, „gehen Sie auf meine Güter und werden Sie dort mein Stellvertreter. Mir sind jetzt viele Seelen anvertraut, für die ich sorgen muß, und ich bin noch zu jung und unwissend dazu. Thun Sie es für mich, machen Sie meine Untergebenen zu glücklichen und guten Menschen. Ich bin nur Einer, der Ihrer bedarf, dort sind Viele, die vielleicht noch dringender einen Führer brauchen, ich will meine erste Pflicht als Gutsherr erfüllen und ihnen den besten Mann abtreten, den ich habe!“

Und als Feldheim ihn prüfend ansah und ihn fragte: „Alfred, kann ich Dich schon Dir selbst überlassen?“ da hatte er standhaft die Thränen hinuntergewürgt und ein einfaches „Ja!“ gesagt, aber dem Freund war es so viel wie ein Schwur. Er ging und wurde Pfarrer auf Alfred’s Besitzthümern. Er sorgte für das geistige und materielle Wohl der kleinen Gemeinde und fand Frieden in der bescheidenen Verwirklichung der menschenfreundlichen Ideen, die ein so enges Band zwischen ihm und seinem Schüler bildeten.

Alfred war sich nicht bewußt, welch’ große That der Selbstverleugnung er vollbracht, da er das Theuerste, was er besaß, freiwillig von sich verbannt. Aber der Geist, der sie ihm eingegeben, half ihm auch aufrecht bleiben und er hielt sein „Ja!“, als wäre es ein Eid gewesen.

So wuchs er heran, sein eigener Herr und Herr seiner Selbst, zwei Dinge, die man in solcher Jugend selten beisammen findet. Niemand in seiner ganzen Umgebung hatte Macht über ihn.

Adelheid war seit der Trennung von Feldheim eine bleiche stille Frau geworden, sie litt klaglos, aber schwer und tief. Ihre üppige Gestalt verfiel, sie wurde von Tag zu Tag schlanker, mädchenhafter, und wer sie sah, den rührte ihr Anblick, denn sie glich mehr einer Braut, die um den Geliebten trauert, als der Wittwe eines durch ihre Schuld gemordeten Mannes. Es lag ein jungfräulicher Schmelz über ihrem ganzen Wesen, eine sanfte Ergebung, ein der Erde Entrücktsein, das eben nur wahre Liebe und wahre Reue verleiht. Und wie viel auch der Kummer von ihrer blühenden Fülle und Frische aufgezehrt hatte, es wurde reichlich ersetzt durch den Adel eines geläuterten Bewußtseins auf der bleichen Stirn, durch den verklärten Blick der umschatteten Augen, ein Blick, so glänzend und geisterhaft, als suche sich die Seele eine andere Heimath und als sähe sie dieselbe schon in der Ferne winken. – Sie hatte gerne eingewilligt, in Zürich zu bleiben, denn sie schämte sich nach Allem, was vorgefallen und kein Geheimniß geblieben war, in die Welt zurückzukehren, und wäre es auch nicht so gewesen, es war der Wille Alfred’s und der war ihr Gesetz. Es war ein rührendes Verhältniß geworden zwischen dieser Mutter und diesem Sohne, ein Verhältniß wie zwischen Bruder und Schwester. Namenloses hatte sie gelitten, so oft sie Alfred Aug’ in Auge gegenüber stand, und er hatte es gefühlt und hatte gelernt, Großmuth zu üben. Mit zarter Schonung suchte der heranreifende Jüngling die Schamröthe auf der Stirn der Mutter zu bannen; aber sie konnte es nicht lassen, in ihm den Zeugen ihrer Schmach, ihren Richter zu sehen, und ordnete sich ihm unter mit einer Demuth, einer Willenlosigkeit, die den Sohn zum unbedingten Herrn seiner Mutter machte. Welch’ ein weites Gebiet für Alfred, den ganzen Edelmuth seiner Seele zu entfalten! Er that es auch. Noblesse oblige – und so überboten sich die Beiden in gegenseitiger Liebe und Rücksichtsnahme. Als Alfred erwachsen war, durfte er sich in Wahrheit als das Haupt der Familie betrachten, denn selbst die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_337.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)